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# taz.de -- Die Wahrheit: Flieg, dickes Tierchen, flieg!
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (64): Manche Vögel
> kommen schwer in die Luft, Pinguine fliegen sogar unter Wasser.
Bild: Die schwer flugfähigen Schwäne tanzen lieber
Wenn es mir als Kind im Traum zu gefährlich wurde, lief ich an einen
Abgrund und sprang – flog einfach weg. Wie die Dohlen konnte ich dabei
sogar aus Spaß auf dem Rücken fliegen. Seit vielen Jahren fliege ich aber
nicht mehr im Traum, im Gegenteil: Ich habe Höhenangst. Seitdem beneide ich
die Vögel, wenn sie sich von den Dächern in die Tiefe stürzen oder in die
Luft erheben.
Seltsamerweise geht mir das bei den Insekten nicht so, obwohl sie das
Flugproblem viel eleganter als die Vögel gelöst haben, denn neben ihren
Flügeln haben sie alle ihre Beine behalten, während die Vögel zwar wie wir
aufrecht auf zwei Beinen gehen, aber ihre Arme und Hände zu Flügeln
umformten, mit denen sie nichts mehr greifen können. Sie müssen fast alles
mit dem Schnabel machen. Und dann haben sie noch das Handicap, dass ihre
Flügel aus Federn bestehen, aus totem Horn, die jedes Jahr erneuert werden
müssen. Während dieser mehrwöchigen Mauserzeit können sie fast gar nicht
fliegen. Ein weiteres Handicap ist ihre Größe und damit das Gewicht: Mit
mehr als fünfzehn Kilogramm kommen sie nicht mehr hoch – wie Schwäne, mit
die schwersten flugfähigen Vögel.
Noch ist vieles am Vogelflug ungeklärt, vor allem bei den Zugvögeln:
Streifengänse fliegen über das Himalaja-Gebirge, Mauersegler schlafen in
der Luft, Hummelkolibris, die nur zwei bis fünf Gramm wiegen, schaffen es
über den Golf von Mexiko („eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit“, meint
der „Airbus“-Avia-Ingenieur Johannes Eissing), Seeschwalben fliegen jedes
Jahr vom Nord- zum Südpol und zurück.
## Fünf Modelle von fünf Biologen
Fünf Biologen stehen an einem See, da erhebt sich vor ihnen ein Schwan und
fliegt laut Flügel schlagend übers Wasser davon. Die Männer sprechen
darüber, wie der Schwan das gemacht hat und warum. Der Erste, ein
Physiologe, beschreibt die starken Flügelmuskeln, ihre besondere
Verankerung am Skelett und das Nervensystem des Schwans. Er flog auf, weil
Impulse von der Retina ins Gehirn und von dort weiter über die motorischen
Nerven an die Flügelmuskeln geleitet wurden.
Der Zweite, ein Biochemiker, verweist darauf, dass die Muskeln des Schwans
unter anderem aus den Proteinen Aktin und Myosin bestehen. Der Schwan kann
aufgrund der Beschaffenheit dieser Faserproteine fliegen, die unter
Verbrauch von Energie eine Gleitbewegung vollführen und so den Muskel
kontrahieren lassen.
Der Dritte, ein Entwicklungsbiologe, beschreibt die ontogenetischen
Prozesse, die zunächst ein befruchtetes Ei zur Teilung veranlassen und dann
zur rechten Zeit für die Ausbildung von Nervensystem und Muskulatur sorgen.
Der Vierte, ein Verhaltensforscher, zeigt auf einen im See schwimmenden
Mann: Er hat vielleicht unabsichtlich den in Ufernähe gründelnden Schwan
verscheucht, weil er ihm zu nahe gekommen war.
Der Fünfte, ein Evolutionsbiologe, erklärt die Prozesse der natürlichen
Selektion, die sicherstellen, dass nur jene Schwanvorfahren eine Chance
hatten, zu überleben und sich fortzupflanzen, die sowohl imstande waren,
eine mögliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen, als sich auch schnell genug
in die Luft zu erheben … Fünf Biologen, fünf verschiedene Arten von
Erklärung – ein „epistemologischen Pluralismus“, den wir einstweilen
aushalten müssen.
Ein Berliner Naturforscher hat im Jahr 2010 ausgerechnet, welche Muskeln
ein Engel haben müsste, um wirklich fliegen zu können. Er war dabei auf
eine Engelsgestalt mit dünnen Vogelbeinen gekommen und mit einer so
muskelbepackten Brust, dass vorne ein großer Doppelbuckel hervortreten
würde. Schon 1845 hatte Rudolf Virchow die Engel in der Malerei aus Sicht
eines Anatomen kritisiert. Andere folgten. Unter ihnen auch Kunsthistoriker
wie Julius Langbehn, der die „Flügelmenschen“ als der „Wirklichkeit
widersprechend“ ablehnte.
Leonardo da Vinci hatte – aristotelisch beflügelt – geraten, man solle die
Anatomie der Vögel studieren, samt „den Brustmuskeln, den Bewegern der
Flügel,“ wie der Menschen, um herauszufinden, „welche Möglichkeit im
Menschen steckt, wenn er sich durch Flügelschlagen in der Luft halten
will“.
In diese Richtung dachte noch Otto Lilienthal bei seinen Flugexperimenten,
weil er ebenfalls eine „homomorphe Konstruktion“ anstrebte, wie Hans
Blumenberg das 1957 in seinem Aufsatz über die „Nachahmung der Natur“
nannte. Der Philosoph bemerkte jedoch einen „Paradigmenwechsel“ im
Flugmaschinenbau: Spätestens mit den US-Luftfahrtpionieren, den Gebrüdern
Wright, sei es zu einer „Erfindung“ gekommen, die sich „von der alten
Traumvorstellung der Nachahmung des Vogelflugs freimacht und das Problem
mit einem neuen Prinzip löst“. Voraussetzung dafür war laut Blumenberg der
Explosionsmotor und, noch wesentlicher, „die Verwendung der Luftschraube“:
Solche „rotierenden Elemente“ seien „von reiner Technizität […], der N…
müssen rotierende Organe fremd sein.“
## Der Propeller gehört zur Natur
Inzwischen weiß man jedoch, diese „rotierenden Elemente“ gehören sogar zur
Grundausstattung der sogenannten Natur. Im Wikipedia-Eintrag „Flagellum“
heißt es: „Die Flagellen der Bakterien sind gewendelte Proteinfäden
außerhalb der Zellmembran, die sich nicht aktiv verformen, an ihrem in der
Zelle verankerten Ende durch einen Motor in Drehung versetzt werden und auf
diese Weise – ähnlich wie ein Propeller – einen Schub oder Zug ausüben.“
Richtig ist an Blumenbergs Bemerkung über das Motorfliegen, dass es kein
richtiges Fliegen ist. Dem kommen wir nur mit Segelflugzeugen nahe, die
zwar nicht allein hochkommen, aber einmal in der Luft Windströmungen und
thermische Aufwinde nutzen wie Vögel.
Dabei sind die Deutschen führend gewesen. Weil die Alliierten ihnen nach
dem Ersten Weltkrieg den Bau von Motorflugzeugen verboten hatten, wichen
sie auf Segelflugzeuge aus. Auf der Wasserkuppe in der Rhön entstanden
Startplätze und Produktionsbetriebe und an der Universität Göttingen ein
Institut für Strömungsforschung. All das ist heute noch „Weltspitze“. So
hat ein Flugverbot und seine Umgehung uns richtiges Fliegen nahegebracht.
Eine andere Lösung haben die Pinguine gefunden, deren Federn und Flügel
sich umgewandelt haben: Sie haben heute flügelartige Flossen und einen
stromlinienförmigen Körper, mit dem sie quasi unter Wasser fliegen können –
bis zu achtzig Kilometer am Stück und mehrere hundert Meter tief. Mit ihrer
„spindelartigen Körperform“ stoßen sie auf einen weitaus geringeren
Strömungswiderstand als Sportwagen.
Der Berliner Polarbioniker Rudolf Bannasch hat Adélie-Pinguine aus der
Antarktis vermessen und einen idealen Strömungskörper entwickelt – als
Modell für verschiedene Fortbewegungsmittel, deren Energieeffizienz und
Wirtschaftlichkeit noch unbefriedigend ist: Unterwasserroboter, U-Boote,
Unterseetanker, Luftschiffe, Trägerraketen – „auch Autos, Züge oder
Flugzeuge“ werden laut Bannasch „langfristig an der Pinguin-Form nicht
vorbeikommen“. Richtig unter Wasser fliegen wie die Pinguine werden wir
jedoch nie.
12 Nov 2018
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Biologie
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