| # taz.de -- Gastkommentar Sanktionen und Hartz IV: Sozialstaat ist kein Freibier | |
| > Ohne das Prinzip von Leistung und Gegenleistung geht es nicht. Das | |
| > Problem sind nicht unwillige Arbeitslose, es mangelt an Unterstützung. | |
| Bild: Nehmen und geben: Arbeitskräfte der Bundesagentur für Arbeit in Leipzig… | |
| Wer einige Jahre in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt gelebt hat, kennt | |
| das Entstehen von Sanktionsregimen – ganz ohne Staat und Hartz IV. | |
| Mitgenossen, die sich hartnäckig weigerten, den Kühlschrank zu befüllen, | |
| das Klo zu putzen oder den Müll runterzutragen, waren früher oder später so | |
| unbeliebt, dass der Rest sie loswerden wollte. | |
| Selbst unter Menschen, die zu praktischer Solidarität wild entschlossen | |
| sind, hat das Solidarprinzip nur Bestand, wenn Leistung und Gegenleistung | |
| einigermaßen im Einklang stehen. Es sind auch Erfahrungen wie diese, die | |
| mich zu der Ansicht gebracht haben, dass die Möglichkeit einer | |
| Sanktionierung als letztes Mittel nicht nur praktisch, sondern auch | |
| notwendig ist. Deshalb müssen diejenigen, die Sanktionen abschaffen wollen, | |
| auch einen Ersatz finden, um das Solidarprinzip abzusichern. | |
| Nun ist die [1][Grundsicherung für Arbeitslose] keine linke WG. Ein | |
| Sozialstaat, dessen Grundlage die unantastbare Menschenwürde ist, muss das | |
| Existenzminimum sicherstellen, ohne irgendeine Form von Folgsamkeit zu | |
| erzwingen. In einem bahnbrechenden Urteil stellte das | |
| Bundesverfassungsgericht im Jahr 1967 fest: „Es ist nicht Aufgabe des | |
| Staates, seine Bürger durch Zwangsmaßnahmen wie Pflichtarbeit (…) zu | |
| erziehen und zu bessern.“ Damit beendete das Gericht die damals noch | |
| existierende Praxis, sogenannte Landstreicher in Arbeitshäusern regelrecht | |
| zu internieren. | |
| Der Großteil der deutschen Sozialgesetzgebung der vergangenen 50 Jahre | |
| vollzog den Wandel von bevormundenden Fürsorgesystemen hin zu einer | |
| menschenrechtlich begründeten Teilhabeorientierung: Das Kinder- und | |
| Jugendhilfegesetz oder das Gesetz zu Rehabilitation und Teilhabe von | |
| Menschen mit Behinderungen bezeichnen ausdrücklich die Entfaltung der | |
| Persönlichkeit und Selbstbestimmung als oberstes Ziel. | |
| ## Unterstützung oder Barmherzigkeit? | |
| Die Grundsicherung für Arbeitssuchende, die 2003 von einer übergroßen | |
| Parlamentsmehrheit (und gegen meine eigene Stimme) verabschiedet wurde und | |
| die bis heute als „Hartz IV“ bekannt ist, stellt demgegenüber einen klaren | |
| Rückschritt dar. Als Kristallisationspunkt der Kritik und als Symbol für | |
| die Rückkehr obrigkeitsstaatlichen Handelns lassen sich eindeutig die | |
| Sanktionen ausmachen. Ihre Abschaffung, die auch meine Partei [2][Bündnis | |
| 90/Die Grünen beschlossen hat], gilt als Schlüssel dafür, den Menschen aus | |
| dem Objektstatus herauszuführen und ihn ein eigenständig handelndes, freies | |
| Subjekt sein zu lassen. | |
| Doch weder der Verweis auf die progressiven Sozialgesetze noch die | |
| Forderung nach Abschaffung der Sanktionen sollten den Blick darauf | |
| verstellen, dass (fast) jedes kollektive System sozialer Sicherung nicht | |
| ohne das Prinzip von Leistung und Gegenleistung auskommt. Dass | |
| Trittbrettfahrerverhalten die Solidarität zersetzt, ist eine | |
| anthropologische Konstante – von der steinzeitlichen Sippe bis zur linken | |
| WG von heute. | |
| Darum kommen auch die GegnerInnen von Sanktionen nicht herum. | |
| Festgeschriebene Rechtsansprüche auf Unterstützung werden nur dann | |
| allgemein akzeptiert, wenn der Kern des Solidarprinzips gewahrt bleibt. | |
| Unterstützung ohne Gegenleistung bleibt Barmherzigkeit. Diese ist | |
| keineswegs zu verachten, kann aber nicht die Basis des modernen | |
| Sozialstaats sein. | |
| ## Förderung des Mitwirkens | |
| Wie ist also ohne Sanktionen eine aktive Arbeitssuche oder Arbeitsaufnahme | |
| zu erreichen? Lapidar verweisen die BefürworterInnen einer | |
| „Bedingungslosigkeit“ auf Anreize wie bessere Zuverdienstmöglichkeiten. Bei | |
| einigen ALG2-Beziehenden mag das reichen. Doch an den Bedürfnissen und | |
| Möglichkeiten der wirklich langjährig Erwerbslosen geht dies vorbei: | |
| Menschen, die schon lange nicht mehr Selbstwirksamkeit und materielle | |
| Unabhängigkeit erlebt haben, brauchen vor allem die Chance auf | |
| Handlungsfähigkeit durch echte Mitwirkung und massive Unterstützung. | |
| Die Ermöglichung und Förderung des Mitwirkens ist bereits heute in den | |
| fortschrittlicheren Sozialgesetzen ein Grundprinzip, damit | |
| „Hilfebedürftige“ zu Ko-ProduzentInnen sozialer Leistungen werden. Die | |
| Transferleistung ist dabei eher nachrangig – wichtiger ist das Empowerment. | |
| Leider haben der Begriff und das Verständnis von Mitwirkung durch die | |
| Praxis mancher Sozialbehörde gelitten. | |
| Inzwischen hat sich jedoch in vielen Jobcentern die Erkenntnis | |
| durchgesetzt, dass ein kooperatives Verhältnis bessere Ergebnisse bringt | |
| als eine Angstbeziehung. Dies wird in der Debatte um Sanktionen viel zu | |
| selten anerkannt. Wer meint, die Jobcenter seien samt und sonders ein | |
| dunkles Reich der Demütigung und Willkür, tut den vielen engagierten | |
| MitarbeiterInnen dort Unrecht, denen ihre KlientInnen durchaus wichtig sind | |
| und die eigentlich nur einvernehmliche Eingliederungsvereinbarungen wollen. | |
| ## Gegenleistung für die Solidarität der anderen | |
| Was dieser große Teil der FallmanagerInnen beklagt, sind weniger unwillige | |
| Arbeitslose als vielmehr die mangelnden Möglichkeiten, umfassende sowie | |
| langfristige Unterstützung anbieten zu können. Also zum Beispiel eine | |
| mehrjährige Ausbildung mitsamt ordentlichen Unterhaltszahlungen statt eines | |
| lauen Bewerbungstrainings. Wenn wir davon ausgehen, dass kein Mensch als | |
| passiver Klotz geboren ist, bedeutet die echte Ermöglichung von Chancen | |
| auch die Möglichkeit zur Erbringung der Gegenleistung für die Solidarität | |
| der vielen anderen. | |
| Denn eines darf [3][bei einer Abschaffung von Sanktionen] nicht passieren: | |
| Dass der Sozialstaat mangels Akzeptanz in eine Legitimitätskrise rutscht. | |
| Deshalb bleibt es im Übrigen auch von zentraler Bedeutung, am Prinzip der | |
| Bedarfsgerechtigkeit und an einer Bedarfsprüfung festzuhalten. | |
| Neben dem Solidarprinzip ist dies der zweite Grundpfeiler für ein System | |
| der Existenzsicherung. Wer aber das Sozialstaatsprinzip mit dem Ausschank | |
| von Freibier verwechselt, bewirkt genau das Gegenteil dessen, was | |
| eigentlich Absicht ist: Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird geschwächt | |
| statt gestärkt! | |
| 23 Nov 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Markus Kurth | |
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