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# taz.de -- Kommentar zur Sozialdemokratie: Der Abstiegskandidat
> Eine schnelle Rettung der SPD ist nicht in Sicht. Keine andere Partei hat
> ein solches Personalproblem – und inhaltlich eine so geringe Bandbreite.
Bild: Und jetzt alle „Ja“: SPD-Parteitag zur Großen Koalition im Januar 20…
[1][Zehn schnelle Punkte], wie sich die SPD vor dem Untergang retten
könnte, hat Stefan Reinecke in der Wochenendausgabe der taz aufgeschrieben:
Agenda weg! Erbschaftssteuer her! Mehr Selbstbewusstsein! Raus aus der
Großen Koalition! Vieles davon scheint richtig. Und trotzdem: Die Krise der
einstigen Volkspartei ist inzwischen zu groß und vielschichtig, als dass
sie jetzt, 2018, noch mit der schnellen Umsetzung einiger Punkte zu
bewältigen wäre.
Warum die Sozialdemokraten so tief in die Krise geraten konnten, lässt sich
auf fast jedem SPD-Parteitag besichtigen: die Sitzordnung. Oben thront der
Parteivorstand mit Namensschildern, unten die einfachen Delegierten. Wer
aus dem Vorstand bei Redebeiträgen zu wenig jubelt, gegen wichtige Anträge
stimmt – all das wird von den Kameras registriert. Was zur Konsequenz hat,
dass der Vorstand meist geschlossen auftritt. Die SPD sozialisiert ihre
Führung dazu, Fehler zu beklatschen.
Auch deshalb ist das Personal an der Spitze handwerklich immer schlechter
geworden: angefangen vom Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der seine hohen
Vortragshonorare nicht als Problem erkannte, über den ratlosen und
verlorenen Martin Schulz bis hin zu Andrea Nahles und ihrem Agieren in der
Schulz-als-Außenminister- und Maaßen-als-Staatssekretär-Frage. Vielleicht
hätte die SPD mit einer offenen Diskussionskultur auf Parteitagen auch die
Bedeutung des Wohnungsthemas vor Linken und Grünen erkannt.
Parteien müssen immer den Spagat zwischen Geschlossenheit und Innovation
bewältigen. Sind sie intern zu gespalten, verlieren sie an Zustimmung – wie
die SPD während des Führungsstreits vor dem Mannheimer Parteitag, den
Lafontaine mit seiner Wahl zum Parteichef beendete. Sind sie zu
geschlossen, verlieren sie ihr Gefühl dafür, wie sich Gesellschaft
verändert, weil es niemand mit abweichenden Meinungen an die Spitze
schafft.
Insbesondere Volksparteien müssen zudem eine Breite von Positionen und
Charakteren anbieten, um unterschiedliche Wählergruppen anzusprechen. Bei
der SPD ist an der Spitze aber die Variationsbreite zu gering: Von Nahles
bis Klingbeil dominiert ein Typus, dem man die lange Lebenszeit in den
Parteigremien anmerkt und der sich politisch nur in Nuancen unterscheidet.
Zu viele Apparatschiks, zu wenig Charismatiker.
## Nahles als Spitzenkandidatin?
Angenommen, die SPD stiege aus der Großen Koalition aus: Wer sollte für sie
als SpitzenkandidatIn gegen einen authentisch wirkenden Robert Habeck
antreten? Andrea Nahles, deren Mimik man ansieht, wenn sie taktisch
argumentiert? Der zu hölzern wirkende Olaf Scholz? Solide, aber spröde
Landespolitiker wie Stephan Weil? Manuela Schwesig, die
gesellschaftspolitisch nur das grünen-nahe Wählerklientel erreichen würde?
Die SPD hat – im Gegensatz vor allem zu Union und Grünen – ein
Personalproblem, das mittelfristig nicht lösbar ist.
Ohne eine Reform der Parteistrukturen wird es bei der SPD nicht gehen. Sie
ist aber nicht kurzfristig zu haben. Und es gibt auch kein einfaches
Patentrezept wie die Stärkung der Basis dafür: Es war die bundesweite
Basis, die den biederen Rudolf Scharping 1993 zum SPD-Chef kürte. Und es
war der Vorstand, der 1992/93 den Asylkompromiss mit der Union gegen die
Basis durchsetzte und damit Rot-Grün 1998 mehrheitsfähig machte.
Damit wären wir bei Punkt 6 der Liste von Stefan Reinecke: Er lautet: „Lest
Nils Heisterhagen – und folgt ihm nicht!“ Heisterhagen schrieb zwei Jahre
lang fast alle deutschen Zeitungen mit Beiträgen zur Zukunft der SPD voll.
Er war Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Mainz, [2][bis er im Sommer
gegangen wurde] (was einiges über den Willen der SPD aussagt, Pluralität
auszuhalten). Die SPD solle laut Heisterhagen „innenpolitisch rechts und
sozialpolitisch links werden, und sich von Multikulti und libertärem
Klimbim befreien“, schreibt Reinecke. Das ist eine zugespitzte
Interpretation: Heisterhagen fordert vor allem Realpolitik.
Lange Jahre gab es eine Arbeitsteilung zwischen SPD und Grünen: Die Grünen
waren für den utopischen Überschuss zuständig, ohne den kaum eine Bewegung
zu haben ist – die SPD für pragmatische Konzepte. Der Streit zwischen
beiden Sichtweisen machte Rot-Grün erst mehrheitsfähig.
## Grüner Sofortismus
1998 etwa gingen die Grünen mit der Forderung nach der sofortigen
Abschaltung aller Atomkraftwerke in den Wahlkampf – und jeder prominente
Grüne, der darauf hingewiesen hätte, dass Produktionsausfälle in der
Industrie die Folge gewesen wären, hätte vermutlich Probleme mit der
eigenen Partei bekommen. Grüne Realos konnten sich damals aber darauf
verlassen, dass die SPD den grünen Sofortismus zurückweisen würden. Der
Atomausstiegskompromiss war die Folge.
Diese Arbeitsteilung ist zumindest in der Gesellschaftspolitik heute kaum
noch vorhanden. Während grüne Fraktionsspitzen ohne Widerspruch aus den
eigenen Reihen die Ausdehnung des Asylrechts auf Klimaflüchtlinge ins Spiel
bringen, erhält Andrea Nahles in der SPD schon für das Aussprechen der
Selbstverständlichkeit „Wir können nicht alle aufnehmen“ Gegenwind. Die S…
hat immer verschiedene Wählerschichten und Flügel integrieren müssen. Dass
sie seit 2015 nicht deutlich eine realistischere Migrationspolitik
vertreten hat, ist heute eines ihrer Probleme.
Heisterhagens Forderung ist nicht ohne Risiko: Ob die zur AfD vertriebenen
Arbeiter zurückkommen, ist ungewiss, dafür könnten die akademischen
Mittelschichten und die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in noch
größerer Anzahl zu den Grünen überlaufen. Vor allem: Wer sollte eine solche
Politik glaubhaft verkörpern?
Der, der den deutschen Jeremy Corbyn hätte machen können, Oskar Lafontaine,
ist heute bei der Linkspartei (und dort ähnlich isoliert wie zuletzt in der
SPD). Andere, wie Sigmar Gabriel, stehen in der SPD am Rand. Auch hier
zeigt sich: Die personelle Bandbreite der Partei ist zu gering. Und deshalb
ist der weitere Abstieg der Sozialdemokraten wahrscheinlicher als eine
Rettung.
27 Oct 2018
## LINKS
[1] /!5539648/
[2] /Streit-um-Neuausrichtung-der-SPD/!5535597/
## AUTOREN
Martin Reeh
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