# taz.de -- Polit-Film „Die andere Seite von allem“: Am Ende werden die Tü… | |
> Srbijanka Turajlić kämpfte einst für ein demokratisches Serbien. In „Die | |
> andere Seite von allem“ erzählt ihre Tochter Mila davon. | |
Bild: Die studentische Widerstandsbewegung „Otpor“, auch Mila Turajlić (ni… | |
Selbst ist die Frau. Srbijanka Turajlić poliert das Schüsselloch zweier | |
Türen, mitten in ihrem Wohnzimmer, die seit Jahrzehnten verschlossen sind. | |
Davor stehen Sofas. Ein Puffer zur Welt dahinter, von der es nur Ahnungen | |
gibt, Küchengerüche, und, latent, Stimmen und Ohren. Die Wohnung liegt in | |
einem Gründerzeithaus in Belgrad, das, dem Kommunismus widersprechend, | |
(über)große Einheiten vorsah. | |
Architekt war der Urgroßvater – die Wohnungspläne, versehen mit Stempeln | |
der beiden Königreiche, denen das heutige Serbien einmal angehörte, | |
existieren noch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde „nationalisiert“ und die | |
Bourgeoisie enteignet, was für Turajlić’ Familie recht glimpflich ausfiel: | |
Der Staat verteilte ein paar Zimmer an andere Familien. | |
Nachbarschaft als Arrangement von Ignoranz und Naserümpfen war die Folge, | |
durchsetzt mit einer sozialismustypischen Klassendistinktions-Sensorik – | |
bürgerliche Intelligenz hier, proletarisches Aufpassergehabe dort. Zum | |
ersten Mal spricht Srbijanka Turajlić, Mutter der Regisseurin Mila Turajlić | |
und Frau von herausragendem Charisma, da von Parallelwelten und einer | |
gespaltenen Gesellschaft. | |
Ein Diktum, das sie im Verlauf von Mila Turajlić’ eindringlichem | |
Polit-Familienfilm „Die andere Seite von allem“ wiederholen wird – dann | |
jedoch in Bezug auf die Haltung gegenüber Slobodan Milošević’ | |
Nationalchauvinismus. Ihre Peergroup, die einst gemeinsam zur | |
Matheolympiade nach Moskau fuhr, hätte sich 1991, erzählt sie, als | |
Milošević dem Traum von einem föderativen Staat ein Ende setzte und junge | |
Serben auf Panzern in den Krieg schickte, bewusst dem schweigsamen | |
Kartenspiel gewidmet. Um Streit zu vermeiden. | |
## Akademische Frontfrau | |
Auf welcher Seite sie selbst stand (und steht), belegen diverse | |
TV-Mitschnitte aus den 1990er Jahren, die sie heute trocken kommentiert: | |
Turajlić war akademische Frontfrau der [1][Widerstandsbewegung „Otpor“, die | |
am 5. 10. 2000 einen Sieg feierte] und Miloševič stürzte. „Rette Serbien | |
und töte dich selbst“, hatten die Massen skandiert. | |
Wieder fünfzehn Jahre später sieht sich die Mathematikprofessorin ihre | |
Auftritte aus einer Distanz an, die ihr die neuere Geschichte des Landes | |
auferlegt: Noch 1999 von der Universität wegen oppositioneller Tätigkeit | |
entlassen, wurde sie unter Zoran Đinđić Bildungsministerin. | |
[2][Đinđić wird 2003 ermordet;] Turajlić steht heute als Serbenhasserin und | |
Verräterin auf den Listen der Nationalisten – und denkt abgeklärt (aber | |
auch kämpferisch) mit ihren Töchtern über die Rückgewinnung der abhanden | |
gekommenen Demokratie nach. „Ich wünsche Ihnen eine glückliche Demokratie“ | |
hatte man ihr 2000 gesagt. „Ich würde eher sagen: die glückliche Hoffnung | |
auf die Annäherung an Demokratie.“ | |
Dass selbst diese aus heutiger Perspektive gründlich gescheitert ist, zeigt | |
das Politbarometer, mit einschlägigen Wahlergebnissen der SNS und einem | |
Präsidenten, der unter Miloševič ultranationalistischer | |
Informationsminister war. Ihre gedämpfte Euphorie ist nachvollziehbar. Und | |
doch spricht sie von der Selbstverständlichkeit, mit der sie zur Rednerin | |
auf den Protestbühnen gegen Slobo & Co. wurde. | |
## Schwesterlichkeit und Antifaschismus | |
Auch, um später von ihren Töchtern nicht den Vorwurf zu ernten, sie hätte | |
nur zugesehen und nicht gehandelt, während der Staat Jugoslawien, der zur | |
unhinterfragten Heimat – auch ihrer – wurde, zerfällt und sich | |
Neopatriarchat und Krieg ausbreiten. | |
Doch an Vergangenheitsvorwürfen hat die Regisseurin Mila Turajlić ohnehin | |
kein Interesse. Vielmehr weiß sie um die Besonderheit der Tatsache, eine | |
Politaktivistin zur Mutter zu haben und nützt die Gelegenheit gleich | |
dreifach. | |
Sie setzt ihr [3][(fern jeder Hagiographie)] ein filmisches Denkmal und | |
markiert im besten Sinne einen Raum generationsübergreifender | |
feministischer Solidarität; sie durchschreitet mit ihr die zentralen | |
Etappen der (post-)jugoslawischen Umbruchszeit (von der innerserbischen | |
Bürgerkriegsnähe Ende der Neunziger über die Nato-Bombardierungen und die | |
leeren Regale während der Sanktionen bis zur Restitution der | |
nationalkonservativen Kräfte) und fügt dem Bild eine bedeutungsvolle Stimme | |
der oral history hinzu; drittens aber – und das macht diesen Film auch im | |
Gegensatz zum eher eindimensional suggestiven Vorgänger „Cinema Komunisto“ | |
(2010) so besonders – verwebt Turajlić das neu gesichtete Archivmaterial | |
und die Befragung wie Beobachtung der Mutter im Wohnzimmer mit | |
gelegentlichen Blicken aus dem Fenster. | |
Unten auf der Straße ist es mal ruhig, mal chaotisch. Beides ist | |
Normalität. Die Straßenreinigung ebenso wie der sich entladende (und | |
verpuffende) Protest gegen die hohe Arbeitslosigkeit. Die „Otpor“-Sieger | |
von damals sind die Verlierer von heute. „Foreign agents“ nennt man sie, | |
wie Memorial und Co. in Russland. | |
Am Ende werden die Türen geöffnet. Slobos Reden hatte die verstorbene | |
Nachbarin auf Kassette archiviert. Die Ex-Proletarierin als Nationalistin, | |
die Ex-Bürgerliche als Verteidigerin von Schwesterlichkeit und | |
Antifaschismus. Die andere Seite von allem eben. | |
14 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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Ratko Mladić | |
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