# taz.de -- Regisseurin über „Touch Me Not“: „Der Film wird zum Spiegel�… | |
> Die Regisseurin Adina Pintilie über den Dialog mit dem Publikum und die | |
> Entstehung ihres Forschungsfilms „Touch Me Not“. | |
Bild: Laura Benson in „Touch Me Not“. Am Anfang steif und unbeweglich über… | |
Bei der Verleihung des Goldenen Bären, den sie im Februar überraschend | |
gewann, war Adina Pintilie richtig krank und brachte auf der Bühne fast | |
kein Wort heraus. Nun, nach einem Dreivierteljahr Festivalreisen mit ihrem | |
[1][Sensationsfilm „Touch Me Not“], ist sie – pünktlich zum deutschen | |
Verleihstart – wieder heiser, und zwar so sehr, dass sie nur flüstern kann. | |
Automatisch flüstert man mit. Was dann auch wieder stimmig ist, denn ihr | |
sensorischer Film handelt nicht nur von Nähe und Öffnung, Befreiung und | |
allerlei Formen von Sexualität (Callboy, Masturbation, Trans-Peepshow, | |
Sex-Club, Berührungstherapie), sondern vor allem von Intimität. Jeder Satz | |
also kommt wie eine geheimnisumwitterte Offenbarung. | |
taz: Frau Pintilie, „Touch me not“ ist als Titel ja die totale Ambivalenz. | |
Eine Verneinung als Aufforderung. | |
Adina Pintilie: Ein klassischer Widerspruch. Dieser Titel markiert für mich | |
recht genau die grundsätzliche innere Spannung, die sich durch den gesamten | |
Film zieht und auch alle Charaktere auf ihrer Reise zu einer Art Befreiung | |
erfasst. Es geht ja darum, wie sie ihre Blockaden loswerden, sich befreien | |
von all dem Gepäck, das sich über die Jahre angesammelt hat. Sie alle | |
kämpfen mit diesem Widerspruch zwischen der Notwendigkeit von Intimität und | |
der Angst vor ihr. „Berühr mich“, aber auch „Berühr mich nicht“ umfas… | |
diese Spannung präzise. | |
Wie entstand das Projekt – ich würde es so nennen, vielleicht auch | |
Experiment, aber jedenfalls etwas, was noch weitergeht, eine Begegnung. | |
Hm, wie weit geht das wohl zurück? Vielleicht sogar bis an jenen Punkt, wo | |
ich Bewusstsein entwickelt habe. | |
Und wann war das? | |
In der Wissenschaft heißt es ja – und das stimmt mit meiner Erinnerung | |
überein – dass das so mit fünf Jahren einsetzt. Kurze Momente, in denen das | |
Bewusstsein aufscheint. Auch im Film sprechen meine Protagonistin Laura | |
[Benson, Anm. der Red.] und ich an einer Stelle darüber: dass unser | |
Projekt eigentlich „vor den Worten“ liegt, also in einer Zeit beginnt, in | |
der sich unsere Erinnerung formiert. | |
Eine universale Sache, aber zugleich individuell. | |
Der Film ist ein sehr persönliches Forschungsprojekt für uns alle, nicht | |
einfach nur ein Film. Daher wehre ich mich auch gegen all diese | |
Genrebezeichnungen. Es ist kein fiktionaler Film, aber auch kein | |
Dokumentarfilm, und auch kein Experimentalfilm. Ich würde sagen, es ist ein | |
Recherchefilm, ein Prozessfilm. | |
Was war Ihr Ausgangspunkt? | |
Wie ich im Film erzähle, dachte ich Ende zwanzig: Ich weiß alles über | |
intime Beziehungen, wie Begehren funktioniert. Ich dachte echt, ich weiß | |
alles! Aber nach noch einmal zwanzig Jahren real life war mir klar, dass | |
ich sehr wenig weiß und dass die Realität nur selten so aussieht, wie man | |
uns sagt oder es uns beibringt. Die Familie, die Gesellschaft, die Schule – | |
in Bezug auf Intimität reagieren Menschen völlig unterschiedlich. Die | |
Realität ist von unserer normativen Fiktion weit entfernt. Normen sind | |
fiktiv im Vergleich zum breiten Spektrum der Realität. | |
„Touch Me Not“ sagt Normen den Kampf an. | |
Meine Absicht war zunächst, dieses vermeintlich gesicherte Wissen zu | |
vergessen, um auf Neuentdeckung gehen zu können und mit offenen Augen zu | |
erfahren, wie Intimität wirklich funktioniert. Wenn Menschen solche | |
Erfahrungen machen, sind die oft gar nicht so rosig wie erwartet. Die | |
Realität ist oft widersprüchlich, Emotionen sind komplex. | |
Der Versuch, zu vergessen, bezieht er sich auch auf das Filmemachen? | |
Darauf, sich von den vielen Normen des Filmemachens zu befreien? | |
Die richtige Sprache zu finden war eine der großen Herausforderungen. Es | |
existieren ja viele Vorstellungen davon, wie Kino sein soll. Mir gefällt | |
dieser Vergleich sehr, dass es auch hier um eine Selbstbefreiung von | |
Voreingenommenheiten und Rezepten geht – in Bezug auf den Film als Medium. | |
Haben sich im Verlauf des Filmens denn Ihre Pläne konkret verschoben? | |
Sicher. Das ist ja ein Forschungsfilm, und da liegt es in der Natur der | |
Sache, dass man nicht weiß, wohin einen das führt. Es war eine permanente | |
Erfahrung. Die konkrete Filmsprache kam im Laufe dieses Prozesses wie von | |
allein. Am Ende blieben mir gar nicht so viele Möglichkeiten. Die | |
Verbindung zwischen Sprache und Prozess war organisch. | |
Und doch gibt es immer wieder unerwartete turns. | |
Die ganze Struktur ist irgendwie unerwartet, dieses Metakino, die | |
Anwesenheit der Regisseurin und des Kamerateams. Auch unsere Involviertheit | |
in den Prozess. Das war nicht von Anfang an geplant. Was da war, war die | |
Idee des direkten, emotionalen Dialogs mit dem Publikum. Deshalb war die | |
vierte Wand von Beginn an durchlässig. Ich brauchte also eine Technik, die | |
das erlaubt, und habe diese bei Errol Morris gefunden. Sie wird seit Jahren | |
für TV-Dokumentationen verwendet: der Teleprompter. | |
Wie funktioniert der? | |
Es ist eine technische Struktur, die es den Charakteren im Gespräch mit mir | |
ermöglicht, mich in der Linse zu sehen. Sie sprechen direkt mit der Linse, | |
also auch direkt mit dem Publikum. Ich wollte ursprünglich alternierend die | |
Erfahrungen meiner Charaktere und die Reflexionen über ihre Gefühle, die | |
sie direkt mit den Zuschauer*innen teilen, bringen. | |
Apropos Charaktere: Da gibt es Profis und Laien. | |
Das Casting lief eigentlich eher wie bei einem Dokumentarfilm. Ein Mix aus | |
Profis und Laien, das stimmt, aber es ist eigentlich egal, denn sie alle | |
sind Menschen. Wir wollten eine Mischung aus personalisiertem Material und | |
fiktionalen Elementen. Wichtig war, dass alle eine starke Motivation haben, | |
an diesem Projekt mitzumachen, und sich einlassen auf diesen Dialog mit dem | |
Publikum. Als ich nun diese Dialoge sah, bemerkte ich, dass der Effekt | |
genau gegenteilig war: Die intendierte emotionale Direktheit gab es | |
überhaupt nicht, sondern eher Brecht’sche Verfremdung, die Distanziertheit | |
hervorrief. Ich brauchte Monate, um zu verstehen, warum das so war. Es | |
hängt damit zusammen, dass tief in unserem Gehirn verankert ist, wie wir | |
Filme sehen. Wenn wir ins Kino gehen, lösen wir uns von uns selbst, trennen | |
den Körper des Zuschauers vom Körper des Films. | |
Gilt das auch für Dokumentarfilme? | |
Ja, diese Trennung ist immer da. Und ich wollte sie aufheben. Ich wollte | |
dich, die konkrete Zuschauerin, permanent und direkt emotional in den Film | |
hereinholen. Zu einem Teil des Films machen. Die Kamera musste zu diesem | |
Zweck im Film selbst auftauchen, sie ist der Kanal, der immer offen ist für | |
diese Kommunikation, die das Publikum privilegiert, direkten Zugang zu | |
diesen so hochsensiblen Momenten im Leben der Protagonisten zu bekommen. In | |
diesem Kanal spielt sich ein permanenter Gefühlsaustausch ab. | |
Mit mir hat es das jedenfalls gemacht. Wie war es denn für Sie selbst? Sie | |
sind präsent – vor und hinter der Kamera. | |
Ich war immer und überall involviert, wollte aber anfangs nicht vor die | |
Kamera treten. Doch musste ich den ZuschauerInnen die Struktur, den | |
apparatus, zeigen – die Kamera als permanent offenen Kanal, und auch mich | |
als Erklärung für den Gefühlstrigger und die gesamte Motivation dieser | |
Kamera. Nicht als Kontrollinstanz. | |
Das Projekt hat auch Sie „affiziert“. Sie erzählen im Film von sehr intimen | |
Dingen. | |
Klar, das ist dann schon die nächste Stufe. Ich bin die Anima des Projekts. | |
Aber es ging um dieses unglaubliche Menschsein, das wir auf diese Weise | |
entdecken konnten. Mich sehe ich da eher als Kind, das lernt, neu zu sehen. | |
Etwa wie schön Körper sein können, auch wenn sie Normen nicht entsprechen. | |
Oder wie besonders Beziehungen sein können und wie anders, als ich das bei | |
meinen Eltern wahrgenommen habe. Der Film wird zum Spiegel, den ich vor das | |
Publikum stelle. Für viele ist das sehr unangenehm. Manchmal siehst du in | |
diesem Spiegel Dinge, die du ungern siehst oder vor denen du Angst hast. | |
Der Film triggert die Selbstbefragung. Das verunsichert. | |
Die Reaktionen gingen extrem auseinander. Manche fühlten sich regelrecht | |
angegriffen. | |
Einige gaben dem Film gar keine Chance, sind nach ein paar Minuten raus, | |
beim Close-up von Christian [Bayerlein, Rollstuhlfahrer mit SMA; Anm. d. | |
Red.], das für mich absolut schön ist. Ein Zuschauer war so angeekelt, dass | |
er zu fluchen anfing. Andere, die den Film liebten, schritten ein. Ein | |
richtiger Konflikt beim Pressescreening und auch danach: intensive | |
Debatten. Das ist sehr gesund. Mein Film macht ein Angebot zur Diskussion. | |
Man kann dabei die eigenen Schamgrenzen überschreiten. Muss aber nicht. | |
„All emotions welcome.“ | |
2 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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