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# taz.de -- Grünen-Parteitag in Leipzig: Pragmatisch und etwas crazy
> Die Grünen einigen sich auf eine Linie in der europäischen
> Flüchtlingspolitik. Die Parteispitze biegt erfolgreich peinliche Vorstöße
> ab.
Bild: Die Erdkugel im Rücken und ihr doch zugewandt: Robert Habeck
Leipzig taz | Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ist Querschüsse
aus der eigenen Partei gewohnt. Kretschmann? Kellner atmet tief ein.
Baden-Württembergs Ministerpräsident verwende eine „radikale Sprache“, sa…
er. So kenne er ihn gar nicht. Dann versucht Kellner eine positive Deutung.
Er würde Kretschmann als Bestätigung der grünen Position lesen, gegen
Ankerzentren zu sein, also gegen die Kasernierung vieler Menschen an einem
Ort.
So kann man es natürlich auch sehen. Am Samstag diskutieren die 850
Delegierten [1][des Grünen-Parteitag in Leipzig] über europäische
Sicherheits- und Flüchtlingspolitik. Es ist das Kapitel im
Europawahlprogramm, zu dem es am meisten Änderungsanträge gibt. Die Grünen
wollen „Humanität und Ordnung“ verbinden, das sind die Stichworte, auf die
alle sich geeinigt haben.
Manche wollen nur mehr Ordnung als andere. Der konservative Kretschmann hat
sich in der Heilbronner Stimme [2][markig zu Wort gemeldet]. „Junge
Männerhorden“ seien salopp gesagt das Gefährlichste, was die menschliche
Evolution hervorgebracht habe. Der Gedanke, einige von ihnen „in die Pampa“
zu schicken, sei nicht falsch. Großstädte seien für solche Leute wegen der
Anonymität attraktiv.
Gefährliche Männerhorden in die Pampa schicken? So könnte auch Horst
Seehofer formulieren. Ein solcher Vorstoß, an diesem Tag, das hat das Zeug
für eine maximale Provokation. Linke Grüne können sich über Kretschmann in
Rage reden.
## Unveräußerlichkeit der Menschenrechte
Doch die Parteispitze ist fest entschlossen, Streit zu vermeiden – auch die
Vorsitzende Annalena Baerbock betreibt Schadensbegrenzung. „Ich hätte es
anders formuliert, aber in der Sache unterstreicht Kretschmann das, wofür
wir Grünen lange streiten“, sagt sie. Bestimmte Strukturen beförderten
Gewalt. „Daher haben wir immer gesagt, dass es für Asylsuchende dezentrale
Unterbringung geben muss.“
Kretschmann liefert am Ende nur einen Zwischenruf von der Seitenlinie. Nach
Leipzig ist der Ministerpräsident wegen Terminproblemen nicht gereist.
Ansonsten einigten sich die Grünen überraschend einhellig bei dem brisanten
Thema. Am späten Freitagabend trafen sich die Antragsteller mit den
Emissären der Parteispitze zum klärenden Gespräch. „Alle wollten unbedingt,
dass wir zusammenkommen“, hieß es danach.
Die Grünen stünden für „die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte und das
Recht auf Asyl für Schutzbedürftige“, heißt es in dem Text, auf den sie
sich einigten. Das Dublin-System, wonach Asylsuchende in dem europäischen
Land Asyl beantragen müssen, das sie zuerst betreten haben, sehen die
Grünen als „ungerecht, wirkungslos und gescheitert“. So werde die
Verantwortung einseitig auf Länder an den südlichen und östlichen
EU-Außengrenzen abgewälzt.
## „Klimapass“ soll kommen
Die Grünen wünschen sich stattdessen ein europäisches Asylsystem, das wie
folgt funktioniert: An den EU-Außengrenzen gäbe es
Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen die Geflüchteten registriert und
medizinisch versorgt würden. Jene dürften aber „nicht zur Sackgasse in
Massenlagern werden“ – wie etwa im griechischen Lesbos. Stattdessen müssten
die Geflüchteten von einer gestärkten EU-Asylbehörde schnell und fair auf
die EU-Staaten verteilt werden.
Diese Position klingt gut. Sie ignoriert aber, dass Kanzlerin Angela Merkel
seit drei Jahren [3][erfolglos an einem europäischen Verteilungsschlüssel
für Geflüchtete arbeitet]. Osteuropäische Staaten wie Polen oder Ungarn
verweigern Aufnahmen. Im Leitantrag findet sich viel Bekanntes. Zum
Beispiel bekräftigen die Grünen ihr Nein zu Sicheren Herkunftsstaaten.
Dieses Prinzip sei falsch und beschleunige keine Verfahren.
Aber auch Neues wird beschlossen. So wird im Europawahlprogramm ein so
genannter Klimapass stehen. Er reagiert auf die Tatsache, dass die Zahl von
Klimaflüchtlingen zunehmen wird. Industriestaaten, die besonders für die
Klimakrise verantwortlich sind, sollen Menschen aufnehmen, deren Heimat von
steigenden Meeresspiegeln bedroht wird, zum Beispiel aus Inselstaaten. Auch
diese Idee dürfte es im Praxistest schwer haben. Die Neigung der
Industriestaaten, verantwortlich mit ihrem CO2-Ausstoß umzugehen, ist
überschaubar.
## „So ist meine Partei“
Die Grünen beweisen aber auch Pragmatismus. Ein Antrag, der fordert,
Asylverfahren in Einrichtungen an der EU-Außengrenze durchzuführen,
scheitert spektakulär. Die Flüchtlingsexpertin Luise Amtsberg ruft unter
lautem Beifall: Dieser Vorschlag bedeute Ankerzentren an den Außengrenzen.
„Welches Signal sendet das?“ Bereits jetzt sei die Versorgung in den
Einrichtungen nicht menschenwürdig – obwohl sie nur verteilen müssten.
Ein absurder Streit über einen Satz im Wahlprogramm wird ebenfalls gütlich
beigelegt. „Auch wenn nicht alle, die kommen, bleiben können.“ Die banale
Aussage erboste Grüne um Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, weil sie
direkt hinter der Feststellung stand, das Recht auf Asyl sei nicht
verhandelbar. Der Vorstand verhandelte einen Deal, der eine
öffentlichkeitsträchtige Abstimmung vermied: Der Satz wird – neu
eingebettet – an eine andere Stelle im Programm verschoben, bleibt aber
unverändert.
Ein Journalist fragt Bundesgeschäftsführer Kellner etwas verzweifelt: „Ich
verstehe nicht, was sich dadurch ändert?“ – „So ist meine Partei“,
antwortet Kellner. Man müsse eben puzzeln bis alles zusammenpasst. Heißt
übersetzt: Ok, bisschen crazy sind wir Grünen schon.
10 Nov 2018
## LINKS
[1] /Europaparteitag-der-Gruenen/!5549450
[2] https://www.stimme.de/suedwesten/nachrichten/pl/Kretschmann-Gewaltbereite-F…
[3] /EU-Sondergipfel-zur-Migrationspolitik/!5534577
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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