# taz.de -- Trauerkultur im Fußball: Dauerkarten sterben nicht | |
> Tod und Trauer gehören zum Fußball, denn Spielern, Trainern und Fans wird | |
> gedacht. Der Sport sorgt dafür, dass sich die Bestattungskultur | |
> verändert. | |
Bild: Gemeinsames Abschiednehmen, wie hier von Rolf Rüssmann, ist innerhalb vo… | |
„Ich komme ja eher vom Tod“, sagt Christa Becker. Soll heißen: Die Kölner | |
Ausstellungsmacherin hat sich mit dem Tod beschäftigt, sie wollte das Thema | |
auch mal humoristisch nehmen. Im Mai hat sie in Düsseldorf auf der | |
Bestattungsfachmesse eine Schau mit dem Titel „Abpfiff. Wenn der Fußball | |
Trauer trägt“ gezeigt. In einer Vitrine sind Plüschmaskottchen zu sehen, | |
die ins Grab gelegt werden können. | |
Fußballurnen werden ausgestellt, ein Themengrab, Eckfahnen mit den Symbolen | |
Kreuz, Öllampe, Rose und „R.I.P.“ – und als Highlight waren drei | |
Schalensitze zu sehen, auf denen schon ein Skelett Platz genommen hat. „Die | |
Fankleidung des Gerippes wird selbstverständlich regional angepasst und | |
zeigt die Farben eines Vereins“, wie es in der Broschüre heißt, die Becker | |
zusammengestellt hat. | |
Am Fußball fasziniert sie die „unendliche Vielfalt“, gerade, wenn es um | |
Trauerkultur geht: „Dass es Särge in Vereinsfarben gibt, wusste ich ja, | |
aber ein Bestatter hat mir gesagt, ich solle da mal reingucken: Die sind | |
mit Vereinsbettwäsche ausgelegt.“ | |
Carmen Mayer kommt eher vom Fußball, dabei ist die Berlinerin von Beruf | |
Trauerbegleiterin. Aber sie geht gerne ins Stadion, zum | |
Frauenbundesligisten Turbine Potsdam. Sie hat jetzt im Rahmen einer | |
Weiterbildung eine wissenschaftliche Arbeit „Wenn Fußball und Trauer | |
aufeinandertreffen“ vorgelegt. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit dem | |
Thema, und seit Kurzem ist sie [1][in einem Netzwerk dazu aktiv]. | |
## 90 Minuten von Trauer abschalten | |
„Ich bin selbst betroffen“, berichtet Mayer, wie sie zu ihrem Thema kam. | |
„2006 war ein entscheidendes Jahr: Mein Junge ist tot zur Welt gekommen. Im | |
Sommer 2006 war ja die WM in Deutschland. Da begann meine Leidenschaft für | |
das Thema. Ich hatte einen Untermieter aus der Schweiz, der die WM schaute. | |
Beim Zuschauen habe ich bemerkt, dass ich in meiner Trauer um meinen | |
verlorenen Sohn abschalten konnte: 90 Minuten lang. Auch die EM 2008, als | |
meine Tochter starb, erleichterte mir die Trauer.“ | |
Trauer im Fußball ist mehr als ein Schwarz-Weiß-Foto auf der Anzeigentafel | |
oder eine feierliche Ansprache, weil ein Altinternationaler des Vereins | |
gestorben ist. Es ist auch mehr als eine Fußballurne auf dem Fanfriedhof, | |
wie es in Gelsenkirchen bei Schalke und in Hamburg beim HSV einen gibt. „Es | |
gibt ja viel Trauer im Fußball, es ist einem vielleicht nur nicht so sehr | |
bewusst“, berichtet Mayer. | |
„[2][Es gibt die Schweigeminuten], Ultras veranstalten Choreografien, es | |
werden Statements verlesen, es gibt die schwarze Armbinde als Trauerflor. | |
Auch solche Dinge wie der Totenkopf auf schwarzem Grund in der | |
St.-Pauli-Flagge kann man dazuzählen. Auch die Nachrufe, die beim FC Union | |
verlesen werden. Dann gibt es Peter Plum, der sammelt und recherchiert, wie | |
verstorbene Bundesligaspieler zu Tode gekommen sind. Es gibt spontane | |
Trauerbekundungen – etwa im März, als Mainz beim BVB spielte, zwei | |
Dortmund-Fans einen Herzinfarkt erlitten und einer in der Kurve gestorben | |
ist.“ | |
Da wurde es sehr ruhig im Stadion, die Fans auf der Südtribüne rollten die | |
Transparente ein. Erst die Dortmunder, dann auch die Mainzer Fans wurden | |
leise, die Spieler auf dem Feld waren irritiert. Kurz vor Abpfiff sangen | |
alle zusammen „You’ll never walk alone“. „Ich habe so etwas noch nie | |
erlebt“, sagte BVB-Präsident Reinhard Rauball später. „Diese Bilder kann | |
man durch Worte nicht toppen.“ | |
## Mit dem toten Bruder im Stadion | |
Seit 2006 sammelt Carmen Mayer Material zum Thema Trauer und Fußball. „Auch | |
solche Berichte fand ich: Ein Eintracht-Fan, der immer mit seiner Frau ins | |
Stadion ging, und nun, nach ihrem Tod, sagt, er gehe immer ‚zu zweit ins | |
Stadion‘, in Gedanken mit ihr.“ Mayer erinnert auch an den Film „Das Spiel | |
ohne Ball“ von Alfred Behrens (2004): „Da geht es darum, wie er als | |
Fünfjähriger immer unter dem dicken Mantel des Bruders ins Stadion zu | |
Altona 93 in Hamburg geschmuggelt wurde, und der Bruder starb früh. Behrens | |
hat den Film gemacht, um seinem toten Bruder zu erzählen, wie es mit ihm | |
und seiner Fußballleidenschaft weitergegangen ist – ohne ihn.“ | |
Fußball kann bei Trauer helfen. Diese Erfahrung hat Carmen Mayer immer | |
wieder gemacht. Auch bei Profis. „Die frühere Nationalspielerin Inka Grings | |
hat nach zwei WM-Toren in der Presse verkündet, dass sie für ihren toten | |
Vater gesiegt hat.“ Als der Vater des früheren Bayern-Profis Pierre-Emile | |
Højbjerg starb, nannte er den Fußball „meine Medizin und Therapie“. | |
Und Jakub „Kuba“ Błaszczykowski, Ex-Profi bei Borussia Dortmund, hatte als | |
Zehnjähriger mitansehen müssen, wie sein Vater seine Mutter getötet hatte. | |
„Ich habe mich oft gefragt, ob ich das zugelassen hätte, wenn ich älter und | |
stärker gewesen wäre. Aber diese Konjunktivfragen bringen nichts. Es ist | |
wie im Fußball. Wenn du dir nach dem Spiel den Kopf zerbrichst, wie du in | |
einer bestimmten Situation reagiert hast, machst du dich wahnsinnig. Du | |
musst es akzeptieren.“ | |
Es gibt Vereine, die sich der Trauer offensiv stellen. Am deutlichsten der | |
Zweitligist Union Berlin. Stadionsprecher und Union-Geschäftsführer | |
Christian Arbeit verliest in der Halbzeitpause Nachrufe auf verstorbene | |
Fans. Das ist einmalig im Profifußball. Union verzichtet darauf, in der | |
Pause noch mit Kleinsponsoren Geld zu verdienen. „Diesen Platz füllen wir | |
mit uns selbst. Mit Union-Faninhalten“, hat Carmen Mayer in ihrer Arbeit | |
berichtet. | |
## Vielfalt der Trauer | |
Es sind „Minitrauerreden“, die er da hält, und die Reaktionen sind gut, und | |
bei Union gibt es wirklich bemerkenswerte Fälle. „Wir hatten am letzten | |
Spieltag der vergangenen Saison auch etwas sehr Interessantes“, berichtet | |
Arbeit. „Da hatten wir zwei Personen im Stadion, die im Grunde wussten, | |
dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr letztes Spiel sein wird, das sie | |
erleben können.“ Fußball hatte für sie „dann so was Hospizartiges, so ein | |
bisschen fast Sterbebegleitung. Und das ist natürlich auch eine rührende | |
Angelegenheit.“ | |
Gerade die Vielfalt der Trauer, die sich im Fußball zeigt – von der großen | |
Gedenkfeier für den Nationaltorwart nach dessen Suizid bis hin zum | |
Transparent für verunglückte Fans –, hat Christa Becker zu ihrer | |
Ausstellung inspiriert. Was Fans in einer Ausstellung merkwürdig finden | |
könnten, etwa, dass sie sich schon mal in einen Sarg mit Vereinsfarben | |
legen sollen, [3][ist bei Bestattern völlig normal], hat Becker | |
herausgefunden. „Die haben gar keine Berührungsängste mit dem Tod“, sagt | |
Christa Becker. | |
Fußball und Trauer zusammenzudenken war den Menschen, die den Umgang mit | |
dem Tod zu ihrem Beruf gemacht haben, völlig normal. Nur die anderen | |
Menschen verdrängen den Tod – auch Fußballfans. Dabei gibt es große | |
Gemeinsamkeiten. Christa Becker zitiert den Fußballhumoristen Arnd Zeigler, | |
der bei der Bestattermesse den Eröffnungsvortrag ihrer Ausstellung gehalten | |
hat: „Es ist die tiefe Emotionalität, die sich in beiden Bereichen findet.“ | |
Da müsse man sich nur die Tränen anschauen, wenn ein beliebter Profi sein | |
Abschiedsspiel für den Verein gibt. | |
Mayer und Becker sehen beide, dass der Fußball ein wesentlicher Teil der | |
Veränderung der Trauerkultur ist. Von einer „Demokratisierung“ des | |
öffentlichen Gedenkens spricht Becker. Mayer drückt es so aus: „Trauer ist | |
individueller und privater geworden in den vergangenen Jahren. Es gibt kaum | |
noch öffentliches Aufbahren, Bestattungen finden im engsten Familienkreis | |
statt, und das Leben des Verstorbenen wird mehr wertgeschätzt: Wenn der | |
Tote Fußballfan war, spielt das bei der Trauerfeier eine Rolle.“ | |
## Im Frauenfußball ist Trauer nicht so präsent | |
Vielleicht aber wird der Fußball auch nur stärker wahrgenommen. Christa | |
Becker zitiert auf einer Tafel in ihrer Ausstellung einen Kölner | |
Bestattungsunternehmer: „Im Beratungsgespräch entstand eine kleine Pause. | |
Und plötzlich fragte einer der Angehörigen: ‚Hör mol, dem sing Dauerkart, | |
wer kritt die eijentlich?‘“ | |
Die Berufsgruppen, die sich mit dem Sterben und dem Tod beschäftigen, | |
ziehen mit. Der Trend zu immer mehr Urnenbegräbnissen, die Abkehr von | |
großen Grabsteinen und das Aufkommen von Billigbestattern haben die Branche | |
aufgerüttelt, nach neuen Wegen zu suchen. In Köln auf dem Melaten, das ist | |
der größte und traditionsreichste Friedhof der Stadt, gibt es eine alte | |
Kapelle, erzählt Becker, „noch älter als der Melaten“. Da wollen die Köl… | |
Friedhofsgärtner bald ihre Ausstellung zeigen. Irgendwie wird der Tod | |
attraktiver. | |
„Interessanterweise ist das Thema Trauer im Frauenfußball nicht so präsent | |
wie bei den Männern“, sagt Carmen Mayer. Sie vermutet, dass es daran liegt, | |
dass es im Frauenfußball keine Ultras gibt, die für große Inszenierungen | |
sorgen. Bei Turbine Potsdam, ihrem Verein, hat es in den vergangenen Jahren | |
zwei Beerdigungen gegeben. Sie zitiert die Vorsitzende des Fanclubs | |
Turbinefans: Nach dem Tod eines sehr engagierten Fans stellte sich heraus, | |
dass der Mann sehr einsam war und nicht für eine Beerdigung gesorgt war. | |
Ein Armenbegräbnis, aufgebessert mit eingenommenen Spenden, wurde | |
organisiert, und alle waren sehr stolz, dass der damalige Cheftrainer Bernd | |
Schröder auch zur Beerdigung kam. „Wie der einen Kniefall macht vor dem | |
Grab, also wie von Brandt zu Warschau. Das war fantastisch“, berichtet die | |
Fanclubvorsitzende. „Das hat es auch noch mal bestätigt, dass Trauerarbeit | |
und Fußball Dinge sind, die sind ganz nah, also haben ganz, ganz viel | |
miteinander zu tun, weil es eine Fanfamilie ist.“ | |
## Singend am Grab | |
Fußball kann bei Trauer hilfreich sein. Christa Becker zitiert in ihrer | |
Ausstellung Rolf Rojek, den langjährigen Schalker Fanbeauftragten: „Am | |
besten wär et, wenn se um mein Grab rumstehen, alle inne Kutten, un wenn se | |
dann noch singen: ‚Steh auf, wenn du ein Schalker bist!‘“ | |
Und was treibt eine Frau wie Carmen Mayer an, die in jahrelanger Arbeit ein | |
Archiv zur Trauer im Fußball erarbeitet, die eine wissenschaftliche Arbeit | |
dazu vorgelegt hat und die jetzt ein Netzwerk zum Thema koordiniert? „Ich | |
wollte das auf jeden Fall machen, bevor ich sterbe. Das habe ich | |
geschafft.“ | |
30 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.trauerundfussball.de/ | |
[2] /EMtaz-Unsinn-der-Schweigeminute/!5314064 | |
[3] /Ein-Besuch-im-Bestattungsinstitut/!5303248 | |
## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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