Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Sirrende Retter aus der Unterwelt
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (61): Singzikaden haben
> den Ureinwohnern Amerikas das Überleben gesichert.
Bild: Alle siebzehn Jahre singen sie ihr Lied: Zikaden
Gerade machen die „Siebzehn-Jahres-Zikaden“ von sich reden: Sie leben in
den USA und kommen nur alle siebzehn Jahre ans Tageslicht, um zu „singen“
und sich zu verpaaren. Danach sterben sie; die Weibchen legen vorher noch
schnell ihre befruchteten Eier auf Bäume ab. Die Larven lassen sich nach
dem Schlüpfen fallen und graben sich tief in die Erde, wo sie sich auch
verpuppen. In klimatisch abgegrenzten Populationen, Brute genannt, kommen
sie danach jeweils zu Milliarden an die Oberfläche.
„Das flirrende, metallische Sirren, das für vier bis sechs Wochen die Luft
erfüllt, kann so laut werden, dass eine Unterhaltung unmöglich ist“,
berichtete der Spiegel 2016 über „Brute 5“ aus Virginia. Diese setzte sich
aus drei Zikadenarten zusammen, ausgewachsen sind sie vier Zentimeter lang
und haben rote Augen.
Im Sommer 2018 kamen sie nun im Bundesstaat New York aus der Erde, die New
York Times (NYT) schickte einen Reporter nach Syracuse, wo Indigene vom
Stamm der Onondaga leben, die zum Irokesen-Bund zählten. Sie hatten sich
einst gegen die weißen Siedler verbündet, aber es hatte ihnen nichts
genützt: „Ihr Territorium, das sich von Pennsylvania bis nach Kanada
erstreckte, wurde auf ein briefmarkengroßes Stück Land bei Syracuse
reduziert“, auf dem heute weniger als 1.000 Onondaga leben – zumeist von
kleinen Geschäften.
Die matrilinear organisierten Onondaga nehmen kein Geld von der Regierung,
gehen nicht zur Wahl und haben einen eigenen Pass – der „Onondaga Nation“.
Sie sind der Meinung, sich noch immer vor den Weißen schützen zu müssen.
Die US-Regierung verfolgt bereits seit 1779 eine „Verbrannte Erde“-Politik
gegen sie. Im vergangenen Jahr nahmen sie ihre Kinder aus der Schule – aus
Protest gegen den Beschluss der Schulbehörde, sie nicht von einem Onondaga
leiten zu lassen.
## Eine „besonders brutale Kampagne“
Was das alles mit den Siebzehn-Jahres-Zikaden zu tun hat, ließ sich der
NYT-Reporter von dem von Frauen gewählten Sprecher, Sid Hill, erklären: Als
George Washington eine „besonders brutale Kampagne“ gegen sie anordnete,
die Häuser zerstörte und ihre Felder verwüstete, gerieten sie an den Rand
des Verhungerns. Da krochen jedoch plötzlich Milliarden Zikaden aus der
Erde und retteten sie. Seitdem gedenken sie dieser Insekten alle siebzehn
Jahre, indem sie sie in Massen erneut essen – roh und frittiert. Sie
schmecken wie Kartoffelchips, schreibt der Times-Reporter.
Die Onondaga-Kinder nehmen sie in Tupper-Behältern mit in die Kita
beziehungsweise in die Schule und erfreuen sich dann am Entsetzen der
anderen Kinder, wenn sie die Zikaden lebend zerkauen. „Wir sagen ihnen, das
sei ein bedeutungsvolles Experiment“, erklärte die Mitbegründerin der
„Indigenous Values Initiative“, Misses Bigtree, dem Reporter. Während das
Zirpen der Zikaden bis zu unerträglicher Motorsägen-Lautstärke anschwillt,
freute sich Sid Hill über den Lärm: „Es frischt unsere Erinnerungen auf.
Jede Generation hört das und erinnert sich.“
Wenn aber plötzlich irgendwo im Süden der USA unzählige Zikaden aus der
Erde kommen, fragen sich die Leute manchmal entsetzt: „Was! Sind schon
wieder siebzehn Jahre um?“ Nein, sagen dann die Zikadenexperten in den
lokalen Medien sofort: „Das sind die Dreizehn-Jahres-Zikaden“. Die gibt es
nämlich auch noch! Die Populationen der Dreizehn-Jahres-Zikaden sind
kleiner als die der Siebzehn-Jahres-Zikaden, „die es auf 1,5 Millionen
Exemplare pro Acre [4.000 Quadratmeter] bringen“, wie der Spiegel weiß,
während das Schweizer Forum „scitec-media“ über die „Wesen mit den
durchscheinenden Flügeln“ schreibt, dass diese „Singzikaden der Gattung
Magicicada dicht an dicht auf Büschen und Bäumen sitzen – bis zu 370 pro
Quadratmeter.“
## Sie „rechnen“ in Vier-Jahres-Blöcken
Die 2016 aus der Erde gekommene „Brute“ wurde 1999, in der Amtszeit von
Präsident Bill Clinton, geboren: Seitdem hat sich laut der New York Times
„der Umgang mit diesem Naturphänomen verändert, das viele mit einer
Mischung aus Ekel und Faszination betrachten. In Cleveland etwa sind
Info-Programme in Parks, Aktionen für Kinder und sogar ein Zikaden-Festival
geplant.“ Man macht es den Onondaga nach.
Zwar weiß die Singzikadenforschung bis heute nicht, wie die Tiere es
schaffen, ihren Lebenszyklus derart zu synchronisieren, „doch ihr
gleichzeitiges Auftreten ist aus biologischer Sicht sinnvoll: ‚Die schiere
Masse sichert das Fortbestehen der Population‘“, sagt Thomas Hertach, einer
der Zikadenforscher an der Universität Basel. „Trotz ihrer riesigen Zahl
richten die Insekten an der Vegetation kaum Schaden an. Und auch für
Menschen sind sie völlig ungefährlich, denn sie können weder beißen noch
stechen.“ In ihrem kurzen Leben als erwachsene Insekten zapfen sie nur ein
bisschen Baumsaft ab. Während ihrer langen Zeit in der Erde saugen sie Saft
aus den Wurzeln und häuten sich fünf Mal. Deswegen „rechnen“ sie angeblich
in „Vier-Jahres-Blöcken: Das erste Häutungsstadium dauert ein Jahr und die
vier weiteren je vier Jahre.“
Und da sie ihnen schon mal Rechenleistungen unterstellen, erklären die
Basler Insektenforscher sich auch noch gleich die Existenz von Siebzehn-
und von Dreizehn-Jahres-Zikaden damit, dass die Tiere sich gelegentlich
„verzählen: Bei den Siebzehn-Jahres-Zikaden kriecht ein bestimmter Anteil
einer Brute – oft Tausende von Tieren – bereits nach dreizehn Jahren, also
vier Jahre zu früh, aus dem Boden. Andere wiederum verspäten sich und
kommen erst nach 21 Jahren ans Licht, wie etwa im Jahr 2002 in Nebraska.
Viel seltener ist hingegen, dass sich Tiere um ein, zwei oder drei Jahre
,verrechnen'. Manchmal führen solche Irrungen zu dauerhaften Verschiebungen
des Lebenszyklus: Im Verlauf der Evolution kam es mehrmals vor, dass sich
aus einer bestimmten Brute der Siebzehn-Jahres-Zikaden eine Unterpopulation
abgespaltet hat, die nun im Dreizehn-Jahres-Rhythmus lebt. ‚Bei ihnen muss
sich genetisch etwas verändert haben‘.“ Wahrscheinlich in den „sogenannt…
Uhren-Genen“, was jedoch noch unklar ist. Es muss also weiter geforscht
werden. Das ist ja das Schöne an der ganzen Gen-Idee!
## „Fliegende Salzstreuer des Todes“
Weniger schön ist dagegen, dass die Siebzehn- und Dreizehn-Jahres-Zikaden
massenhaft von einem Pilz namens Massospora cicadina befallen werden, der
ihre inneren Organe frisst und sie durch seine Sporen ersetzt. Die Zikaden
leben zwar weiter, aber wenn sie aus der Erde kommen und herumfliegen,
regnet es Sporen aus ihnen – die weitere Zikaden infizieren: „Fliegende
Salzstreuer des Todes“, nennt Matt Kasson von der Universität West Virginia
sie. Der Pilz produziert in den Zikaden auch noch den Halluzinationen
hervorrufenden Stoff Psilocybin und das natürliche Amphetamin Cathinon:
Damit hält er seinen Wirt trotz Organverlust am Leben und kontrolliert ihn,
wie Kasson meint, zudem werden die Männchen damit „hyperaktiv und
hypersexuell“, obwohl sie keine Sexualorgane mehr haben, aber sie
infizieren andere Zikaden mit Sporen.
Der Zeitschrift The Atlantic sagte Kasson, um high zu werden, müssten
Menschen mindestens ein Dutzend Zikaden essen. Genau das tun die Onondaga,
und vielleicht ist ihre einstige Rettung vor dem Hungertod durch die
Zikaden nur ein Mythos, um sich alle siebzehn Jahre einen kollektiven Trip
zu gönnen.
17 Sep 2018
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Insekten
Indianer
Biologie
Biologie
Goldhamster
Biologie
Biologie
Biologie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Flieg, dickes Tierchen, flieg!
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (64): Manche Vögel kommen
schwer in die Luft, Pinguine fliegen sogar unter Wasser.
Die Wahrheit: Die Elefantenmacher
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (63): Mit der Mücke will
und kann der Mensch offenbar so gar nicht koexistieren.
Die Wahrheit: Das Wesen aus der Schuhschachtel
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (62): Besitzer von
Goldhamstern stellen stets sich selbst in den Mittelpunkt.
Die Wahrheit: Muschi hat den Dreh raus
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (60): Katzenliebe gleich
Raubtierkapitalismus gleich Parasitenbefall allerorten.
Die Wahrheit: Hansi tanzt Rumba
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (59): Meerschweinchen,
ihre Balzrituale und ihre Rolle als Prügelknaben der Physiologen.
Die Wahrheit: Eine Delikatesse als Ausreißer
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (58): Austern,
Miesmuscheln, Muschelwächter und mitreißende Strömungen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.