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# taz.de -- Neuer Intendant am Schauspielhaus: Frischer Wind in Bochum
> Mit einer Adaption von Feuchtwangers „Jüdin von Toledo“ eröffnete Johan
> Simons die neue Spielzeit im Schauspielhaus Bochum.
Bild: Bis die Mauern einreißen: Szene aus „Die Jüdin von Toledo“
Zelte sorgten 2015 in Dinslaken-Lohberg für Aufregung. Johan Simons, damals
Intendant der Ruhrtriennale, wollte in der Kohlenmischhalle der Zeche
Lohberg Pasolins „Accattone“ inszenieren. Dass er dafür dort, wo hohe
Arbeitslosigkeit herrscht, tagelang mit dem Ruhrtriennale-Team aufschlug,
fanden nicht alle gut.
Besonders aus der Lokalpolitik kamen kritische Stimmen: Kann die Kultur
sich breitmachen und dann einfach wieder verschwinden? Simons wollte nicht
nur bisher unbespielte Industriehallen für die Ruhrtriennale erschließen.
Mit anarchischem Ungestüm ging es ihm darum, mit der Kunst Brücken zur
Bevölkerung zu bauen.
In diesem Sommer hat Simons seine Intendanz in Bochum angetreten und
Umgestaltungen eingeleitet. Der Anspruch: Stadttheater als politisches,
diverses Forum. Nach Jahren oft eher anspruchsvollen Entertainments unter
seinen Vorgängern keine Selbstverständlichkeit. Für den Neustart tauschte
er das bisherige Ensemble fast vollständig gegen internationale Gesichter
aus und verpasste der Spielstätte ein neues Image: Über dem
[1][Schauspielhaus] weht nun ein Globus, das neue Logo.
Wie um diesen programmatischen Anspruch zu untermauern, inszenierte Simons
am Eröffnungswochenende „Die Jüdin von Toledo“ nach dem Roman von Lion
Feuchtwanger, einem Starautor der Weimarer Republik. 1884 in München
geboren und 1958 in Los Angeles gestorben, war er ein kosmopolitischer
Schriftsteller. Sein Spätwerk verhandelt die komplexe Konfliktlage der drei
monotheistischen Religionen im Andalusien des 12. Jahrhunderts.
## Schuldzuweisungen
Dramaturg Koen Tachelet hat die 500 Seiten der Vorlage zu einer
dreistündigen Bühnenfassung destilliert, in der Feuchtwangers historischer
Roman erschreckend nah an globale Verwerfungen der Gegenwart herangerückt
erscheint. Wie kann Toleranz zwischen den Konfessionen bewahrt werden? Wie
greifen Demagog*innen auf antisemitische Parolen zurück? Wie wird
Geflüchteten die Schuld an Krisen zugeschoben?
In Fummeln, die aussehen, als wären sie einem Modekatalog entsprungen,
treten die Darsteller*innen zum Prolog auf und monologisieren über die
religiöse Frontstellung. Im Zentrum der Inszenierung steht eine große weiße
Styropormauer, die von der Decke hängt (Bühnenbild: Johannes Schütz).
Drumherum weilen die Darsteller*innen, die nie von der Bühne abtreten, sie
liegen, sitzen, kauern an der Rampe, während die Drehbühne permanent in
Bewegung bleibt. Geschichte kennt keinen Stillstand. Und die Figuren lauern
alle auf ihre Weise darauf, in den historischen Augenblick einzugreifen.
Der Kaufmann Jehuda Ibn Esra, den Pierre Bokma als adrett gekleideten,
toleranten Pragmatiker gibt, verlässt das muslimisch beherrschte
Südandalusien Richtung Kastilien. Dort ist er am Hof des jungen Königs
Alfonso VIII. als Berater tätig. Doch der Throninhaber (Ulvi Erkin Teke)
führt sich in seiner Bomberjacke wie ein bockiges Balg auf, das fanatisch
den heiligen Krieg herbeisehnt.
Ausgerechnet diese ritterliche Art liebt Jehudas Tochter Raquel (Hanna
Hilsdorf) an ihm, beide ringen und wälzen sich zuweilen wie frisch
verliebte Teenies über die Bühne. Irgendwann erwartet sie ein Kind von
Alfonso.
Diese Liebesgeschichte ist mit ein Grund, warum sich Simons statt für die
alte Bühnenfassung von Franz Grillparzer für eine Bearbeitung des
Feuchtwanger-Stoffs mit einer Frauenfigur im Mittelpunkt entschied: Dass
sich Raquel – aufgewachsen im jüdischen Elternhaus, sozialisiert im
muslimischen Andalusien – bewusst für eine Liaison mit einem Christen
entscheidet, strahlt für einen kurzen Moment etwas von einer
multikulturellen Utopie im Privaten aus.
## Styroportrümmer
Bis der Konflikt vor den Toren eskaliert. Im Herzen der Macht entlädt sich
die Kriegslust als groteske Orgie, in der diese Mächtigen wild kopulieren
und Verse über den Krieg rezitieren. Die Mauer steht da längst nicht mehr.
Mit Eisenstangen wird auf sie eingeschlagen, bis Styroportrümmer die Bühne
bedecken.
Komplettiert wurde der Eröffnungsmarathon am Wochenende durch eine
eigenwillige Hauptmann-Interpretation von Benny Claessens, die
Stadttheater-Selbstgewissheiten hinterfragt. Denn Gerhart Hauptmanns „Die
Weber“ und „Vor Sonnenaufgang“ tauchen in der Inszenierung mit dem
Trash-Titel „White People’s Problems/ The Evil Dead“ nur am Rand auf.
Hauptmanns Arbeiterdramen dienen als Folie, um gegen den Theaterkanon zu
opponieren, oft eine Angelegenheit einer weißen elitären Schicht.
Der Arbeiteraufstand bleibt an diesem vierstündigen Abend also aus. Die
Proletarier*innen schlurfen nur gemächlich in die detailgetreu
nachgestellte Waschkaue (Bühnenbild: Stephan Britze) in der „Zeche 1“. Sie
seufzen und schluchzen, irgendwann setzen sie sich auf die Umkleidebänke
und trauern dem „Früher“ nach. Abdanken soll an diesem Abend die weiße
Männlichkeit, Arbeiterschaft, Nationalität.
Viel bleibt nicht vom weißen Mann an diesem Abend. Da stolzieren
Darstellerinnen in weißen Kleidern durch die Publikumsreihen und triefen
vor Kunstblut, das sie zuvor den Männern ausgesaugt haben.
Identitätspolitische Blasen platzen mit einer Slasherfilm-Freude, dass
Schlingensief begeistert gewesen wäre. Mit neuen, feministischen Inhalten
füllt Claessens die entstehende Leere nicht.
Vor allem im Visier seiner Dekonstruktion: „der Bergmann, der männlichste
aller Männer“. Immer wieder ironisch gebrochen. William Bartley Cooper
meckert etwa, dass früher noch malocht wurde, während heute Kultur in den
Industrieorten aufgeführt wird. Doch ein Schweizer Regisseur (gemeint ist
Milo Rau) wollte ihn für ein Dokumentationstheaterprojekt engagieren, weil
sein kohleverstaubtes Gesicht so authentisch sei.
Doch Rau habe sich letztendlich für wen anders entschieden, weil der
authentischer sei. Bernd Rademacher verliest schließlich als
Bergmanns-Familienoberhaupt Blödel-Weisheiten, um den Kumpel-Kult vollends
bloßzustellen. Womit Claessens selbst in die Falle tappt, selbstherrlich
aus einer elitären Perspektive über diese Verlierer*innen der
Deindustrialisierung zu richten.
4 Nov 2018
## LINKS
[1] https://www.schauspielhausbochum.de
## AUTOREN
Benjamin Trilling
## TAGS
Johan Simons
Deutsches Schauspielhaus
Ruhrtriennale
Ruhrtriennale
Deutsches Theater
Berliner Volksbühne
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