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# taz.de -- Zum Abschluss der Berlinale: Berührung mit Bären
> Die Berlinale ehrt mit „Touch Me Not“ einen umstrittenen Beitrag des
> Festivals. Das Festival muss sich um seine Relevanz keine Gedanken
> machen.
Bild: Tykwer und Kosslick applaudieren der Preisträgerin Adina Pintilie
Am Ende war die #MeToo-Debatte dann doch wieder ins Zentrum des Festivals
gerückt. So könnte man es jedenfalls verstehen. Als am Samstag bei der
Berlinale-Abschlussgala die Gewinner verlesen wurden, gab es die eine oder
andere Überraschung. Von der Kritik favorisierte Beiträge, wie Christian
Petzolds „Transit“ oder Lav Diaz’ „In Zeiten des Teufels“, gingen bei…
Bärenlese komplett leer aus.
Stattdessen gewann mit „Touch Me Not“ der rumänischen Regisseurin Adina
Pintilie ein Film, in dem es in jeder Hinsicht sehr offen um die Suche nach
Nähe, Berührung und die Angst davor geht. Sexualität als ein
emanzipatorisches Thema, auch eines, dessen abweichenden Formen wie SM oder
andersgeartete Körperlichkeit viel Raum erhalten. Oder eben eine
Masturbationsszene.
Der Film hatte bei seiner Vorführung zu großen Fluchtbewegungen aus dem
Kinosaal geführt. Verständlich, allzu Explizites ist nicht für jede oder
jeden was. Hinzu kommt die teils dokumentarische Inszenierung. Neben der
Hauptdarstellerin Laura Benson und ihrem Tómas Lemarquis waren kaum
professionelle Darsteller am Film beteiligt – einer der Protagonisten,
Christian Bayerlein, der an spinaler Muskelatrophie leidet, ist im
Hauptberuf Webentwickler.
Die 38-jährige Adina Pintilie ist nach der Ungarin Ildikó Enyedi die zweite
Frau und die zweite Osteuropäerin in Folge, die bei der Berlinale den
Goldenen Bären gewinnt. Mit dem Unterschied, dass es sich bei Pintilies
„Touch Me Not“ um ein Spielfilmdebüt handelt und Enyedi gut zwei Dekaden
älter ist als ihre Kollegin.
Die Jury unter Leitung des Regisseurs Tom Tykwer entschied sich damit beim
Hauptpreis nicht allein für eine der vier Frauen im Wettbewerb, sondern für
eine Arbeit, die das Kino selbst als eine Art Schutzraum nutzt. Was,
indirekt zumindest, durchaus auch als Statement gegen sexuelle Gewalt in
der Filmbranche gesehen werden kann. Das große Zeichen, das zu Beginn des
Festivals vermisst wurde, als die Berlinale der Forderung der
Schauspielerin Claudia Eisinger, den Roten Teppich schwarz zu färben, nicht
nachgekommen war, hier war es also. Gesetzt allein mit der Entscheidung der
Jury.
Man mag ein bisschen rätseln, ob Tom Tykwer seine eigene Vorabbegründung zu
den Urteilen der Jury genau in diesem Sinn verstanden wissen wollte. „Wir
wollten nicht nur würdigen, was das Kino kann, sondern auch, wo es hingehen
kann“, hatte er zu Beginn der Preisverleihung verkündet. Was sich
unterschiedlich deuten lässt. Einerseits kann es heißen, dass man mit den
Bären die Möglichkeiten für die Zukunft des Kinos und damit von Festivals
insgesamt aufzeigen wollte. Was insofern gelungen ist: Eine ähnliche
Siegerwahl wäre in Cannes oder Venedig derzeit nur schwer vorstellbar.
Andererseits könnte es auch bedeuten: Man habe nicht die besten Filme
auszeichnen wollen, sondern Leute mit dem größten Potenzial.
Mit der polnischen Regisseurin Małgorzata Szumowska erhielt eine weitere
Frau einen der Hauptpreise. „Twarz“, eine satirische Abrechnung mit der
Fremdenfeindlichkeit und der katholischen Kirche ihres Landes, bekam den
Silbernen Bären Großer Preis der Jury. Die 1973 geborene Szumowska ist
dabei keine Unbekannte auf der Berlinale – ihr Film „Body“ gewann 2015 den
Silbernen Bären für die beste Regie.
Auch bei der Verleihung der Nebenpreise kam hier und da die mutmaßliche
Haltung der Jury durch, den Blick auf die zukünftigen Optionen des Kinos
richten. Dass der Silberne Bär Alfred-Bauer-Preis „für einen Spielfilm, der
neue Perspektiven eröffnet“, wie es ausdrücklich im Titel heißt, an den
paraguayischen Regisseur Marcelo Martinessi für seinen ersten Spielfilm
„Las herederas“ („Die Erbinnen“) ging, ist ein schönes Signal an das n…
näher zu entdeckende Filmland Paraguay.
Vor allem aber ist es auch insofern eine erfreuliche Entscheidung, als es
sich um den einzigen Film handelt, in dem fast ausschließlich Frauen vor
der Kamera stehen. Die Geschichte um ein älteres weibliches Paar, das in
Geldnöten steckt, sich aber vom geerbten bürgerlichen Lebensstil nicht
verabschieden kann, kennt Männer lediglich als Randfiguren und Statisten.
Die Handlung hingegen bringt vorwiegend betagte Frauen voran. Dass mit Ana
Brun, die im Film überragend die still-melancholische Chela gibt, noch der
Silberne Bär für die beste Darstellerin an „Las herederas“ ging, war eine
richtige Entscheidung, unter anderem, da hier keine junge Schauspielerin
für ihre Leistung prämiert wurde, sondern eine 68-jährige, hierzulande
wenig bekannte Darstellerin.
Man kann sich trotzdem wundern, dass bestimmte Filme komplett leer
ausgingen, darunter sämtliche vier Beiträge aus Deutschland. Bei Philip
Grönings eher missratener Philosophiebebilderung „Mein Bruder heißt Robert
und ist ein Idiot“ ist das – trotz schöner Großaufnahmen von Heuschrecken…
vielleicht weniger verwunderlich. Dass Christian Petzolds hochaktuelle
Adaption von Anna Seghers’ Roman „Transit“ mit ihrer klugen Verschränkung
von Geschichte und Gegenwart überhaupt keinen Preis bekam – Hauptdarsteller
Franz Rogowski etwa, der parallel in Thomas Stubers „In den Gängen“
angetreten war, hätte sich für einen Bären allemal angeboten –, erstaunt da
schon mehr.
Wobei klar ist, dass Jurys keine Aggregatoren von Kritikerurteilen sind.
Und dass man nicht ausschließlich weibliche Perspektiven bevorzugt hat,
zeigt sich an der Entscheidung für Wes Andersons Eröffnungsfilm „Isle of
Dogs“, der immerhin den Silbernen Bären für die beste Regie bekam. Und das
für einen Animationsfilm mit lauter männlichen Hunden als maßgeblichen
Protagonisten!
## Störung durch Identitäre
Einen im klassischeren Sinne politischen Preis gab es dann für einen
weiteren hochaktuellen Film, den Dokumentarfilm „Waldheims Walzer“ der
Österreicherin Ruth Beckermann, die verdient den Glashütte Original
Dokumentarfilmpreis erhielt. Beckermann zeigte sich über die Auszeichnung
erfreut und erinnerte in ihrer Dankesrede daran, dass ihr Film, in dem es
um die Enthüllungen der NS-Vergangenheit des österreichischen Präsidenten
Kurt Waldheim und dessen Leugnung derselben geht, seine gegenwärtige
Brisanz dadurch bekomme, dass er zeige, wie man mit Populismus, Rassismus
und Antisemitismus Wahlen gewinnen könne, was durch Politiker wie Orbán,
Trump oder Strache leider wieder verstärkt gelte.
Was zu einer höchst unfreiwilligen Neuerscheinung der Berlinale passte:
Diesmal bekam das Festival nämlich bei einer ihrer Veranstaltungen Besuch
von Störerinnen der rechtsextremen Identitären Bewegung. Diese hatten
während der Podiumsrunde „Kultur will Wandel“ zu Fragen rund um #MeToo am
Montag im Berliner Tipi am Kanzleramt die Bühne gestürmt und sich damit
einen kurzen Auftritt im Programm des Festivals verschafft. So wie die
erhöhte Präsenz rechter Verlage bei den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig
in jüngster Vergangenheit für Schlagzeilen sorgte, könnte auch dies kein
Einzelfall gewesen sein. Die gute Nachricht: Er währte bloß kurz.
Das Festival muss sich um seine Relevanz trotz zahlreicher Kritik am
Wettbewerb und den vielen überflüssigen Filmen darin keine Gedanken machen.
Dieser Jahrgang könnte sich am Ende als Auftakt zu einem verstärkten
Verständnis der Berlinale als Versuchslabor des Films herausstellen. Was
keine schlechte Sache wäre.
25 Feb 2018
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
Schwerpunkt #metoo
Tom Tykwer
Kino Polen
Schwerpunkt Berlinale
Normen
Österreich
Franz Rogowski
Schwerpunkt Berlinale
Schwerpunkt #metoo
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