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# taz.de -- People’s Vote will den Brexit kippen: Wie ein Aufstand der Straße
> Großbritanniens Pro-EU-Lager zeigt machtvoll Präsenz. Das Ziel: Ein neues
> Brexit-Referendum. Aber die Mittel zum Ziel sind teils zweifelhaft.
Bild: 20. Oktober: klare Botschaften in London
Die Anti-Brexit-Demonstration in London am Samstag war die [1][größte
Massenkundgebung] in Großbritannien seit 2003. Damals gingen eine Million
Menschen gegen einen Angriff auf den Irak durch die Labour-Regierung von
Tony Blair auf die Straße – vergeblich, denn einen Monat später begann der
Krieg.
Heute sind die Rollen vertauscht. Das Blair-Lager ist entmachtet und
demonstriert gegen den Brexit. Die Macht bei Labour hat das linke Lager um
Jeremy Corbyn – 2003 war er Wortführer gegen den Krieg, am Samstag blieb er
zu Hause. Auf Londons Straßen wird nicht nur um Großbritanniens Verhältnis
zu Europa gerungen, sondern auch um das Selbstverständnis der britischen
Linken.
Die Kampagne für eine neue Volksabstimmung zum Brexit, ein „People’s Vote�…
wird vom zentristischen Blair-Flügel angeführt, der ansonsten in der
polarisierten britischen Politik kaum noch eine Rolle spielt. Deswegen
nimmt sie jetzt die Gestalt eines Aufstands der Straße an.
People’s Vote will das Brexit-Votum von 2016, als 52 Prozent der britischen
Wähler für den Austritt aus der EU stimmten, durch ein zweites Votum
rückgängig machen. Diese Kampagne begann, als Großbritanniens Regierung am
29. März 2017 nach einem Parlamentsbeschluss das zweijährige
EU-Austritts-Verfahren einleitete. Die Kampagnengruppe „Best for Britain“
entstand im April 2017. Danach arbeiteten einstige Größen wie Blairs
Ex-Sprecher Alastair Campbell, seine Ex-Minister Peter Mandelson, Andrew
Adonis und Marc Malloch-Brown, Tony Blair selbst und der ehemalige
Liberalenchef Nick Clegg das weitere Vorgehen aus.
## Parlamentarier mit Massendemo überzeugen
Der Lobby- und Protestkalender, an dessen Ende eine Großkundgebung stand,
kursiert in britischen Medien bereits seit dem Frühjahr 2018. Damals ging
man noch davon aus, dass die britische Regierung sich spätestens im Oktober
mit der EU über ein Austrittsabkommen einigen und dann die parlamentarische
Ratifizierung beginnen würde. Pünktlich dazu sollte eine
Massendemonstration die Parlamentarier davon überzeugen, das Abkommen
abzulehnen und stattdessen ein neues Referendum zu beschließen.
London erlebte am 19. Oktober also keine Spontankundgebung gegen das
Brexit-Chaos, und es stellt sich die Frage, ob dieses Chaos vielleicht Teil
der Kampagne ist. Tony Blair, Nick Clegg und andere betreiben beharrlich
Lobbyarbeit in Brüssel, um die EU davon zu überzeugen, dass der Brexit am
Ende gar nicht kommt und dass es sich daher gar nicht lohnt, Großbritannien
ein akzeptables Angebot zu machen. Die EU-Kommission ist zugleich der
größte Geldgeber der People’s-Vote-Lobbygruppe „European Movement“.
Somit von der EU mit gefördert, will People’s Vote als Nächstes die
britischen Parlamentarier mit einer gigantischen Postkartenaktion dazu
bringen, ein neues Referendum anzusetzen. „Write This Wrong“ – ein
Sprachkunstwerk, das sich ausspricht wie „Korrigieren Sie dieses Übel“ –
heißt die Aktion. Vorne auf den Karten steht „Brexit ist schon ein totaler
Mist geworden, der ganze Prozess geht schwer daneben, und es wird nur
schlimmer werden“, und hinten darf man unter der Überschrift „Als Ihr
Wähler verlange ich eine Volksabstimmung, weil …“ Gründe für ein zweites
Referendum nennen.
Da in britischen Meinungsumfragen Pro- und Anti-EU-Lager sich nach wie vor
fast die Waage halten, setzt People’s Vote auf eine Reihe von
Verfahrenstricks, um ein Referendum sicher zu gewinnen. Laut ihrer „Road
Map“ will die Kampagne das Stimmrecht auf EU-Bürger und Minderjährige ab 16
ausgeweitet sehen – damit wäre die Wählerschaft schon automatisch
EU-freundlicher als 2016. Manche Referendumsbefürworter erwägen auch eine
Volksabstimmung mit mehr als zwei möglichen Antworten.
Allerdings sind in den letzten Monaten politische Hürden aufgetaucht. Zum
einen ist Labour nicht, wie vorgesehen, auf einen Anti-Brexit-Kurs
eingeschwenkt. Der altlinke Flügel um Parteichef Jeremy Corbyn bleibt
EU-skeptisch, der Labour-Parteitag in Liverpool Ende September legte die
Partei nicht auf eine zweite Volksabstimmung fest. Aber eine
Parlamentsmehrheit für ein zweites Referendum gibt es nur, wenn Labour
geschlossen dafür stimmt.
## Eine der unsympathischsten Figuren
Zum Zweiten gibt es, anders als gedacht, noch keine Brexit-Vereinbarung
zwischen Großbritannien und der EU, die das Parlament ablehnen könnte. Es
ist also nicht klar, ob die Abgeordneten überhaupt die Gelegenheit
erhalten, über eine neue Volksabstimmung zu befinden. Die Regierung May
muss das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen zwar dem Parlament vorlegen,
auch wenn es kein Ergebnis gibt – aber was die Parlamentarier damit machen
dürfen, ist auch nach komplizierten Beschlüssen im Frühsommer nicht
eindeutig.
Viel wird von der Sitzungsleitung des Parlamentspräsidenten John Bercow
abhängen. Bercow ist ein konservativer Brexit-Gegner – also setzen
EU-Freunde auf ihn, dass er die Geschäftsordnung in ihrem Sinne auslegt.
Sein Problem: Bercow ist unbeliebt, eine unabhängige Untersuchung machte
ihm vergangene Woche schwere Mobbingvorwürfe, und mehrere weibliche
Abgeordnete fordern seinen Rücktritt. Dann aber könnte er durch einen
Brexit-Befürworter ersetzt werden.
Bislang will Bercow bis Sommer 2019 im Amt bleiben – am Ende hängt
Großbritanniens Zukunft in Europa womöglich vom Schicksal einer der
unsympathischsten Figuren der britischen Politik ab.
21 Oct 2018
## LINKS
[1] /Anti-Brexit-Demon-in-London/!5544590/
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
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Schwerpunkt Brexit
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