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# taz.de -- Die Wahrheit: Hansi tanzt Rumba
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (59): Meerschweinchen,
> ihre Balzrituale und ihre Rolle als Prügelknaben der Physiologen.
Bild: Gestatten, Hansi (Bildmitte): Der Balztanz Rumba war erfolgreich
Der Gründer des Ostberliner Tierparks, der Biologe Heinrich Dathe, schrieb
1936 seine Doktorarbeit über den Penis der Meerschweinchen. Auch das erste
Tier in Friedrichsfelde war 1955 ein Meerschweinchen: „Hansi“. Der Direktor
des Westberliner Zoos, der Veterinär Heinz-Georg Klös, schrieb dagegen
seine Doktorarbeit 1953 über den Uterus der Meerschweinchen.
Während der Münsteraner Zoologe Norbert Sachser seine Doktorarbeit über
„die erstaunliche Fähigkeit der Hausmeerschweinchen“ verfasste, „zwei
unterschiedliche Formen der sozialen Organisation auszubilden“: In kleinen
Gruppen (zum Beispiel mit drei Männchen und drei Weibchen) bildet sich bei
den zwei Geschlechtern ohne großes „Drohverhalten“ eine „lineare
Dominanzhierarchie“ aus, wobei das ranghöchste Männchen die Verpaarung mit
den Weibchen beansprucht.
In Gruppen aber „von bis zu 50 Meerschweinchen“ tritt „ein weitaus
komplexeres soziales Muster an ihre Stelle“: Sie „splitten sich in stabile
Untergruppen auf, die aus jeweils ein bis fünf Männchen und ein bis sieben
Weibchen bestehen“. In ein jeder bilden sich dominante Männchen heraus, die
„feste soziale Bindungen zu den Weibchen ihrer Untergruppe haben, die über
Jahre bestehen bleiben können. Sie kümmern sich fast ausschließlich um
diese Weibchen; nur ihnen gegenüber tanzen sie Rumba, das für
Meerschweinchen typische Balzritual.“
In seinem Buch „Der Mensch im Tier“ (2018) erwähnt Norbert Sachser ferner
den „roten Emil“, ein Alphamännchen in einer großen Kolonie: Wenn man ihn
allein in ein fremdes Gehege setzte, geriet er schnell unter Stress, wenn
dies jedoch mit seinem „Lieblingsweibchen“ geschah, „stiegen die
Cortisolkonzentrationen lange nicht so stark an“.
## Meerschwein vernutzt
In den meisten Forschungslaboren werden Meerschweinchen nicht nur unter
Stress gesetzt, sondern komplett vernutzt. In dem Buch „Duell zweier
Giganten“ (2015), gemeint sind Robert Koch und Louis Pasteur, geht es
darum, wie die zwei Bakteriologen die Entdeckung und Bekämpfung von
Bakterien, die etwa Tollwut, Tuberkulose oder Pest übertragen, durch ihr
feindseliges Konkurrenzverhalten voranbringen. Durch das ganze „Duell“
ziehen sich Meerschweinchen: Sie sind die eigentlichen Hauptpersonen –
diese „Prügelknaben der Physiologen“, wie der Entomologe Jean-Henri Fabre
sie nennt.
Kaum bricht in Kairo die Cholera aus, schon packen die Abgesandten von Koch
und Pasteur je hundert Meerschweinchen ein und machen sich auf ins finstere
Herz der Epidemie. Einer der Forscher wird dort krank: „Gestorben für die
Wissenschaft“. Von den vielen Meerschweinchen kehrt keines mehr in seine
Heimatkolonie zurück.
Robert Koch muss anfänglich seine Meerschweinchen noch selbst kaufen, an
ihnen erforscht er den Milzbrand-Erreger, Pasteur dann ebenfalls, beide
beanspruchen die wissenschaftliche Vorherrschaft. Der russische Immunologe
am Pasteur-Institut Ilja Metschnikow versucht zu vermitteln: „Dank dem
Franzosen Pasteur wurde die wahre Bedeutung des Milzbrandbakteriums
verstanden und dank dem Deutschen Koch wurde die Rolle des Bakteriums als
alleinige infektiöse Ursache dieser Krankheit bewiesen.“
## Meerschwein im Labor
Auch die Gegenmittel werden an Meerschweinchen erprobt, mit dem man sie
gegen den Diphteriebazillus impft: „Einige Tiere überleben. Das ist schon
ein Sieg.“ Dann werden neue Meerschweinchen herangeschafft: Ihnen werden
tödliche Dosen injiziert und wenig später Injektionen mit Serum gegeben,
das von den wenigen Tieren stammt, die der Infektionen widerstanden haben.
„Die Meerschweinchen überleben.“
Aber es ist ein langer Weg vom Ergebnis im Labor bis zur Marktzulassung des
Medikaments: Dafür sind „riesige Mengen an Meerschweinchen nötig“ – es
fehlt jedoch an Geld. Der preußische Staat hat kein Interesse, die
Diphtherie zu bekämpfen, an der jährlich über 1.000 Kinder allein in Berlin
sterben. Er finanziert stattdessen die Forschung an Tetanus, da dies eine
große Gefahr für wertvolle Pferde darstellt. Erst vier Jahre später, im
Jahr 1894, bringt die Firma Hoechst ein Serum gegen Diphtherie auf den
Markt. Der Immunologe Emil Behring wird damit der Erste, den seine
Entdeckung reich macht, außerdem adelt man ihn 1901.
Meerschweinchen „dienen“ auch weiterhin in den Laboren – nicht nur als
Versuchstiere, auch als lebende Laborgeräte zur Serumproduktion. Darüber
hinaus werden sie auch zu Millionen in Kinderzimmern vernutzt. In Irina
Liebmanns Roman „Die freien Frauen“ (2004) heißt es dazu: „Ihre Tochter,
die war auf einer Matheschule gewesen und hatte Klavier gespielt wie eine
Prinzessin, und ihre Tiere hatte sie geliebt, stundenlang mit dem
Meerschweinchen beim Arzt gesessen, und dann, weißt du was, sie hat’s in
den Bauch getreten!“
## Meerschwein zum Feste
In den „Zoogeschichten“ von Carl-Christian Elze, dem Sohn des ehemaligen
Leipziger Zootierarztes Karl Elze, ist zu lesen, dass er sich immer wieder
aufs Neue dort Meerschweinchen aussuchen durfte, und einmal durften das
sogar auch alle seine Geburtstagsgäste. Normalerweise wurden die Tiere an
Reptilien und Raubkatzen verfüttert. Den von ihm geretteten Meerschweinchen
widmet er in seinem Buch mehrere Kapitel.
Wenn sie starben, bekam er ihr Fell oder sie wurden sogar ausgestopft und
kamen auf ein Regal in seinem Zimmer. Mit den Meerschweinchen, namentlich
mit „Lissi 1, 2, 3 und 4“, begann seine „Prägung“ auf Tiere. Elze schr…
sogar ein Drehbuch für einen Kurzfilm über eine „Meerschweinchengeburt“. …
steht in seinem aktuellen Buch „Oda und der ausgestopfte Vater:
Zoogeschichten“.
Die Verhaltensforschung ist von der Beobachtung einer Art zu der von
Individuen fortgeschritten. Indem die Bundesverfassung der Schweiz Tieren
wie Pflanzen eine Würde zugesteht, hat sie über den Artenschutz hinaus und
um den Genpool nicht zu reduzieren, den einzelnen Tieren und Pflanzen so
etwas wie „Menschenrechte“ (im Sinne der Französischen Revolution)
eingeräumt. Es geht dabei um die Verbesserung ihrer Lebens- und
Haltungsbedingungen – unter anderem auch in den Zoos. So dürfen keine
Herdentiere mehr einzeln gehalten werden – das gilt auch für
Meerschweinchen.
Sie werden jedoch weiterhin für alles Mögliche verwendet: „2012 wurden
3.721 Meerschweinchen für Hautsensibilisierungstests verwendet“, heißt es
auf meerschwein-sein.de. „2007 wurde auch der stark umstrittene
Schwimmtest, bei dem die Tiere bis zur Erschöpfung schwimmen müssen, an
Meerschweinchen durchgeführt. Der Test mit dem Schweregrad ‚schwer‘ wurde
mit 349 Meerschweinchen gemacht. Der Schwimmtest wird in der
Depressionsforschung eingesetzt und dient zum Testen von Antidepressiva.“
Auf justanswer.de ist von einem eher harmlosen Meerschweinchen-Versuch die
Rede: „Ich habe vor kurzem für meine zwei meeris eine Brücke gekauft, um
zwei Käfige zu verbinden. Wie kriege ich die Meeris dazu, rüberzulaufen?“
13 Aug 2018
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Biologie
Tierwelt
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