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# taz.de -- Aus Le Monde Diplomatique: Hoffnungsschimmer für Brexit-Exit
> Vor zwei Jahren trug Newport in Südwales dazu bei, dass Großbritannien
> für den Brexit stimmte. Heute hoffen dort nur noch wenige auf einen
> EU-Ausstieg.
Bild: Gute Laune ist in Newport derzeit selten: Premierministerin Theresa May z…
Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich anstellen musste, um
ihre Stimme abzugeben, erzählt Nicola Davies. „Und ich wusste sofort, dass
wir verlieren würden. Die Leute kamen raus und fragten: ‚Wozu brauche ich
den Stift?‘ Offensichtlich hatten einige von ihnen noch nie eine Wahlkabine
von innen gesehen.“
Beim Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 hat die Bevölkerung von Newport in
Südwales dazu beigetragen, [1][dass eine „Leave“-Entscheidung herauskam].
Die Stadt und die umliegenden Täler waren eines der ersten Zentren der
britischen Kohleindustrie. Bis heute ist die Region ein Kernland der Labour
Party, aber weder die Treue zu Labour noch die Warnungen der Experten, der
Brexit werde den industriellen Niedergang besiegeln, konnten 60 Prozent der
Wähler von Newport davon abbringen, für den EU-Austritt zu stimmen.
Ein Gang durch die Hauptstraße beantwortet die Frage nach dem Warum. Wie
schon 2016 reiht sich ein geschlossener Laden an den anderen. Andrang sieht
man nur bei den Geldverleihern, den Pfandhäuser und den vielen
Secondhandläden, die von wohltätigen Organisationen betrieben werden. Die
durchnässten Decken der Obdachlosen, die Gruppen junger Drogenabhängiger,
die Ausbreitung armutsbedingter Krankheiten – all das erinnert die Menschen
in Newport täglich daran, wie übel das neoliberale Zeitalter ihrer Stadt
mitgespielt hat.
Ich bin nach Wales gefahren, weil es für diejenigen, die die
Brexit-Entscheidung von 2016 rückgängig machen wollen, wieder einen
Hoffnungschimmer gibt. Der von Premierministerin May vorgeschlagene und am
6. Juli in Chequers beschlossene Brexit-Plan wurde auf spektakuläre Weise
demontiert: Er hat den Rücktritt von Außenminister Boris Johnson und einen
Bürgerkrieg in der Konservativen Partei ausgelöst, was wiederum die
Umfragewerte der Partei wie die Zustimmungsquote zum Brexit gedrückt hat.
Dass die Bevölkerung desillusioniert ist, zeigt sich in den neuesten
Meinungsumfragen. Im August veröffentlichte die Best-for-Britain-Kampagne
eine differenzierte Studie, die zeigt, dass in 112 Wahlkreisen eine
Leave-Mehrheit zu einer Remain-Mehrheit geworden ist. Insgesamt 2,6
Millionen Menschen haben ihre Einstellung zum Brexit geändert. Demnach sind
bei den Labour-Wählern 1,6 Millionen frühere Brexit-Anhänger zu Remainern
geworden; umgekehrt sind im konservativen Lager etwa 1 Million zur
Leave-Fraktion übergelaufen.
## Neun Prozent wechseln zum „Remain“-Lager
Das bedeutet Rückenwind für die Kampagne von People’s Vote, einem Bündnis
des rechten Labour-Flügels und der liberalen Mitte, die für eine zweite
Volksabstimmung eintritt. Projiziert man die Daten aus der erwähnten
landesweiten Umfrage auf Newport, ergibt sich ein Wechsel von 9 Prozent in
Richtung Remain-Lager. Gleichwohl hätten die Brexit-Befürworter noch immer
eine knappe Mehrheit.
Nicola Davies ist Labour-Aktivistin und leitet ein Gemeindezentrum. Obwohl
sie persönlich ein zweites Referendum befürwortet, ist sie skeptisch: „Für
diese Region wäre es absolut katastrophal. Es würde die Gemeinde noch
stärker spalten. Seit Jahren klagen wir, dass sich die Leute nicht für
Politik interessieren. Dann gehen sie zum ersten Mal in ihrem Leben wählen
– und wir sollen ihnen sagen, deine Stimme bedeutet nichts?“
Ich treffe Nicola mit einer Gruppe linker Labour-Aktivisten aus der Region.
Sie zeichnen von der politischen Dynamik an der Basis ein viel komplexeres
Bild, als die jüngste Umfrage erkennen lässt. Wo die Meinungsforscher bei
den Leave-Wählern eine rationale Einsicht in eine „falsche
„Kaufentscheidung“ erblicken, sehen die progressiven Aktivisten vor Ort
eine volatile und potenziell gefährliche Situation.
Die Labour Party in Wales ist das Establishment. Sie hat die Macht in der
Welsh Assembly, die 1998 als Regionalparlament etabliert wurde; seitdem
kontrolliert sie das Gesundheits-, das Verkehrs- und das Bildungswesen.
Deshalb gibt es in den besonders heruntergekommenen Gegenden eine
plebejische Anti-Labour-Stimmung, die sich auch anderswo immer dann regt,
wenn sozialdemokratische Parteien die Alltagsprobleme nicht in den Griff
bekommen.
Vor dem Brexit-Votum äußerte sich dieser Unmut vor allem in der Wahl von
hunderten „unabhängiger“ konservativ orientierter Gemeinderäte. Aber im M…
2016, im Vorfeld der Brexit-Kampagne, konnte die rechtsgerichtete
fremdenfeindliche UK Independence Party (Ukip) aus dem Nichts 13 Prozent
der Stimmen und 7 Sitze in der Welsh Assembly erringen. Die Labour-Partei,
deren Hauptgegner bis dahin die linksnationalistische Plaid Cymru gewesen
war, musste sich nun einer auf der äußersten Rechten positionierten
britisch-nationalistischen Partei erwehren.
Stephen Williams, ein Musiker und Labour-Aktivist aus der ehemaligen
Bergarbeiterstadt Merthyr Tydfil, ist zwar eigentlich auch für Remain,
aber er wünscht sich vor allem, „dass es endlich vorbei ist“. Die
rechtsextremen Gruppen in den alten Bergbautälern seien immer noch klein,
bekämen aber neuen Zulauf, wenn Labour sich nicht an das ursprüngliche
Abstimmungsergebnis halten würde.
## Weniger Unterstützung für UKIP
Margaret Davies ist Labour-Mitglied in Merthyr. Sie glaubt, dass die
Brexit-Stimmen von 2016 die Feindseligkeit gegenüber den polnischen und
portugiesischen Migranten ausdrücken, die für Niedriglöhne in einem großen
Schlachthof arbeiten. Aber auch das Gefühl, dass sich niemand, auf keiner
der vier Ebenen – Merthyr, Welsh Assembly, London, Brüssel – um die
Menschen in den walisischen Tälern kümmere. Trotz des Chaos in der
Regierung May glaubt sie nicht, dass sich in der Brexit-Frage viel geändert
hat: „Manche meiner Freunde, die für Leave waren, sind jetzt für Remain,
aber umgekehrt habe ich auch Remain-Freunde, die finden, dass wir uns an
das Votum halten sollten.“
Die Trial-and-Error-Methode, mit der sich die britische Regierung an einen
konkreten Austrittsvorschlag herantastet, interessiert diese Leute nicht.
„Das zieht sich schon so lange hin, und es gibt so wenige Informationen,
dass die Leute heute sagen, sie wollen es einfach hinter sich haben“, meint
Margaret Davies.
In Newport wie in Merthyr fürchten die Labour-Aktivisten, dass in den
geschlossenen Newsgroups und Facebook-Gruppen ein fremdenfeindlicher
Rassismus um sich greift. In den Kleinstädten, wo der öffentliche Raum nach
sechs Uhr abends praktisch leergefegt ist, sind diese Foren zum wichtigen
Umschlagplatz von Vorurteilen und Desinformation geworden. Die geschlossene
Facebook-Gruppe „Merthyr Council Truths“ hat 17 000 Follower. Ihre
Influencer verbreiten „Wahrheiten“ wie: Die EU-Mitgliedschaft sei am
Verlust von Arbeitsplätzen in den walisischen Tälern schuld, die
EU-Infrastrukturprogramme würden das Land in Wirklichkeit aussaugen, und
das Labour-Establishment sei korrupt.
Ähnliches berichtet Nicola Davies aus Newport: „Ich bin einer Gruppe
namens Newport News beigetreten. Sie hat 5000 Mitglieder. Die Spaltung ist
extrem. Ich schreibe gegen den Rassismus, aber ich weiß, was ihn antreibt.
Sie denken: ‚Ich habe fast nichts und Angst, dass jemand anderes mir das
bisschen auch noch wegnimmt.‘ “
Seit dem Referendum ist die Unterstützung für Ukip wieder zurückgegangen;
die Partei selbst hat sich noch weiter nach rechts entwickelt, hat den US-
Blogger Milo Yiannopoulos umarmt, hat mit Steve Bannons internationalem
Alt-Right-Netzwerk geflirtet und ihre Mischung aus Islamophobie und
Fremdenfeindlichkeit mit Antisemitismus angereichert.
## Brexit-Unterstützer haben keine Alternative
Als Tommy Robinson, Exführer der faschistischen English Defence League,
wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis wanderte, rief Ukip zu einer
Unterstützungsaktion auf. Zurzeit prüft die Partei, ob sie Robinson in ihre
Reihen aufnimmt. Nicola Davies denkt mit Sorge an Robinsons riesige
Fangemeinde: „Wenn er in die Ukip aufgenommen wird, könnte er in Newport
10.000 Menschen auf die Straße bringen.“
Die Angst mag übertrieben sein. Aber sie verweist auf ein Problem, das in
der nächsten Phase des Brexit-Prozesses auftauchen wird und über das nur
ganz wenige Strategen – der Linken wie der Rechten – gründlich nachgedacht
haben: Wie werden, wenn der Brexit scheitert, die 17 Millionen reagieren,
die für ihn gestimmt haben?
Wenn in den letzten sechs Monaten der Brexit-Verhandlungen das völlige
Chaos droht, liegt dies daran, dass die Führungen der Parteien nicht zur
Kenntnis nehmen wollen, dass sie vor einer Entweder-oder-Situation stehen.
Es gibt nämlich, worauf die EU-Verhandlungsführer immer wieder warnend
hinweisen, nur zwei mögliche Lösungen: ein Abkommen wie mit Norwegen, bei
dem Großbritannien Mitglied des Binnenmarkts bleibt und alle vier
„Freiheiten“ (für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Menschen)
garantiert; oder ein Freihandelsabkommen wie mit Kanada, das Großbritannien
zu einem „Drittland“ macht und ihm die Freiheit gibt, eigene
Handelsabkommen mit dem Rest der Welt abzuschließen.
Theresa May hat versucht, im Juni 2017 mittels Parlamentswahlen ein Mandat
für einen Brexit mit reinem Freihandelsabkommen zu erhalten. Damit ist sie
gescheitert. Für diese Lösung hat sie keine parlamentarische Mehrheit, weil
in der konservativen Fraktion bis zu 15 Europhile dagegen sind. Seitdem
hat May dreimal vergeblich versucht, ein maßgeschneidertes Brexit-Abkommen
auszuarbeiten, das den Briten anheimstellt, die EU-Regeln für den Handel
mit Waren und bestimmten Dienstleistungen freiwillig einzuhalten. Damit
könnte sich Großbritannien den Zugang zum europäischen Binnenmarkt
erhalten, ohne offiziell auf seine Regeln verpflichtet zu sein.
Seitdem musste May in jeder Phase der Verhandlungen zurückstecken. Vor
allem im Dezember 2017 mit dem Zugeständnis in Sachen Nordirland, das nach
dem Brexit eine EU-Außengrenze, nämlich die zur Irischen Republik haben
wird. Ein sogenanntes Backstop-Abkommen sollte garantieren, dass an der
inneririschen Grenze keine physischen Grenzkontrollen stattfinden.
Erst am 6.Juli traute sich May, bei der Kabinettsklausur in Chequers einen
kompletten Entwurf für das Brexit-Endspiel vorzulegen. Obwohl die Vertreter
eines harten Brexit in ihrem Kabinett keine Alternative anzubieten hatten,
traten Boris Johnson und Brexit-Unterhändler David Davis innerhalb von 48
Stunden zurück. Dann aber signalisierte die EU beim Salzburger Gipfel, dass
ein Vertrag nach diesem Muster unannehmbar sei, was weitere Turbulenzen in
Mays Kabinett zur Folge hatte.
## Die Idee eines zweiten Referendums gewinnt an Boden
Auch der Parteitag der Konservativen Anfang Oktober brachte keine Klärung,
obwohl eine Rebellion gegen May ausgeblieben ist. Aber unter den
Delegierten herrschte eine allgemeine Verdrossenheit. Ein Kolumnist im
Guardian traf lauter Leute, die den Brexit wollen und sich dennoch
ausgesprochen unglücklich fühlen.“
Die ständigen Spaltungen und Rückzieher im Lager der Brexit-Betreiber haben
den Wählerinnen und Wählern gezeigt, dass deren Versprechungen zu
optimistisch waren. Selbst im Wahlkreis von Boris Johnson sagen heute 74
Prozent der Befragten, dass der Brexit komplizierter und schwieriger sei,
als sie geglaubt hatten.
Auch die Labour Party laboriert an selbst zugefügten Brexit-Wunden. 2016
und 2017 bestand ihr strategisches Problem darin, dass ein Drittel ihrer
eigenen Wähler für den Austritt aus der EU war. Noch problematischer ist,
dass in den 40 bis 60 umkämpften Wahlkreisen, die Labour bei einem Sieg in
den nächsten Parlamentswahl erobern müsste, eine Mehrheit 2016 für Leave
stimmte. Das größte Problem hat Labour in Schottland: Hier will man 24
Sitze von der proeuropäischen Scottish National Party zurückgewinnen,
obwohl zwischen Konservativen und SNP kaum ein politischer Spielraum
bleibt.
In den ersten 18 Monaten des Brexit-Prozesses beschränkte sich Corbyns
Strategie darauf, einige rote Linien zu benennen, an denen man die
konservativen Brexit-Konzepte messen konnte, ohne selbst ein Szenario zu
entwerfen oder sich der Forderung nach einem neuen Referendum
anzuschließen.
Diese Position ist kaum noch haltbar. Inzwischen konzentriert sich das
Remain-Lager ganz auf die Forderung nach einer zweiten Volksabstimmung, die
auch der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan unterstützt. Dass Corbyn es
versäumt hat, diese Forderung zu unterstützen, hat es einer Gruppe von
rechten Labour-Abgeordneten um Chuka Umunna ermöglicht, eine klare
proeuropäische politische Position zu beziehen. Umunna versichert zwar,
dass er nicht die Gründung einer eigenen, proeuropäischen Zentrumspartei
vorhat. Aber wenn doch, wären die 290 000 Leute, die seinen „People’s
Vote“-Aufruf unterschrieben haben, eine hervorragende Ausgangsbasis.
## Wer stürzt Theresa May?
Die Corbyn-freundliche Parteibasis hat ihrerseits begonnen, ihre eigene
Version des Referendums voranzutreiben. Von den 272 Anträgen, die aus den
Ortsvereinen für den Parteitag im September eingingen, bezogen sich 150 auf
den Brexit; mehr als 100 verlangten, die Forderung nach einer neuen
Abstimmung ins nächste Wahlprogramm aufzunehmen. Eine Abstimmung über
diesen Antrag konnten die Apparatschiks nur mittels eines nächtlichen
Kuhhandels abwenden.
Bei den Konservativen wie bei Labour sind die Positionen in Sachen Brexit
also noch im Fluss. Angesichts dessen dürfte die Sitzungsperiode des
Parlaments bis zu einem endgültigen Verhandlungsergebnis Mitte November
noch dramatisch verlaufen. Für den Ausgang gibt es mehrere Szenarien.
Entweder wird Theresa May von den Verfechtern eines harten Brexit gestürzt.
Oder May überlebt, verliert aber im Unterhaus die entscheidende Abstimmung
über den endgültigen Vertrag. Oder in der Labour Party wird Jeremy Corbyn
weiter in Richtung der norwegischen Lösung gedrängt (Mitgliedschaft in der
wirtschaftlichen, nicht aber in der politischen EU) und damit in Richtung
eines zweiten Referendums.
Und schließlich könnte sich das ganze ungeklärte Durcheinander noch über
das Jahresende hinaus hinziehen, was einen „No deal“ wahrscheinlicher
machen würde. Das aber würde das britische Pfund unter Druck setzen und
ausländische Investitionen gefährden.
Um zu verstehen, was dieses letzte Szenario für viele kleinen Leute
bedeuten könnte, fahre ich nach Cardiff. Ich will den einzigen
Labour-Politiker in Großbritannien treffen, der eine offizielle Rolle bei
den Brexit-Verhandlungen spielt.
An der Tür der Labour-Geschäftsstelle im Stadtteil Canton von Cardiff steht
eine junge Frau. Sie besteht höflich, aber bestimmt auf einem Treffen mit
Mark Drakeford: „Ich weiß, dass es nach fünf ist, aber ich habe einen
Bescheid bekommen, und man hat mir gesagt, dass er eine Sanktion enthält.“
Sie wedelt mit einem Bündel amtlicher Schreiben. Die fetten Großbuchstaben
lassen erkennen, dass es sich um schlechte Nachrichten für eine Empfängerin
von Arbeitslosengeld handelt.
Drakeford lächelt und lässt sie ein. In wenigen Wochen wird dieser
onkelhafte ehemalige Professor für Sozialpolitik wahrscheinlich der neue
First Minister von Wales sein und über einen Jahresetat von 17 Milliarden
Pfund verfügen. Aber im Augenblick reicht das Wort „Sanktion“ aus, um die
Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu wecken.
Für Menschen, die von der Stütze leben, bedeutet das Wort, dass sie einen
Teil der ohnehin mageren Summe verlieren: Es bedeutet weniger zu essen oder
dass sie die Raten eines Kredits nicht bedienen können; es bedeutet, noch
ohnmächtiger zu sein. Ein Mitarbeiter führt die Frau in einen
Besprechungsraum, um ihr weiterzuhelfen.
## Ums nackte Überleben kämpfen
Drakeford sagt: „Wenn ich gut betuchten Leuten erzähle, dass in meiner
letzten Bürgersprechstunde Leute waren, die mir erzählen, sie hätten seit
Mittwoch nichts gegessen, dann ist es nicht so, dass sie mir nicht glauben.
Aber sie glauben nicht, dass es mehr als ein individuelles Problem ist.
Wenn bei dir oder mir der Wasserkocher kaputtgeht, kaufen wir einen neuen.
Aber was machst du ohne jegliche Ersparnisse, in einem Haushalt, wo jeder
Penny fürs Essen draufgeht, wo du dich an niemanden wenden kannst, wenn der
Wasserkocher den Geist aufgibt?“
Der Labour-Abgeordnete berichtet von vielen Orten, wo „die Kette der
erreichbaren Lebensziele gerissen ist“. Die krasse Ungleichheit sei bei
Menschen, die ums nackte Überleben kämpfen, jeden Tag spürbar. Vor allem
diese extreme Ungleichheit sei – neben den fremdenfeindlichen
Facebook-Gruppen – für den Ausgang des Brexit-Referendums verantwortlich.
Drakeford ist zurzeit Finanzminister in der walisischen Regierung. Als
solcher gehört er – wie sein schottischer und sein englischer Amtskollege –
einem gemeinsamen Ausschuss an, der die britische Verhandlungsposition
festzulegen hat. Im Gegensatz zu anderen Spitzenvertretern von Welsh Labour
steht er fest hinter Corbyn und hofft, im nächsten Monat zum
Parteivorsitzenden in Wales gewählt zu werden.
Wenn er das schafft, könnte das erheblichen Einfluss auf die
innerparteiliche Debatte haben. Da die Waliser Partei in der
Regierungsverantwortung steht, tritt sie seit Langem für die Mitgliedschaft
in Zollunion und Binnenmarkt ein. Drakeford begründet dies mit den
wirtschaftlichen Risiken eines Brexit: „Wales exportiert einen höheren
Anteil seiner Waren in die EU als jeder andere Teil des Vereinigten
Königreichs, deshalb werden alle Handelsbarrieren gegenüber unserem
wichtigsten Absatzmarkt die walisische Wirtschaft überproportional
treffen.“
Vor allem befürchtet Drakeford im Fall eines harten Brexit, dass es in der
besonders wichtigen Luft- und Raumfahrtindustrie und im Automobilsektor
über kurz oder lang zu Investitionsdefiziten und Verlagerungen ins
EU-Ausland kommen wird. Auch für andere Bereiche könne der Verlust eines
freien Zugangs zum europäischen Binnenmarkt den Tod bedeuten. „An der Menai
Strait haben wir eine florierende Muschelindustrie, die mit großem
staatlichen Investitionsaufwand über die Jahre entwickelt wurde. Wenn diese
Muscheln in Frankreich in einer Lagerhalle herumstehen, damit kontrolliert
werden kann, ob sie den EU-Vorschriften entsprechen, sind sie nicht mehr
frisch. Nach einer Analyse, die wir in Auftrag gegeben haben, könnte diese
Industrie bei einem harten Brexit innerhalb von drei Wochen ruiniert sein.“
## Letzter Akt: weitreichendes politisches Chaos
Das Brexit-Drama wird sich voraussichtlich in drei Akten abspielen. Der
erste war das Referendum. Der zweite Akt ist die lange politische Agonie
von Theresa May; sein Höhepunkt dürfte im November anstehen und das Ganze
könnte durchaus mit einem No-Deal-Szenario enden. In dem Fall würde uns der
dritte Akt das Horten von Lebensmitteln und Medikamenten, endlose
Lkw-Schlangen in Dover und ein weitreichendes politisches Chaos bringen.
Die Rolle, die Labour in diesem Drama spielt, wird sich wohl verändern.
Innerhalb der Partei wächst die Zustimmung zu einem zweiten Referendum,
obwohl die offizielle Linie immer noch lautet, dass Neuwahlen der beste Weg
aus der Sackgasse wäre. Aber auch dann müsste Corbyn klarmachen, welche Art
von Brexit er wünscht. Nach einem Beschluss des letzten Parteitags, der
Labour auf eine „Beteiligung“ am Gemeinsamen Binnenmarkt festlegt, läuft
das auf ein Abkommen nach norwegischem Vorbild hinaus.
Diese Aussicht weckt allerdings Ängste, dass der Schlussakt ganz anders
aussehen könnte. 2016 haben 17 Millionen Menschen für den Brexit gestimmt.
Für einige war es ihre erste politische Willensbekundung; viele haben zum
ersten Mal gespürt, dass ihre Stimme etwas verändert hat. Die Kommentatoren
der liberalen Zeitungen stellen die Brexit-Anhänger der Arbeiterklasse
häufig als unpolitisch und unorganisiert dar. Drakeford warnt vor solchen
Vorurteilen: „Ich war nie der Meinung, dass diese Leute politikfern sind.
Bei lokalen Themen engagieren sie sich durchaus. Ich war eine Zeit lang
Gesundheitsminister; versuchen Sie mal, Änderungen an einem
Gesundheitssystem vorzunehmen, in dem die Menschen stark an Einrichtungen
hängen, die sie kennen. Die Vorstellung, die Leute interessierten sich
nicht, ist schlicht falsch.“
Wie auch immer das Drama endet: Die anhaltend hohe Zustimmung zum Brexit
ausgerechnet bei den Gruppen, die am meisten unter den Folgen leiden
werden, bleibt die zentrale Herausforderung für die politische Klasse des
Landes. Das schöne Märchen, das von Politikern der liberalen Mitte so lange
verbreitet wurde, kommt dort nicht mehr an, wo das Gemeindeleben seit
Jahrzehnten ausgezehrt wird, weil die Löhne stagnieren und keine
Investitionen kommen.
In Gegenden wie Südwales entwickeln Parolen, die Nationalismus und
Fremdenfeindlichkeit schüren und zur Rebellion gegen eine technokratische
Regierung aufrufen, eine bezwingende Kraft. Dagegen gibt es für die Labour
Party nur ein Mittel: Sie muss mit einer Geschichte der Hoffnung aufwarten.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
11 Oct 2018
## LINKS
[1] http://monde-diplomatique.de/artikel/!5317989
## AUTOREN
Paul Mason
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