# taz.de -- Brexit-Folgen für Nordirland: Ohne Mauer geht es nicht | |
> Seit über 20 Jahren herrscht offiziell Frieden in Nordirland. Nun reißt | |
> der nahende Brexit alte Wunden wieder auf und sorgt für Unsicherheit. | |
Bild: Teil des Stadtbilds von Belfast: die Wandgemälde auf den „peace walls�… | |
BELFAST taz | Der Garten: ein Käfig. Betonfußboden, am Ende eine neun Meter | |
hohe Mauer aus Stein, Wellblech und Draht, an den Seiten und obendrüber | |
Metallgitter. Niemand sitzt hier gerne. | |
Der Garten gehört zu einem Reihenhaus in der Bombay Street im Westen der | |
nordirischen Hauptstadt Belfast. Die Mauer an seinem Ende ist die | |
sogenannte Friedenslinie; sie trennt die katholisch-nationalistischen | |
Stadtviertel Belfasts von den protestantisch-unionistischen rund um die | |
Shankill Road. | |
„Die Metallgitter schützen die Bewohner, falls jemand aus Richtung Shankill | |
Road eine Brandbombe über die Mauer werfen würde“, sagt Bill Rolston, der | |
bis zu seiner Pensionierung Professor für Soziologie an der Ulster | |
University war. Der 72-Jährige deutet auf ein Bild an der Giebelwand, es | |
zeigt brennende Häuser, darüber steht der Satz: „Bombay Street – Never | |
Again!“ Am 15. August 1969 griff eine Meute von der Shankill Road die | |
Bombay Street an, erzählt Rolston. „Sämtliche 63 Häuser gingen in Flammen | |
auf, die Bewohner mussten fliehen, sie verbrachten den Winter in Schulen, | |
Gemeindehallen und Wohnwagen.“ Sie bauten ihre Straße wieder auf, ohne | |
staatliche Hilfe. | |
Vor rund 20 Jahren trat das Belfaster Abkommen in Kraft, am Karfreitag 1998 | |
wurde es unterzeichnet und hat Nordirland einen relativen Frieden gebracht. | |
Aber eine Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen hat bisher kaum | |
stattgefunden. Das Misstrauen bleibt groß, in den Arbeitervierteln auf | |
beiden Seiten haben fast alle Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn | |
verloren. Mehr als 3.500 Menschen sind in dem Konflikt gestorben. | |
## Kommen neue Grenzkontrollstellen? | |
Zu diesen Zeiten will keiner zurück. Doch nun, wo der Brexit immer näher | |
rückt, reißt die täglich wachsende Ungewissheit alte Wunden auf. Da ist zum | |
Beispiel die Frage, was [1][mit der irisch-nordirischen Grenze], einer | |
kommenden EU-Außengrenze, passieren wird. Eigentlich, sind sich die | |
Verhandlungsführer Großbritanniens und der EU einig, soll sie offen | |
bleiben. Aber wie das praktisch aussieht, [2][ist immer noch nicht | |
geklärt]. Werden am Ende doch neue Grenzkontrollstellen eingerichtet, die | |
dann zu Anschlagszielen werden könnten? „Eine Auferstehung der Grenze mit | |
Kontrollen und allem Pipapo wäre fatal“, sagt Rolston. | |
Als das Belfaster Abkommen unterzeichnet wurde, trennten 24 Mauern die | |
protestantischen und katholischen Viertel Belfasts. Heute sind es über 40. | |
Die Fahrer der schwarzen Taxis, die Touristen zu den ehemaligen | |
Brennpunkten des Konflikts fahren, haben dicke Filzstifte bei sich, damit | |
sich die Besucher auf der Mauer verewigen können. | |
Rolston liest amüsiert eine Botschaft am Cupar Way auf der protestantischen | |
Seite vor: „Wir haben unsere Probleme gelöst. Warum könnt ihr das nicht | |
auch?“ Unterzeichnet ist die Nachricht von „Debbie, Tel Aviv“. | |
Belfasts Wandgemälde haben es längst in alle Reiseführer geschafft. Auf | |
protestantischer Seite gibt es sie seit 1908. Auf dem ersten Gemälde war | |
Wilhelm von Oranien zu sehen, der 1690 seinen katholischen Schwiegervater | |
Jakob II. in einer Schlacht besiegte und dadurch die protestantische | |
Thronfolge in Großbritannien sicherte. „King Billy“ ist nach wie vor ein | |
beliebtes Motiv. | |
Auf katholisch-nationalistischer Seite entstanden Wandgemälde erst im Zuge | |
eines Hungerstreiks, bei dem 1981 zehn politische Gefangene starben. | |
„Hunderte von Bildern entstanden in dieser Zeit“, sagt Bill Rolston. „Nach | |
dem Hungerstreik nahm Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, erstmals an | |
Wahlen zum Londoner Unterhaus teil, auch wenn sie die gewonnenen Sitze | |
nicht einnahmen. Die Partei warb mit Wandgemälden um Stimmen, denn sie sind | |
viel wirksamer als Wahlplakate.“ Inzwischen ist Sinn Féin stärkste Kraft | |
auf katholisch-nationalistischer Seite. | |
## Ein interkonfessionelles Gemälde | |
Rolstons Lieblingsbild befand sich auf der „International Wall“ an der | |
Falls Road, eine Nachbildung von Picassos „Guernica“. Da die Wandmalereien | |
je nach politischen Ereignissen aktualisiert, übermalt oder erneuert | |
werden, gibt es das Bild nicht mehr. Es war eine Ko-Produktion des | |
Katholiken Danny Devenny und des Protestanten Mark Ervine. | |
Devenny ist 64 Jahre alt. Er hat 15 Geschwister, die Familie wohnte in | |
einem Sozialbau an der Falls Road. Mit 16 ist Devenny der | |
Irisch-Republikanischen Armee (IRA) beigetreten. 1973 wurde er wegen eines | |
Banküberfalls zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. | |
Ervine, 45, ist im protestantisch-unionistischen Ost-Belfast aufgewachsen. | |
Sein Vater David Ervine war Mitglied der paramilitärischen Ulster Volunteer | |
Force (UVF) und ist 1975 wegen Sprengstoffanschlägen zu elf Jahren | |
Gefängnis verurteilt worden. Mark besuchte ihn jede Woche im | |
Gefangenenlager Long Kesh. Nach seiner Entlassung trat David Ervine der | |
Progressive Unionist Party bei, dem politischen Flügel der UVF. Später | |
wurde er Chef der Partei und war Ende der neunziger Jahre maßgeblich an den | |
Friedensverhandlungen beteiligt. | |
Devenny und Ervine hatten sich zufällig bei einem Fototermin kennengelernt. | |
Seitdem haben sie zahlreiche Wände gemeinsam bemalt – aber nur auf | |
katholischer Seite. „Ich könnte für Dannys Sicherheit in protestantischen | |
Vierteln nicht garantieren“, sagt Mark Ervine. In diesen Vierteln haben die | |
Anführer paramilitärischer Organisationen die Kontrolle über die Wände, | |
sagt Rolston. „Sie bestimmen, was gemalt werden darf, und das sind meistens | |
Darstellungen von Ruhmestaten ihrer Organisation.“ | |
## Eine demografische Zeitbombe | |
Gleichzeitig wachsen auf protestantisch-unionistischer Seite Angst und | |
Frust. „Die Unionisten fühlen sich als Verlierer des Friedensschlusses“, | |
sagt Rolston, „Sie mussten seit 1998 einige ihrer Privilegien aufgeben.“ | |
Außerdem ticke eine demografische Zeitbombe für sie: „2022 werden die | |
Katholiken in Nordirland in der Mehrheit sein.“ | |
Und das erhöht die Chancen bei einer Volksabstimmung über die Vereinigung | |
der Republik Irland mit Nordirland, die schon lange zu den Plänen von Sinn | |
Féin gehört. „Es gibt aber keine Garantie, dass alle Katholiken für ein | |
vereinigtes Irland stimmen“, schränkt Rolston ein. „Ein Fünftel von ihnen | |
beschreibt sich nicht als irisch oder britisch, sondern als nordirisch.“ | |
Wirtschaftlich hätte ein vereinigtes Irland einige Vorteile, glaubt | |
Rolston. „Kosten durch die Doppelung von Ämtern und Behörden würden | |
gesenkt.“ Im Gegenzug fielen Milliardensubventionen aus London für | |
Nordirland weg. Das könnte durch das im Vergleich zu Nordirland dreimal so | |
hohe BIP der Republik Irland aufgefangen werden, glaubt Rolston. „Viele | |
radikalere Unionisten sind jedoch lieber arm im Vereinigten Königreich als | |
reich in einem vereinigten Irland. Emotionen und Identität spielen eine | |
große Rolle.“ | |
In diesem Zusammenhang spielt auch der Brexit wieder eine Rolle. „Eine | |
Reihe von gemäßigten Unionisten würden für ein vereinigtes Irland stimmen�… | |
sagt Rolston. „Noch vor fünf oder sechs Jahren wäre das undenkbar gewesen. | |
Aber der Brexit hat einige zum Nachdenken bewogen.“ Sie wollen vielleicht | |
kein vereinigtes Irland, aber noch weniger wollen sie die EU verlassen. | |
„Manche möchten im europäischen Ausland studieren oder arbeiten“, sagt er | |
„Müssen sie dann internationale Studiengebühren zahlen oder eine | |
Arbeitserlaubnis beantragen?“ | |
## Irische Pässe für Protestanten | |
Seit dem Brexit-Votum vor zwei Jahren sind 75.000 irische Pässe in | |
Nordirland ausgestellt worden. „Das waren fast alles Protestanten, denn die | |
Katholiken hatten ja bereits irische Pässe“, sagt Rolston. In der Republik | |
Irland gibt es inzwischen die gleichgeschlechtliche Ehe, und seit dem | |
Referendum im Mai sind auch Abtreibungen möglich. In Nordirland ist beides | |
illegal. „Wen sollten etwa junge LGBTIQ-Menschen auf unionistischer Seite | |
wählen?“ | |
Eine Mitsprachemöglichkeit bei den Brexit-Verhandlungen haben die Nordiren | |
nicht, denn seit Januar 2017 liegen ihr Regionalparlament und die | |
Mehrparteienregierung auf Eis. Die großen Parteien beider Seiten, Sinn Féin | |
und die Democratic Unionist Party (DUP), haben sich zerstritten. | |
Vordergründig geht es um ein Projekt der DUP, mit dem Unternehmen und | |
Bauern animiert werden sollen, ihre Heizung auf erneuerbare Energien | |
umzustellen. Seitdem erhalten sie für jedes Pfund, das sie ausgeben, einen | |
Zuschuss. Je mehr man heizt, desto mehr Geld fließt. Es ist ein | |
Milliardengrab, bemängelt Sinn Féin. | |
Aber dahinter stecken tiefer sitzende Konflikte, sagt Rolston. Sinn Féin | |
beklagt den mangelnden Respekt. So sei etwa das Geld für die Förderung der | |
irischen Sprache gestrichen worden – dabei ging es nur um 50.000 Pfund. | |
„Die DUP kann sich hingegen zurücklehnen, sie sitzt auf Muttis Schoß in | |
Westminster, Theresa Mays Minderheitsregierung ist auf ihre Unterstützung | |
angewiesen“, sagt Rolston. „Aber wie lange wird sie noch ihren Einfluss bei | |
May für den Erhalt der Union geltend machen können?“ | |
21 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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