# taz.de -- Es ging nicht um Europa | |
> Drei Gründe, warum die Hälfte der Briten für den Austritt gestimmt hat | |
Bild: Sunah Choi, provisorisch stabil, 2014, Stahl, Ziegelstein, ca. 115 x 115 … | |
von Paul Mason | |
Die Frau am Fahrkartenschalter des kleinen Bahnhofs in Wales hatte es nicht | |
eilig. Sie unterhielt sich angeregt mit einem Kollegen. Der sagte: „Man | |
kann kein rosa Mädchenspielzeug mehr kaufen, das muss jetzt alles grau | |
sein.“ Sie antwortete: „Das Wort ‚golliwog‘ darf man auch nicht mehr | |
sagen.“ Golliwog bedeutet „Negerpuppe“. Beide Bahnangestellten befanden | |
sich in Hörweite der Kunden, und beide trugen die Uniform ihres | |
Unternehmens. | |
Während der Brexit-Kampagne konnte man es überall hören, wenn man darauf | |
achtete: Beiläufige rassistische Bemerkungen, kleine Revolten gegen die | |
Political Correctness. Da ich selbst aus einer kleinen Arbeiterstadt | |
stamme, wusste ich, was sie bedeuteten: Da begann eine Pseudorevolte der | |
Unterklasse – gegen das Wertesystem einer progressiven gesellschaftlichen | |
Elite und deren langfristiges Projekt: die Mitgliedschaft in der EU. | |
In dem mitgehörten Gespräch und in Millionen anderen kam das Wort „Europa“ | |
nicht unbedingt vor. Das Referendum war die Gelegenheit, es schließlich | |
laut zu sagen: Wir haben die Schnauze voll – von der Trostlosigkeit, von | |
heruntergekommenen Geschäftsstraßen ohne Geschäfte, von Minijobs mit | |
Minilöhnen, von den Lügen und der Angstmache der politischen Klasse. Am | |
Abend des 23. Juni haben 56 Prozent der Leute in diesem walisischen | |
Städtchen für den Austritt aus der EU gestimmt. | |
Man konnte es kommen sehen. In der alten Bergbauregion, die der Labour | |
Party seit ihrer Gründung 1906 die Treue gehalten hatte, schaffte die | |
United Kingdom Independence Party (Ukip) bei den Kommunalwahlen im Mai | |
dieses Jahres den Durchbruch. Zwei Jahre zuvor war die Ukip bei der Wahl | |
zum Europäischen Parlament in ganz Großbritannien auf 26 Prozent gekommen. | |
Den stärksten Zulauf hatte sie in solchen Kleinstädten: grau in grau, | |
Niedriglohnjobs und gerade so viele ausländische Migranten, dass alle | |
dachten, was die Ökonomen bestätigten: dass die Einwanderung aus Osteuropa | |
die Niedriglöhne weiter drückt. | |
Diese seit Langem präsente Fremdenfeindlichkeit in den heruntergekommenen | |
Labour-Hochburgen, verbunden mit dem traditionellen Nationalismus der | |
Konservativen und der Vorstädte und ländlichen Regionen, ist die | |
Vorgeschichte des Brexit. Auf allen Verteilungsgrafiken kann man es sehen: | |
Die englischen Großstädte und ganz Schottland stimmten „Remain“. Die | |
verarmten kleinen und mittleren Städte in England und Wales stimmten | |
„Leave“. So brachte eine seit Langem brodelnde Revolte ein historisches | |
Ereignis hervor. Warum es so kam, hat drei wesentliche Gründe. | |
Grund eins: Der Neoliberalismus ist am Ende. Großbritannien war sein | |
Versuchskaninchen. In den 1980er Jahren setzte Margaret Thatcher | |
prozyklische Maßnahmen ein, um eine Rezession im industriellen und sozialen | |
Kollaps enden zu lassen. Ziel war es, den Zusammenhalt und die | |
gesellschaftliche Macht der Labour Party zu brechen und damit, auf | |
Jahrzehnte hinaus, ihre Macht, höhere Löhne durchzusetzen. Zwischen 1990 | |
und 2008 wurde die Lücke zwischen stagnierenden Löhnen und wirtschaftlichem | |
Wachstum – wie in allen Industrieländern – durch Kredite überbrückt. | |
In der Ära Tony Blair und „New Labour“ herrschte die Illusion, der Reichtum | |
würde irgendwie von den kapitalstarken globalisierten städtischen Zentren | |
nach unten durchsickern. Als der Trickle-down-Effekt sich nicht einstellte, | |
erhöhte Blairs Finanzminister Gordon Brown die Sozialausgaben zugunsten der | |
arbeitenden Bevölkerung. Als dann noch die öffentlichen Dienstleistungen – | |
bis hin zur Müllabfuhr – en gros privatisiert wurden, war die Illusion | |
perfekt. | |
Kurz vor dem Crash von 2008 konnte man das Ergebnis in einer walisischen | |
Kleinstadt besichtigen: eine ihrer produzierenden Privatunternehmen | |
beraubte Wirtschaft, keine Jobs, Kriminalität und Armutskrankheiten auf dem | |
Vormarsch, aber mit einem blühenden privaten Dienstleistungssektor, der aus | |
Steuergeldern finanziert und mit Billigarbeitskräften betrieben wurde. Eine | |
Stadt, die sich nur über Wasser hielt, weil der Staat Löhne aufstockte und | |
Kindergärten, psychiatrische Dienste und die Polizei finanzierte. | |
Es folgten der Crash, eine Tory-Regierung und die Sparpolitik. Die | |
Austerität brachte eine Kürzung der Sozialleistungen und der Gehälter im | |
öffentlichen Sektor; die Kreditkrise erdrückte die kleinen Läden, mit denen | |
die Leute aufgewachsen waren und die nun leer standen oder den | |
allgegenwärtigen Symbolen verarmter Städte weichen mussten: Poundland, wo | |
alles nur ein Pfund kostet; Cash Converters, wo man die letzten Wertsachen | |
für ein bisschen Bares verpfänden kann; und Citizens Advice Bureau, wo man | |
sich für eine Gratisberatung bei Schulden, drohender Räumung oder | |
Selbstmordgedanken anstellen kann. | |
Es ist nicht überall so. London, Manchester, Bristol und Leeds sind zu | |
globalisierten, auf den ersten Blick auch prosperierenden Zentren geworden. | |
Aber auch in den großen Städten entstand ganz unten ein ökonomisches | |
Modell, das so funktioniert: Die Frau arbeitet für einen miesen Lohn bei | |
Zara und kauft ihr Mittagssandwich bei Subway; der Mann arbeitet für einen | |
miesen Lohn bei Subway und kauft sein Hemd bei Zara. Für beide ist das | |
Problem weniger das Einkommen als die Miete. Angeheizt durch 375 | |
Milliarden Pfund, die das Quantitative-Easing-Programm der Bank of | |
England in die Wirtschaft gepumpt hat, sind die Immobilienpreise und Mieten | |
so in die Höhe geschossen, dass viele junge Leute, die einen Job in London | |
haben, zu zweit in einem Zimmer schlafen. Die ehemalige Studenten-WG, in | |
der jede/r ein Zimmer bewohnt, ist heute eine Anwalts-WG. | |
Die Krise des Neoliberalismus zerstörte die Perspektiven der jungen Leute | |
und trieb sie in die Verschuldung. Aber das hat mit dem Brexit-Ergebnis | |
nicht direkt zu tun. Die Revolte gegen die EU fand da statt, wo die | |
palliativen Angebote des Neoliberalismus – die üppige Glitzerwelt der | |
multikulturellen Metropolen – gar nicht existieren. | |
## Explosive Mischung aus Einwanderung und Sparpolitik | |
Der zweite Grund ist die Migrantenfrage. Als die EU 2004 acht | |
osteuropäische Staaten aufnahm, für die das Prinzip der | |
Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten sollte, verzichtete die Regierung Blair – | |
als einzige neben Irland und Schweden – auf die Möglichkeit, dieses Recht | |
für eine Übergangszeit einzuschränken oder ganz zu suspendieren.[1]Ein | |
Bericht des Innenministeriums schätzte, dass etwa 13 000 Migranten kommen | |
würden.[2]Heute leben in Großbritannien 3 Millionen Menschen aus anderen | |
EU-Ländern, 2 Millionen haben einen Job. Zusammen mit den Zuwanderern aus | |
Nicht-EU-Ländern stellen sie fast 17 Prozent der britischen Beschäftigten. | |
Viele arbeiten im öffentlichen Dienst – davon 55 000 aus der EU Stammende | |
im staatlichen Gesundheitssystem NHS –, die Mehrheit aber ist im | |
niedrigsten Lohnsegment des Privatsektors beschäftigt. Die Belegschaften | |
von Abfüll- und Verpackungsfabriken bestehen zu 43 Prozent aus Migranten, | |
in der Fertigungsindustrie sind es 33 Prozent. Ein Getränkehersteller in | |
London hat seine ganze Belegschaft in Litauen angeheuert. | |
Die politische Klasse hat die sozialen Auswirkungen der hohen Zuwanderung | |
theoretisch begriffen, aber nie selbst gespürt. Der Mythos, wonach | |
einheimische Arbeiter für diese Jobs „zu dumm“ oder sowieso „arbeitssche… | |
seien, passte zum neoliberalen Diskurs. Die Vorstellung, das Problem seien | |
eher die jämmerlichen Löhne oder die Sonderabgaben für Beschäftigte, die | |
die Reallöhne unter das Niveau der Mindestlöhne drücken, passte weniger. | |
Kein Wort auch über den üblen Brauch, ganze Belegschaften aus Osteuropa | |
anzuheuern, ohne lokalen Arbeitskräfte in Betracht zu ziehen. | |
Die plötzliche Ausbreitung von polnischen Läden und portugiesischen Cafés | |
in britischen Kleinstädten hielten die Großstadteliten vielleicht für | |
etwas, das dem eintönigen Alltag der Bewohner etwas magischen Glitzerstaub | |
der Globalisierung hinzufügte. Als journalistischer Beobachter nahm ich in | |
diesen Städten aber vor allem eines wahr: Ressentiment. | |
Endgültig toxisch wurde diese Mischung mit der Sparpolitik. Wenn du | |
Kinderarzt bist und jede zweite Mutter in deiner Praxis Portugiesin ist, | |
liegt es nahe, eine Portugiesisch sprechende Arzthelferin einzustellen. | |
Wenn Personalabbau die öffentlichen Dienstleistungen einschränkt, drängt | |
sich die Frage auf, ob der Stress geringer würde, wenn es weniger | |
Immigranten gäbe. Wer so fragte, wurde als fremdenfeindlich abgestempelt. | |
In seiner Referendumskampagne versprach Cameron, man werde die Einwanderung | |
auf „Zehntausende“ senken. 2015 kletterte die Nettozahl auf 333 000. Die | |
Hälfte der Einwanderer kam aus der EU, die andere Hälfte über ein | |
Zulassungssystem, das auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnitten | |
ist.[3] | |
Die Brexit-Bewegung machte die Zahl zur Ikone. Sie stand für die Aussicht, | |
dass künftig alle drei Jahre 1 Million EU-Einwanderer ankommen könnten, | |
dass der Lohn für die schlechtesten Jobs nicht steigen und dass nicht | |
einmal die konservative Regierung etwas dagegen tun würde. Als diese | |
aufgefordert wurde, kleinste Maßnahmen zur Entmutigung von EU-Migranten zu | |
beschließen, war die Antwort nein. Cameron kam es nicht mal in den Sinn, | |
bei seinen Brüsseler Verhandlungen im Februar 2016 substanzielle Änderungen | |
bei den Freizügigkeitsregeln zu verlangen. So wurde der Boden bereitet für | |
eine Kampagne, in der Themen wie wirtschaftliche Entwurzelung und Armut nur | |
im Hinblick auf die Migrantenfrage eine Rolle spielten. | |
Die Boulevardblätter verballerten tagtäglich ihre bösartige, kaum verhüllte | |
rassistische Propaganda. In den Großstädten, wo die Jungen ihre | |
Informationen von BuzzFeed beziehen und die Alten von öffentlichen | |
kontrollierten Sendern, bekamen nur wenige mit, wie giftig die Revolte | |
gegen die Einwanderung geworden war. | |
Der dritte Grund: Der Kampf der Narrative ging verloren. Cameron musste | |
gleich zu Beginn der Kampagne die Spaltung seiner Partei hinnehmen, dafür | |
nutzte er die Regierungsmaschinerie, um die Remain-Kampagne mit | |
Statistiken, Berichten und Impulsen zu versorgen. | |
Labour hatte zwar eine offizielle Linie – für Remain –, aber eine Führung, | |
in der linke Europaskeptiker dominierten. Die schluckten zwar ihre | |
Prinzipien herunter und traten für den Verbleib in der EU ein, wollten | |
aber nicht bei der parteiübergreifenden Kampagne „Better In“ mitmachen, | |
sondern zogen ihren eigenen „Remain and Reform“-Wahlkampf auf. | |
Inzwischen konzentrierte sich die „Leave“-Kampagne der ultrarechten | |
Europaskeptiker von Ukip und des rechten Flügels der Konservativen | |
skrupellos auf das Thema Migranten. | |
Eine Zeit lang war das Remain-Lager im Aufwind. Hunderte Unternehmer, | |
Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle erklärten sich für die EU | |
und warnten vor einem ökonomischen Chaos im Fall des Brexit. Aber drei | |
Wochen vor der Abstimmung verlor die Remain-Kampagne – von ihren Gegnern | |
als „Operation Angst“ bezeichnet – allen Schwung. Nachdem Finanzminister | |
Osborne für den Fall des Brexit einen Kamikazesparhaushalt versprochen | |
hatte, Donald Tusk vor dem Zusammenbruch der westlichen Zivilisation | |
gewarnt hatte und auch noch Obama an- und wieder abgereist war, war die | |
Munition verschossen. Die Remain-Kampagne hatte „den Hai hinter sich“, wie | |
man in Hollywood sagt.[4] | |
Als Labour-Aktivisten in den letzten drei Wochen vor dem 23. Juni ans | |
Klinkenputzen gingen, hatten sie alle das gleiche, schreckliche Erlebnis: | |
Nicht nur Ukip-Anhänger und Rassisten sagten ihnen „Fuck off“ ins Gesicht, | |
sondern auch viele Labour-Wähler. Und immer ging es um Migration. Die | |
britische Provinz übermittelte der städtischen Elite die Botschaft, dass | |
sie das neoliberale Elend satthatte. | |
Als Labour in den letzten Wochen der Kampagne andeutete, man könne die | |
EU-Regeln zur Freizügigkeit neu aushandeln, hörte kaum noch jemand hin. Und | |
der Labour-Chef ließ sich nicht dazu zu bewegen, etwas zu versprechen. | |
Außerdem stellte EU-Kommissionspräsident Juncker klar, so etwas könne es | |
nicht geben. | |
Obwohl die Anti-Migranten-Rhetorik nach der Ermordung von Jo Cox | |
vorübergehend verstummt war, blieb die Botschaft deutlich: Leave Europe | |
bedeutet, die Kontrolle über die Migration zu gewinnen; Remain dagegen | |
unbegrenzte Einwanderung, sinkende Löhne und kulturelle Spannungen. | |
Die politische Elite, einschließlich der Labour-Linken, ging davon aus, | |
dass mit dieser Brexit-Botschaft keine 45 Prozent der Wähler zu gewinnen | |
waren. Am Ende waren es 52 Prozent, auch weil 33 Prozent der asiatischen | |
und 27 Prozent der schwarzen Wähler für den EU-Austritt gestimmt hatten.[5] | |
Bei den jungen Wählern war die Unterstützung für Europa mit 75 Prozent zwar | |
sehr stark, die Beteiligung aber blamabel niedrig: Während 75 Prozent der | |
älteren Wähler ihre Stimme abgaben, war es bei den unter 24-Jährigen nicht | |
einmal die Hälfte. | |
Letzten Endes war das Gesamtergebnis eine Illustration des Begriffs | |
„ideologische Hegemonie“. In den letzten Wochen der Kampagne – als 24 | |
Prozent der Wähler noch unentschieden waren – reiste ich viel herum und | |
erlebte vielerorts, wie Leute aus der Arbeiterklasse selbstbewusst und | |
intelligent für den Brexit plädierten. Mein Eindruck ist, dass die | |
entscheidenden Prozente der Leave-Stimmen von links orientierten Arbeitern | |
oder Angestellten kamen, die sich schließlich ihrer Umgebung anschlossen. | |
Nach diesem Schock für das bürgerliche Establishment basteln die Tories nun | |
verzweifelt an einer kohärenten Strategie. Wahrscheinlich werden sie sich | |
darauf einigen, innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu | |
verbleiben, also in der gemeinsamen Freihandelszone von EU und | |
Europäischer Freihandelsassoziation (Efta).[6]So müsste man die | |
Handelsbeziehungen mit der EU nicht völlig neu aushandeln. Allerdings | |
müsste man damit alle künftigen Regeländerungen der EU übernehmen, ohne | |
darüber mitreden zu können. Und man müsste auch das Prinzip der | |
Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren – wenn auch mit dem Recht, es im | |
Notfall zeitweise außer Kraft zu setzen. | |
Die Leave-Kampagne lehnte die EWR-Option wegen des Freizügigkeitsprinzips | |
ab. Aber selbst wenn Großbritannien im EWR bleiben sollte, wäre die | |
zentrale Voraussetzung der Politik der linken Mitte seit den frühen 1970er | |
Jahren – EU-Mitgliedschaft, Sozialcharta, eine immer engere Union – nicht | |
mehr gegeben. Die Labour-Partei muss sich entgegen dieser neuen Realität | |
definieren – und es ist eine ungewisse Realität. Keine relevante Fraktion | |
der Finanzwelt will ökonomischen Nationalismus. Die Leave-Kräfte der Eliten | |
reden sich sogar ein, Großbritannien könnte zu einer ultraglobalen | |
Wirtschaftsmacht werden – eine Art großes Singapur, das zwischen den großen | |
Handelsblöcken manövriert. | |
## Das Vereinigte Königreich wird auseinanderbrechen | |
Das wird schiefgehen. Und wahrscheinlich wird sogar der Brexit selbst | |
schiefgehen. Er wird nicht weniger Inflation und die versprochenen höheren | |
Löhne bringen, das Finanzkapital wird offshore gehen, und die paar | |
Investitionen in die britische Industrie werden in die europäischen | |
Kerngebiete zurückfließen. Das alles wird die langfristigen | |
Wachstumsperspektiven drücken. Damit könnten auch die Verschuldung und die | |
Handelsbilanzdefizite so bedrohlich anwachsen, dass sie eine veritable | |
Kapitalflucht auslösen. | |
Zusätzlich droht auch die politische Lähmung. Beide traditionelle | |
politische Lager – der liberale Konservatismus und Labour – waren | |
historisch auf das Projekt EU fokussiert. Für beide lautet die | |
entscheidende Frage, was passiert, wenn der Brexit nicht bringt, was seine | |
Anhänger erhoffen. Die nationalistischen und fremdenfeindlichen Kräfte | |
sind durch ihren Sieg ja keinesfalls besänftigt. Seit dem 23. Juni häufen | |
sich die Übergriffe gegen die Lieblingsfeindgruppen der Rechten – Polen und | |
Muslime. Doch das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was wir erleben werden, | |
wenn die Wirtschaft in die Rezession abrutscht. | |
Mittlerweile gibt es eine gewisse Hysterie in der Mittelschicht: Petitionen | |
für ein zweites Referendum; Appelle an das Parlament, das Ergebnis zu | |
sabotieren; Hasstiraden in den sozialen Medien gegen die „ungebildete“ | |
weiße Arbeiterschicht; Hass auf die alte Generation bei den Jungen, von der | |
sich die Hälfte nicht die Mühe machte, abzustimmen, obwohl das Ergebnis | |
tiefgreifende Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben wird. | |
Derweil ist Schottland auf dem Rückzug aus dem Vereinigten Königreich. Was | |
bislang eine wahrscheinliche Perspektive innerhalb der nächsten zehn Jahre | |
war, ist jetzt eine sichere Entwicklung von drei Jahren. Es wird ein | |
zweites schottisches Referendum geben; und dann werden große Teile der | |
Labour-Anhänger, die 2014 für Großbritannien gestimmt haben, die | |
Unabhängigkeit wählen, damit Schottland in der EU bleibt. Das Vereinigte | |
Königreich wird auseinanderbrechen. | |
Wird es in nächster Zeit zu Wahlen kommen? Es ist keinesfalls sicher, dass | |
der künftige Parteichef der Konservativen das Unterhaus auflösen wird. Aber | |
es wird schwer sein, mit der EU ohne Wählerauftrag zu verhandeln. Wenn es | |
zu Wahlen kommt, hat auch Labour ein Problem: Der neu aufgeflammte Streit | |
der alten Blair-Fraktion mit der Gruppe um den Vorsitzenden Corbyn zeugt | |
von der selbstzerstörerischen Kurzsichtigkeit einer ganzen politischen | |
Generation. Angesichts der größten politischen Katastrophe ihres Lebens – | |
und der Chance, das Land aus dieser Katastrophe herauszuführen – fällt den | |
Labour-Abgeordneten nichts anderes ein, als sich gegenseitig zu bekämpfen. | |
Wenn es zu einer Wahl kommt, sollte Labour ein Wahlbündnis mit der | |
schottischen SNP, den walisischen Nationalisten der Plaid-Cymru-Partei und | |
den Grünen eingehen, um zu verhindern, dass die Ukip eine starke | |
parlamentarische Bastion aufbaut und dass erneut eine konservative | |
Regierung zustande kommt. | |
Der Preis für ein solches Wahlbündnis wird eine Verfassungsreform sein | |
müssen: die Einführung des Verhältniswahlrechts und ein Plan, der es | |
Schottland gestattet, das Vereinigte Königreich zu verlassen, ohne | |
ökonomisch erpresst zu werden, wie es die konservative Regierung und die | |
Bank of England 2014 angedroht hatten. Diese Drohung wirkt nunmehr – unter | |
Brexit-Bedingungen – genau umgekehrt: Wenn Schottland unabhängig wird, kann | |
es als Außenposten der EU auf der britischen Hauptinsel mit ausländischen | |
Investitionen sowohl im Finanzsektor als auch in der Industrie rechnen. | |
Derzeit fühlt es sich an, als sei das gesamte politische System und die | |
Gesellschaft Großbritanniens zweigeteilt: Symbolisiert wird die eine Hälfte | |
vom „white van man“, dem Handwerker mit geringem Bildungsgrad, der die | |
Nationalfahne am Fenster seines Lieferwagens hängen hat; die andere | |
Hälfte vom bärtigen Hipster, dessen Trips zur Vernissage nach Berlin und | |
zum Feiern nach Ibiza künftig infrage stehen und der seine kulturelle | |
Überlegenheit als progressiver Mensch und Antirassist, von der er stets | |
ausgegangen ist, jetzt bedroht sieht. | |
Für Labour bestand das strategische Problem bisher darin, diese beiden | |
soziologischen Stämme, verteilt auf vier Nationalitäten, irgendwie | |
zusammenzuhalten. Heute geht es darum, wie man die Werte von sozialer | |
Gerechtigkeit und Demokratie einer Bevölkerung nahebringen kann, die sich | |
in großer Ungewissheit bewegt. | |
Großbritannien hat sich schon einmal aus der Weltordnung verabschiedet – | |
1931, als es den Goldstandard aufgab und den Zusammenbruch der eigenen | |
Wirtschaft herbeiführte. Aber damals war die britische Gesellschaft noch | |
vereint, und der Konflikt zwischen rechts und links, zwischen Arbeiter und | |
Boss wurde innerhalb einer gemeinsamen kulturellen Tradition ausgetragen | |
und dadurch begrenzt. | |
Aber heute steht die ganze Gesellschaft vor einem Schritt ins Dunkle. Einen | |
ökonomischen Entwurf für ein Großbritannien jenseits der EU gibt es nicht – | |
wohl aber die hohe Wahrscheinlichkeit einer Rezession; sozial ist das Land | |
so im tiefsten Innern gespalten, dass es sich wie ein Kulturkampf anfühlt; | |
und mit Schottland auf dem Absprung geht das Vereinigte Königreich seiner | |
Auflösung entgegen. | |
Das älteste kapitalistische Gemeinwesen der Welt wird in zwei Teile | |
zerbrechen. Sein kulturelles Narrativ ist bereits zersplittert. Das ist das | |
Werk von David Cameron – unter Mithilfe einer Labour-Partei, die Krieg mit | |
sich selbst führt. Und einer jungen Generation, die sich so weit aus der | |
Politik verabschiedet hat, dass sie in diesem historischen Augenblick zur | |
Hälfte auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat. | |
1↑ Für die Möglichkeit von Einschränkungen hat sich vor allem die Regierung | |
in Berlin eingesetzt, wo die irrationale Angst vor dem „polnischen | |
Klempner“ umging. Die Beschränkung der Freizügigkeit galt auch für | |
Bulgarien und Rumänien, nachdem beide Länder Anfang 2007 der EU beigetreten | |
waren. Deutschland und Österreich waren die beiden Länder, die den | |
maximalen Zeitraum für diese Einschränkungen, nämlich sieben Jahre, voll | |
ausgenutzt haben. | |
2↑ news.bbc.co.uk/1/hi/uk_politics/2967318.stm. | |
3↑ | |
visual.ons.gov.uk/uk-perspectives-2016-international-migration-to-and-from- | |
the-uk. | |
4↑ „Jumping the shark“ meint den Zeitpunkt, an dem eine TV-Serie den | |
Scheitelpunkt der Einschaltquote überschritten hat und das Interesse des | |
Publikums abnimmt. | |
5↑ | |
lordashcroftpolls.com/wp-content/uploads/2016/06/How-the-UK-voted-Full-tabl | |
es-1.pdf. | |
6↑Zu Efta gehören noch Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz (die | |
das EWR-Abkommen aber nicht ratifiziert hat). | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
Paul Mason ist Wirtschaftsjournalist. Autor von: „Postkapitalismus. | |
Grundrisse einer kommenden Ökonomie“, Berlin (Suhrkamp) 2016. | |
© Le Monde diplomatique, London; für die deutsche Übersetzung Le Monde | |
diplomatique,Berlin | |
7 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Paul Mason | |
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