# taz.de -- Aus Le Monde Diplomatique: Hoffnungsschimmer für Brexit-Exit | |
> Vor zwei Jahren trug Newport in Südwales dazu bei, dass Großbritannien | |
> für den Brexit stimmte. Heute hoffen dort nur noch wenige auf einen | |
> EU-Ausstieg. | |
Bild: Gute Laune ist in Newport derzeit selten: Premierministerin Theresa May z… | |
Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich anstellen musste, um | |
ihre Stimme abzugeben, erzählt Nicola Davies. „Und ich wusste sofort, dass | |
wir verlieren würden. Die Leute kamen raus und fragten: ‚Wozu brauche ich | |
den Stift?‘ Offensichtlich hatten einige von ihnen noch nie eine Wahlkabine | |
von innen gesehen.“ | |
Beim Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 hat die Bevölkerung von Newport in | |
Südwales dazu beigetragen, [1][dass eine „Leave“-Entscheidung herauskam]. | |
Die Stadt und die umliegenden Täler waren eines der ersten Zentren der | |
britischen Kohleindustrie. Bis heute ist die Region ein Kernland der Labour | |
Party, aber weder die Treue zu Labour noch die Warnungen der Experten, der | |
Brexit werde den industriellen Niedergang besiegeln, konnten 60 Prozent der | |
Wähler von Newport davon abbringen, für den EU-Austritt zu stimmen. | |
Ein Gang durch die Hauptstraße beantwortet die Frage nach dem Warum. Wie | |
schon 2016 reiht sich ein geschlossener Laden an den anderen. Andrang sieht | |
man nur bei den Geldverleihern, den Pfandhäuser und den vielen | |
Secondhandläden, die von wohltätigen Organisationen betrieben werden. Die | |
durchnässten Decken der Obdachlosen, die Gruppen junger Drogenabhängiger, | |
die Ausbreitung armutsbedingter Krankheiten – all das erinnert die Menschen | |
in Newport täglich daran, wie übel das neoliberale Zeitalter ihrer Stadt | |
mitgespielt hat. | |
Ich bin nach Wales gefahren, weil es für diejenigen, die die | |
Brexit-Entscheidung von 2016 rückgängig machen wollen, wieder einen | |
Hoffnungschimmer gibt. Der von Premierministerin May vorgeschlagene und am | |
6. Juli in Chequers beschlossene Brexit-Plan wurde auf spektakuläre Weise | |
demontiert: Er hat den Rücktritt von Außenminister Boris Johnson und einen | |
Bürgerkrieg in der Konservativen Partei ausgelöst, was wiederum die | |
Umfragewerte der Partei wie die Zustimmungsquote zum Brexit gedrückt hat. | |
Dass die Bevölkerung desillusioniert ist, zeigt sich in den neuesten | |
Meinungsumfragen. Im August veröffentlichte die Best-for-Britain-Kampagne | |
eine differenzierte Studie, die zeigt, dass in 112 Wahlkreisen eine | |
Leave-Mehrheit zu einer Remain-Mehrheit geworden ist. Insgesamt 2,6 | |
Millionen Menschen haben ihre Einstellung zum Brexit geändert. Demnach sind | |
bei den Labour-Wählern 1,6 Millionen frühere Brexit-Anhänger zu Remainern | |
geworden; umgekehrt sind im konservativen Lager etwa 1 Million zur | |
Leave-Fraktion übergelaufen. | |
## Neun Prozent wechseln zum „Remain“-Lager | |
Das bedeutet Rückenwind für die Kampagne von People’s Vote, einem Bündnis | |
des rechten Labour-Flügels und der liberalen Mitte, die für eine zweite | |
Volksabstimmung eintritt. Projiziert man die Daten aus der erwähnten | |
landesweiten Umfrage auf Newport, ergibt sich ein Wechsel von 9 Prozent in | |
Richtung Remain-Lager. Gleichwohl hätten die Brexit-Befürworter noch immer | |
eine knappe Mehrheit. | |
Nicola Davies ist Labour-Aktivistin und leitet ein Gemeindezentrum. Obwohl | |
sie persönlich ein zweites Referendum befürwortet, ist sie skeptisch: „Für | |
diese Region wäre es absolut katastrophal. Es würde die Gemeinde noch | |
stärker spalten. Seit Jahren klagen wir, dass sich die Leute nicht für | |
Politik interessieren. Dann gehen sie zum ersten Mal in ihrem Leben wählen | |
– und wir sollen ihnen sagen, deine Stimme bedeutet nichts?“ | |
Ich treffe Nicola mit einer Gruppe linker Labour-Aktivisten aus der Region. | |
Sie zeichnen von der politischen Dynamik an der Basis ein viel komplexeres | |
Bild, als die jüngste Umfrage erkennen lässt. Wo die Meinungsforscher bei | |
den Leave-Wählern eine rationale Einsicht in eine „falsche | |
„Kaufentscheidung“ erblicken, sehen die progressiven Aktivisten vor Ort | |
eine volatile und potenziell gefährliche Situation. | |
Die Labour Party in Wales ist das Establishment. Sie hat die Macht in der | |
Welsh Assembly, die 1998 als Regionalparlament etabliert wurde; seitdem | |
kontrolliert sie das Gesundheits-, das Verkehrs- und das Bildungswesen. | |
Deshalb gibt es in den besonders heruntergekommenen Gegenden eine | |
plebejische Anti-Labour-Stimmung, die sich auch anderswo immer dann regt, | |
wenn sozialdemokratische Parteien die Alltagsprobleme nicht in den Griff | |
bekommen. | |
Vor dem Brexit-Votum äußerte sich dieser Unmut vor allem in der Wahl von | |
hunderten „unabhängiger“ konservativ orientierter Gemeinderäte. Aber im M… | |
2016, im Vorfeld der Brexit-Kampagne, konnte die rechtsgerichtete | |
fremdenfeindliche UK Independence Party (Ukip) aus dem Nichts 13 Prozent | |
der Stimmen und 7 Sitze in der Welsh Assembly erringen. Die Labour-Partei, | |
deren Hauptgegner bis dahin die linksnationalistische Plaid Cymru gewesen | |
war, musste sich nun einer auf der äußersten Rechten positionierten | |
britisch-nationalistischen Partei erwehren. | |
Stephen Williams, ein Musiker und Labour-Aktivist aus der ehemaligen | |
Bergarbeiterstadt Merthyr Tydfil, ist zwar eigentlich auch für Remain, | |
aber er wünscht sich vor allem, „dass es endlich vorbei ist“. Die | |
rechtsextremen Gruppen in den alten Bergbautälern seien immer noch klein, | |
bekämen aber neuen Zulauf, wenn Labour sich nicht an das ursprüngliche | |
Abstimmungsergebnis halten würde. | |
## Weniger Unterstützung für UKIP | |
Margaret Davies ist Labour-Mitglied in Merthyr. Sie glaubt, dass die | |
Brexit-Stimmen von 2016 die Feindseligkeit gegenüber den polnischen und | |
portugiesischen Migranten ausdrücken, die für Niedriglöhne in einem großen | |
Schlachthof arbeiten. Aber auch das Gefühl, dass sich niemand, auf keiner | |
der vier Ebenen – Merthyr, Welsh Assembly, London, Brüssel – um die | |
Menschen in den walisischen Tälern kümmere. Trotz des Chaos in der | |
Regierung May glaubt sie nicht, dass sich in der Brexit-Frage viel geändert | |
hat: „Manche meiner Freunde, die für Leave waren, sind jetzt für Remain, | |
aber umgekehrt habe ich auch Remain-Freunde, die finden, dass wir uns an | |
das Votum halten sollten.“ | |
Die Trial-and-Error-Methode, mit der sich die britische Regierung an einen | |
konkreten Austrittsvorschlag herantastet, interessiert diese Leute nicht. | |
„Das zieht sich schon so lange hin, und es gibt so wenige Informationen, | |
dass die Leute heute sagen, sie wollen es einfach hinter sich haben“, meint | |
Margaret Davies. | |
In Newport wie in Merthyr fürchten die Labour-Aktivisten, dass in den | |
geschlossenen Newsgroups und Facebook-Gruppen ein fremdenfeindlicher | |
Rassismus um sich greift. In den Kleinstädten, wo der öffentliche Raum nach | |
sechs Uhr abends praktisch leergefegt ist, sind diese Foren zum wichtigen | |
Umschlagplatz von Vorurteilen und Desinformation geworden. Die geschlossene | |
Facebook-Gruppe „Merthyr Council Truths“ hat 17 000 Follower. Ihre | |
Influencer verbreiten „Wahrheiten“ wie: Die EU-Mitgliedschaft sei am | |
Verlust von Arbeitsplätzen in den walisischen Tälern schuld, die | |
EU-Infrastrukturprogramme würden das Land in Wirklichkeit aussaugen, und | |
das Labour-Establishment sei korrupt. | |
Ähnliches berichtet Nicola Davies aus Newport: „Ich bin einer Gruppe | |
namens Newport News beigetreten. Sie hat 5000 Mitglieder. Die Spaltung ist | |
extrem. Ich schreibe gegen den Rassismus, aber ich weiß, was ihn antreibt. | |
Sie denken: ‚Ich habe fast nichts und Angst, dass jemand anderes mir das | |
bisschen auch noch wegnimmt.‘ “ | |
Seit dem Referendum ist die Unterstützung für Ukip wieder zurückgegangen; | |
die Partei selbst hat sich noch weiter nach rechts entwickelt, hat den US- | |
Blogger Milo Yiannopoulos umarmt, hat mit Steve Bannons internationalem | |
Alt-Right-Netzwerk geflirtet und ihre Mischung aus Islamophobie und | |
Fremdenfeindlichkeit mit Antisemitismus angereichert. | |
## Brexit-Unterstützer haben keine Alternative | |
Als Tommy Robinson, Exführer der faschistischen English Defence League, | |
wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis wanderte, rief Ukip zu einer | |
Unterstützungsaktion auf. Zurzeit prüft die Partei, ob sie Robinson in ihre | |
Reihen aufnimmt. Nicola Davies denkt mit Sorge an Robinsons riesige | |
Fangemeinde: „Wenn er in die Ukip aufgenommen wird, könnte er in Newport | |
10.000 Menschen auf die Straße bringen.“ | |
Die Angst mag übertrieben sein. Aber sie verweist auf ein Problem, das in | |
der nächsten Phase des Brexit-Prozesses auftauchen wird und über das nur | |
ganz wenige Strategen – der Linken wie der Rechten – gründlich nachgedacht | |
haben: Wie werden, wenn der Brexit scheitert, die 17 Millionen reagieren, | |
die für ihn gestimmt haben? | |
Wenn in den letzten sechs Monaten der Brexit-Verhandlungen das völlige | |
Chaos droht, liegt dies daran, dass die Führungen der Parteien nicht zur | |
Kenntnis nehmen wollen, dass sie vor einer Entweder-oder-Situation stehen. | |
Es gibt nämlich, worauf die EU-Verhandlungsführer immer wieder warnend | |
hinweisen, nur zwei mögliche Lösungen: ein Abkommen wie mit Norwegen, bei | |
dem Großbritannien Mitglied des Binnenmarkts bleibt und alle vier | |
„Freiheiten“ (für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Menschen) | |
garantiert; oder ein Freihandelsabkommen wie mit Kanada, das Großbritannien | |
zu einem „Drittland“ macht und ihm die Freiheit gibt, eigene | |
Handelsabkommen mit dem Rest der Welt abzuschließen. | |
Theresa May hat versucht, im Juni 2017 mittels Parlamentswahlen ein Mandat | |
für einen Brexit mit reinem Freihandelsabkommen zu erhalten. Damit ist sie | |
gescheitert. Für diese Lösung hat sie keine parlamentarische Mehrheit, weil | |
in der konservativen Fraktion bis zu 15 Europhile dagegen sind. Seitdem | |
hat May dreimal vergeblich versucht, ein maßgeschneidertes Brexit-Abkommen | |
auszuarbeiten, das den Briten anheimstellt, die EU-Regeln für den Handel | |
mit Waren und bestimmten Dienstleistungen freiwillig einzuhalten. Damit | |
könnte sich Großbritannien den Zugang zum europäischen Binnenmarkt | |
erhalten, ohne offiziell auf seine Regeln verpflichtet zu sein. | |
Seitdem musste May in jeder Phase der Verhandlungen zurückstecken. Vor | |
allem im Dezember 2017 mit dem Zugeständnis in Sachen Nordirland, das nach | |
dem Brexit eine EU-Außengrenze, nämlich die zur Irischen Republik haben | |
wird. Ein sogenanntes Backstop-Abkommen sollte garantieren, dass an der | |
inneririschen Grenze keine physischen Grenzkontrollen stattfinden. | |
Erst am 6.Juli traute sich May, bei der Kabinettsklausur in Chequers einen | |
kompletten Entwurf für das Brexit-Endspiel vorzulegen. Obwohl die Vertreter | |
eines harten Brexit in ihrem Kabinett keine Alternative anzubieten hatten, | |
traten Boris Johnson und Brexit-Unterhändler David Davis innerhalb von 48 | |
Stunden zurück. Dann aber signalisierte die EU beim Salzburger Gipfel, dass | |
ein Vertrag nach diesem Muster unannehmbar sei, was weitere Turbulenzen in | |
Mays Kabinett zur Folge hatte. | |
## Die Idee eines zweiten Referendums gewinnt an Boden | |
Auch der Parteitag der Konservativen Anfang Oktober brachte keine Klärung, | |
obwohl eine Rebellion gegen May ausgeblieben ist. Aber unter den | |
Delegierten herrschte eine allgemeine Verdrossenheit. Ein Kolumnist im | |
Guardian traf lauter Leute, die den Brexit wollen und sich dennoch | |
ausgesprochen unglücklich fühlen.“ | |
Die ständigen Spaltungen und Rückzieher im Lager der Brexit-Betreiber haben | |
den Wählerinnen und Wählern gezeigt, dass deren Versprechungen zu | |
optimistisch waren. Selbst im Wahlkreis von Boris Johnson sagen heute 74 | |
Prozent der Befragten, dass der Brexit komplizierter und schwieriger sei, | |
als sie geglaubt hatten. | |
Auch die Labour Party laboriert an selbst zugefügten Brexit-Wunden. 2016 | |
und 2017 bestand ihr strategisches Problem darin, dass ein Drittel ihrer | |
eigenen Wähler für den Austritt aus der EU war. Noch problematischer ist, | |
dass in den 40 bis 60 umkämpften Wahlkreisen, die Labour bei einem Sieg in | |
den nächsten Parlamentswahl erobern müsste, eine Mehrheit 2016 für Leave | |
stimmte. Das größte Problem hat Labour in Schottland: Hier will man 24 | |
Sitze von der proeuropäischen Scottish National Party zurückgewinnen, | |
obwohl zwischen Konservativen und SNP kaum ein politischer Spielraum | |
bleibt. | |
In den ersten 18 Monaten des Brexit-Prozesses beschränkte sich Corbyns | |
Strategie darauf, einige rote Linien zu benennen, an denen man die | |
konservativen Brexit-Konzepte messen konnte, ohne selbst ein Szenario zu | |
entwerfen oder sich der Forderung nach einem neuen Referendum | |
anzuschließen. | |
Diese Position ist kaum noch haltbar. Inzwischen konzentriert sich das | |
Remain-Lager ganz auf die Forderung nach einer zweiten Volksabstimmung, die | |
auch der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan unterstützt. Dass Corbyn es | |
versäumt hat, diese Forderung zu unterstützen, hat es einer Gruppe von | |
rechten Labour-Abgeordneten um Chuka Umunna ermöglicht, eine klare | |
proeuropäische politische Position zu beziehen. Umunna versichert zwar, | |
dass er nicht die Gründung einer eigenen, proeuropäischen Zentrumspartei | |
vorhat. Aber wenn doch, wären die 290 000 Leute, die seinen „People’s | |
Vote“-Aufruf unterschrieben haben, eine hervorragende Ausgangsbasis. | |
## Wer stürzt Theresa May? | |
Die Corbyn-freundliche Parteibasis hat ihrerseits begonnen, ihre eigene | |
Version des Referendums voranzutreiben. Von den 272 Anträgen, die aus den | |
Ortsvereinen für den Parteitag im September eingingen, bezogen sich 150 auf | |
den Brexit; mehr als 100 verlangten, die Forderung nach einer neuen | |
Abstimmung ins nächste Wahlprogramm aufzunehmen. Eine Abstimmung über | |
diesen Antrag konnten die Apparatschiks nur mittels eines nächtlichen | |
Kuhhandels abwenden. | |
Bei den Konservativen wie bei Labour sind die Positionen in Sachen Brexit | |
also noch im Fluss. Angesichts dessen dürfte die Sitzungsperiode des | |
Parlaments bis zu einem endgültigen Verhandlungsergebnis Mitte November | |
noch dramatisch verlaufen. Für den Ausgang gibt es mehrere Szenarien. | |
Entweder wird Theresa May von den Verfechtern eines harten Brexit gestürzt. | |
Oder May überlebt, verliert aber im Unterhaus die entscheidende Abstimmung | |
über den endgültigen Vertrag. Oder in der Labour Party wird Jeremy Corbyn | |
weiter in Richtung der norwegischen Lösung gedrängt (Mitgliedschaft in der | |
wirtschaftlichen, nicht aber in der politischen EU) und damit in Richtung | |
eines zweiten Referendums. | |
Und schließlich könnte sich das ganze ungeklärte Durcheinander noch über | |
das Jahresende hinaus hinziehen, was einen „No deal“ wahrscheinlicher | |
machen würde. Das aber würde das britische Pfund unter Druck setzen und | |
ausländische Investitionen gefährden. | |
Um zu verstehen, was dieses letzte Szenario für viele kleinen Leute | |
bedeuten könnte, fahre ich nach Cardiff. Ich will den einzigen | |
Labour-Politiker in Großbritannien treffen, der eine offizielle Rolle bei | |
den Brexit-Verhandlungen spielt. | |
An der Tür der Labour-Geschäftsstelle im Stadtteil Canton von Cardiff steht | |
eine junge Frau. Sie besteht höflich, aber bestimmt auf einem Treffen mit | |
Mark Drakeford: „Ich weiß, dass es nach fünf ist, aber ich habe einen | |
Bescheid bekommen, und man hat mir gesagt, dass er eine Sanktion enthält.“ | |
Sie wedelt mit einem Bündel amtlicher Schreiben. Die fetten Großbuchstaben | |
lassen erkennen, dass es sich um schlechte Nachrichten für eine Empfängerin | |
von Arbeitslosengeld handelt. | |
Drakeford lächelt und lässt sie ein. In wenigen Wochen wird dieser | |
onkelhafte ehemalige Professor für Sozialpolitik wahrscheinlich der neue | |
First Minister von Wales sein und über einen Jahresetat von 17 Milliarden | |
Pfund verfügen. Aber im Augenblick reicht das Wort „Sanktion“ aus, um die | |
Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu wecken. | |
Für Menschen, die von der Stütze leben, bedeutet das Wort, dass sie einen | |
Teil der ohnehin mageren Summe verlieren: Es bedeutet weniger zu essen oder | |
dass sie die Raten eines Kredits nicht bedienen können; es bedeutet, noch | |
ohnmächtiger zu sein. Ein Mitarbeiter führt die Frau in einen | |
Besprechungsraum, um ihr weiterzuhelfen. | |
## Ums nackte Überleben kämpfen | |
Drakeford sagt: „Wenn ich gut betuchten Leuten erzähle, dass in meiner | |
letzten Bürgersprechstunde Leute waren, die mir erzählen, sie hätten seit | |
Mittwoch nichts gegessen, dann ist es nicht so, dass sie mir nicht glauben. | |
Aber sie glauben nicht, dass es mehr als ein individuelles Problem ist. | |
Wenn bei dir oder mir der Wasserkocher kaputtgeht, kaufen wir einen neuen. | |
Aber was machst du ohne jegliche Ersparnisse, in einem Haushalt, wo jeder | |
Penny fürs Essen draufgeht, wo du dich an niemanden wenden kannst, wenn der | |
Wasserkocher den Geist aufgibt?“ | |
Der Labour-Abgeordnete berichtet von vielen Orten, wo „die Kette der | |
erreichbaren Lebensziele gerissen ist“. Die krasse Ungleichheit sei bei | |
Menschen, die ums nackte Überleben kämpfen, jeden Tag spürbar. Vor allem | |
diese extreme Ungleichheit sei – neben den fremdenfeindlichen | |
Facebook-Gruppen – für den Ausgang des Brexit-Referendums verantwortlich. | |
Drakeford ist zurzeit Finanzminister in der walisischen Regierung. Als | |
solcher gehört er – wie sein schottischer und sein englischer Amtskollege – | |
einem gemeinsamen Ausschuss an, der die britische Verhandlungsposition | |
festzulegen hat. Im Gegensatz zu anderen Spitzenvertretern von Welsh Labour | |
steht er fest hinter Corbyn und hofft, im nächsten Monat zum | |
Parteivorsitzenden in Wales gewählt zu werden. | |
Wenn er das schafft, könnte das erheblichen Einfluss auf die | |
innerparteiliche Debatte haben. Da die Waliser Partei in der | |
Regierungsverantwortung steht, tritt sie seit Langem für die Mitgliedschaft | |
in Zollunion und Binnenmarkt ein. Drakeford begründet dies mit den | |
wirtschaftlichen Risiken eines Brexit: „Wales exportiert einen höheren | |
Anteil seiner Waren in die EU als jeder andere Teil des Vereinigten | |
Königreichs, deshalb werden alle Handelsbarrieren gegenüber unserem | |
wichtigsten Absatzmarkt die walisische Wirtschaft überproportional | |
treffen.“ | |
Vor allem befürchtet Drakeford im Fall eines harten Brexit, dass es in der | |
besonders wichtigen Luft- und Raumfahrtindustrie und im Automobilsektor | |
über kurz oder lang zu Investitionsdefiziten und Verlagerungen ins | |
EU-Ausland kommen wird. Auch für andere Bereiche könne der Verlust eines | |
freien Zugangs zum europäischen Binnenmarkt den Tod bedeuten. „An der Menai | |
Strait haben wir eine florierende Muschelindustrie, die mit großem | |
staatlichen Investitionsaufwand über die Jahre entwickelt wurde. Wenn diese | |
Muscheln in Frankreich in einer Lagerhalle herumstehen, damit kontrolliert | |
werden kann, ob sie den EU-Vorschriften entsprechen, sind sie nicht mehr | |
frisch. Nach einer Analyse, die wir in Auftrag gegeben haben, könnte diese | |
Industrie bei einem harten Brexit innerhalb von drei Wochen ruiniert sein.“ | |
## Letzter Akt: weitreichendes politisches Chaos | |
Das Brexit-Drama wird sich voraussichtlich in drei Akten abspielen. Der | |
erste war das Referendum. Der zweite Akt ist die lange politische Agonie | |
von Theresa May; sein Höhepunkt dürfte im November anstehen und das Ganze | |
könnte durchaus mit einem No-Deal-Szenario enden. In dem Fall würde uns der | |
dritte Akt das Horten von Lebensmitteln und Medikamenten, endlose | |
Lkw-Schlangen in Dover und ein weitreichendes politisches Chaos bringen. | |
Die Rolle, die Labour in diesem Drama spielt, wird sich wohl verändern. | |
Innerhalb der Partei wächst die Zustimmung zu einem zweiten Referendum, | |
obwohl die offizielle Linie immer noch lautet, dass Neuwahlen der beste Weg | |
aus der Sackgasse wäre. Aber auch dann müsste Corbyn klarmachen, welche Art | |
von Brexit er wünscht. Nach einem Beschluss des letzten Parteitags, der | |
Labour auf eine „Beteiligung“ am Gemeinsamen Binnenmarkt festlegt, läuft | |
das auf ein Abkommen nach norwegischem Vorbild hinaus. | |
Diese Aussicht weckt allerdings Ängste, dass der Schlussakt ganz anders | |
aussehen könnte. 2016 haben 17 Millionen Menschen für den Brexit gestimmt. | |
Für einige war es ihre erste politische Willensbekundung; viele haben zum | |
ersten Mal gespürt, dass ihre Stimme etwas verändert hat. Die Kommentatoren | |
der liberalen Zeitungen stellen die Brexit-Anhänger der Arbeiterklasse | |
häufig als unpolitisch und unorganisiert dar. Drakeford warnt vor solchen | |
Vorurteilen: „Ich war nie der Meinung, dass diese Leute politikfern sind. | |
Bei lokalen Themen engagieren sie sich durchaus. Ich war eine Zeit lang | |
Gesundheitsminister; versuchen Sie mal, Änderungen an einem | |
Gesundheitssystem vorzunehmen, in dem die Menschen stark an Einrichtungen | |
hängen, die sie kennen. Die Vorstellung, die Leute interessierten sich | |
nicht, ist schlicht falsch.“ | |
Wie auch immer das Drama endet: Die anhaltend hohe Zustimmung zum Brexit | |
ausgerechnet bei den Gruppen, die am meisten unter den Folgen leiden | |
werden, bleibt die zentrale Herausforderung für die politische Klasse des | |
Landes. Das schöne Märchen, das von Politikern der liberalen Mitte so lange | |
verbreitet wurde, kommt dort nicht mehr an, wo das Gemeindeleben seit | |
Jahrzehnten ausgezehrt wird, weil die Löhne stagnieren und keine | |
Investitionen kommen. | |
In Gegenden wie Südwales entwickeln Parolen, die Nationalismus und | |
Fremdenfeindlichkeit schüren und zur Rebellion gegen eine technokratische | |
Regierung aufrufen, eine bezwingende Kraft. Dagegen gibt es für die Labour | |
Party nur ein Mittel: Sie muss mit einer Geschichte der Hoffnung aufwarten. | |
Aus dem Englischen von Robin Cackett | |
11 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://monde-diplomatique.de/artikel/!5317989 | |
## AUTOREN | |
Paul Mason | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
Theresa May | |
Schwerpunkt Armut | |
Wales | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Großbritannien | |
Schwerpunkt Brexit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
EU-Verhandlungen über Brexit: Offen für verlängerte Übergangsphase | |
Die EU soll Großbritannien eine längere Übergangszeit für den Brexit | |
angeboten haben, berichten Medien. Eine Grenze in Nordirland soll vermieden | |
werden. | |
Keine Einigung bei Gipfel erwartet: Großbritannien verzögert Brexit-Deal | |
Alles wieder festgefahren beim Brexit: Die britische Regierung hat bei den | |
Gesprächen die Bremse gezogen – um eine Revolte gegen May abzuwenden. | |
Verhandlungen Brexit und Irland: Die Frage nach der Grenze | |
Die ungelöste irische Grenzfrage blockiert weiterhin eine Brexit-Einigung. | |
Theresa May könnte darüber stürzen – und Irland bereitet Notfallpläne vor. | |
Vor dem EU-Gipfel in Brüssel: Brexit, letzter Akt | |
Nächste Woche wird entscheidend. Entweder London und Brüssel einigen sich | |
über Großbritanniens EU-Austritt – oder es kracht. | |
EU-Austritt Großbritanniens: So geht es mit dem Brexit weiter | |
Noch immer gibt es keine klare Richtung, wie der Brexit ablaufen soll. Ein | |
Knackpunkt ist Nordirland, mit dem Zollkontrollen verhindert werden sollen. | |
Reaktionen nach dem Tory-Parteitag: Es gibt mehr zu tun als Brexit | |
Folgen auf die vielversprechenden Worte von Premierministerin May auch | |
Taten? Nach dem Parteitag gehen die Meinungen auseinander. | |
Brexit-Abkommen mit der EU: Alle sind gegen Theresa May | |
Großbritanniens EU-Befürworter und -Gegner gehen in die entscheidende | |
politische Schlacht. Beide Lager lehnen die Brexit-Linie der | |
Premierministerin ab. |