# taz.de -- Todesfall im Hambacher Forst: Der Schock nach dem Absturz | |
> Niemand weiß, wie es weitergehen kann – ein Augenzeugenbericht aus dem | |
> Hambacher Forst nach dem tödlichen Sturz von Steffen Meyn. | |
Bild: Donnerstag im Hambacher Forst: Trauer um Steffen Meyn | |
HAMBACHER FORST taz | Am Donnerstagmorgen brennen überall Kerzen – an der | |
Mahnwache kurz vor dem Wald und seit dem Abend auch drinnen unter den | |
Baumhäusern. Die Menschen im Hambacher Wald befinden sich im Schockzustand. | |
Die [1][Tweets von @HambiBleibt] haben ein schwarzes Logo. Am Morgen läuft | |
ein [2][stummer Film, 30 Minuten lang,] leise Schwenks aus einem Baumhaus | |
über die Wipfel: „Hambacher Forst: Sonnenaufgang und Schweigen“. Der | |
News-Ticker ruht. | |
Am Mittwoch um 15.45 Uhr war Steffen Meyn [3][aus rund 20 Meter Höhe von | |
einem Baumhaus in den Tod gestürzt]. Ich war zufällig Augenzeuge. | |
Plötzlich war da so ein Krachen im Geäst, das da nicht hingehörte. Den Kopf | |
gedreht, da fällt etwas, nicht mehr als 20 Meter entfernt, waagerecht, | |
ausgestreckt. Was ist das? Eine Puppe, ein Dummy? Wahrscheinlich, so meine | |
späteren Gedanken, kam ich auf diese Vermutung, weil es keinen Schrei gab, | |
kein Armrudern, nichts. Dann der harte Aufschlag, auf den Rücken. Rundum | |
ein Atemzug Stille. Dann sofort Schreie „Hilfe, Sanitäter … Unfall … | |
Notarzt …“. | |
Rettungskräfte sind nach einer Minute da. Wiederbelebungsversuche. | |
Weggucken oder hingucken? Das kann doch alles nicht … Ein Sichtschutz | |
kommt. Eine Menschentraube aus Sicherheitskräften drumherum. Nach fast fünf | |
Minuten immer noch Wiederbelebungsversuche. | |
Aus dem Wald rundherum Entsetzensrufe, schrill und panisch. Knapp zwanzig | |
AktivistInnen kommen schreiend angelaufen. Wutreflexe: „Verpisst euch, | |
Bullen …, ihr Mörder, Mörder …“ Kurz danach verstummt alles. Die Schrei… | |
sitzen. Auch sie, so nahe dran, in Schockstarre. Eine Frau weint. | |
Dabei hatte der Tag so beschaulich begonnen. Am späten Vormittag lernte ich | |
die BewohnerInnen der Baumhaussiedlung „Kleingartenverein“ kennen. | |
Natürlich könne ich da mal eine Nacht schlafen, sagt der freundliche | |
„Moses“, charmante Idee, findet er, mal den Alltag bei permanenter | |
Räumungsdrohung zu dokumentieren. Schlafsack dabei, Isomatte? „Klar.“ – | |
„Willkommen!“ | |
## Hubschrauber kommt, Rettungswagen schon da | |
Mit Klettern, fragt Moses noch, ganz oben ins Baumhaus „RentnerInnenglück“? | |
Ich bin unschlüssig, lieber im halbhohen Haus, das mit Strickleitern | |
erreichbar ist. Oder doch klettern? Gerade gibt hier eine junge barbusige | |
Frau einen Kurs. Ein junges Paar macht das behände mit: „Ihr seid echt | |
gut“, lobt sie die beiden. Sie kommen, schon auf zehn Meter Höhe, ganz | |
bedächtig und vorsichtig wieder runter. Die beiden erzählen, sie wollten im | |
Wald einziehen. Ein paar Bäume weiter werden gerade unverdrossen zwei neue | |
Häuser gezimmert. Bis heute Abend, Moses. | |
An der Unglücksstelle ist der Abgestürzte mittlerweile im Notarztwagen. | |
Alle Räumungsaktivitäten sind abgebrochen. Überall Hektik und bedrückte | |
Gesichter, auch manche der Polizisten scheinen momentweise nicht so recht | |
zu wissen, wohin mit sich. Nach einer halben Stunde fliegt an der | |
Rodungskante ein Rettungshubschrauber ein. Gleichzeitig setzt sich der | |
Notarztwagen die vielleicht 300 Meter in Bewegung. | |
Absperrungen zählen kaum mehr. Neben mir gibt es jenseits der Einsatzkräfte | |
fünf andere mittlerweile registrierte Zeugen des „Vorfalls“, wie die | |
Polizei den Absturz ungewollt zynisch nennt. Der leitende Beamte einer | |
Hundertschaft aus Bochum bittet uns eindringlich, zu bleiben. | |
„Zeugenaussagen sind unmittelbar danach am wertvollsten. Wir müssen eine | |
Dienststelle suchen, die nicht am Einsatz hier beteiligt ist.“ Wegen der | |
Objektivität, dass es keinen Anlass zu Mauschelvorwürfen geben könne. | |
Leicht wird das nicht: Allein am Mittwoch waren Einheiten aus Bochum, | |
Gelsenkirchen, Essen, Aachen, aus Hamburg, Bayern, Baden-Württemberg und | |
andere vor Ort. | |
Unter den ZeugInnen ist auch eine sehr junge Berlinerin, die zehn Minuten | |
zuvor gleich daneben von einer Hubbühne in aller Ruhe ohne jeden Widerstand | |
heruntergeholt wurde, keine 30 Meter entfernt. Sie steht jetzt unter Schock | |
und braucht Betreuung. Ein Zeuge berichtet, er habe gesehen, wie ein | |
SEK-Mann, der bei der Räumung beteiligt war, unmittelbar vor dem | |
schrecklichen Absturz an Seilen gerüttelt habe, die zum Baumhaus hoch | |
gingen. Das ist ein Vorwurf, der kaum schwerer wiegen könnte. | |
Eine andere Zeugin, eine Fotojournalistin, berichtet von einer Situation | |
tags zuvor. Da habe ein Baumhausbewohner auf einer Holztraverse, | |
ungesichert hoch oben, gedroht zu springen, wenn die Einsatzkräfte nicht | |
abrückten. „Gleichzeitig wurde ein Stück weiter mit Motorsägen ungerührt | |
weitergemacht. Ich habe einem RWE-Mann gesagt, die sollten sofort damit | |
aufhören. Das triggert den doch nur.“ Der RWE-Mann habe nur geantwortet: | |
„Ach, springen – das sagen die doch immer alle …“ | |
## Der Hubschrauber steht. Was bedeutet das? | |
Der Hubschrauber steht immer noch da. Kann das ein gutes Zeichen sein? Nach | |
anderthalb Stunden, kurz vor 18 Uhr, fliegt er davon, Richtung Köln. Da | |
geht’s in die Uniklinik? Gleichzeitig kommt die Todesnachricht. [4][Steffen | |
Meyn, Journalist], sei seinen schweren Verletzungen erlegen. Neuer Schreck: | |
Steffen? Nein, der Steffen? | |
Ein paar Mal war ich Steffen im Forst begegnet, zuletzt am Beginn der | |
Räumungssaison. Und vor drei Tagen noch telefoniert. Markenzeichen war sein | |
rötlicher Bart, die zusammengeknoteten langen Haare mit dem kleinen | |
Pferdeschwänzchen hinten und die markante schwarze Brille. Immer war er mit | |
Helm und einer kleinen Helmkamera darauf unterwegs. Ein erfahrener, | |
umsichtiger Kletterer, sagen alle. Er lebte nicht im Wald, höchstens einmal | |
für eine Nacht zwischendurch, aber er war seit Jahren immer dabei. Ganz nah | |
dran, überall, für eine Langzeitdokumentation, wie er einmal erzählt hatte. | |
Deshalb war er am Mittwochnachmittag auch oben. Ein leiser, unaufgeregter | |
Mensch, immer sachlich, keiner der gebrüllt hätte gegen die Rodung, gegen | |
die Polizei. | |
Jeder im Wald kannte Steffen Meyn. In der Sache sicher einen von ihnen. 13 | |
Minuten vor seinem Sturz hatte er von oben einen letzten Film gepostet. Auf | |
seinem Twitteraccount nannte er sich „Regisseur/Künstler/Journalist“; sein | |
Name dort war, wie furchtbar, [5][Vergissmeynnicht]. | |
## Die Kommentare: trauernd, berechnend, zynisch | |
Bereits kurz nachdem die Nachricht vom Unfall in Internetplattformen | |
auftaucht, gibt es zahlreiche Beileidsbekundungen – aber auch geschmacklose | |
Kommentare. Manche machen auf Anhieb den Energiekonzern RWE für den Tod des | |
Mannes verantwortlich, andere die Polizei – noch ehe überhaupt geklärt ist, | |
was genau am Unglücksort vor sich gegangen war. Noch pietätloser: Offenbar | |
aus rechten Internetforen erstürmten Twitter-Bots und Trolle manche | |
Kommentarzeilen – und spotten über den Toten im Hambacher Forst. Wir | |
verzichten auf Zitate. | |
Nach fast zweieinhalb Stunden erklärt die Polizei, sie werde auf absehbare | |
Zeit die Zeugenbefragungen nicht mehr schaffen. Wir dürften gehen. | |
Mönchengladbach habe die Ermittlungen übernommen, aber aus unbekanntem | |
Grund, sagt der umsichtige Bochumer Einsatzleiter, schafften es die | |
Kollegen nicht in den Wald. Mönchengladbach ist 35 Kilometer Luftlinie | |
entfernt, mit Umweg wegen der riesigen Braunkohlelöcher einiges mehr. Wir | |
gehen. | |
Die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft laufen. Schnell war auf | |
ein paar fehlende Bretter auf der Traverse gleich neben dem Baumhaus | |
verwiesen worden. Ob die eingebrochen waren, ob das wirklich die genaue | |
Absturzstelle war, müssen die Untersuchungen zeigen. Die erste | |
Pressemitteilung der den Einsatz leitenden Aachener Polizei von Mittwoch, | |
18 Uhr, ist nachweislich unwahr: Zum Unglückszeitpunkt, heißt es da, | |
„fanden keine polizeilichen Maßnahmen in der Nähe der Unglücksstelle und am | |
genannten Baumhaus statt“. | |
Doch „Maßnahmen“ fanden sehr wohl in unmittelbarer Nähe statt. Der Tweet | |
steht dort immer noch und wird zitiert. Zumindest kühn ist die Aussage des | |
Aachener Polizeisprechers: „Es gab keinen Zusammenhang hinsichtlich der | |
Räumung.“ Immerhin sagte er noch, es werde „gegebenenfalls ein | |
Ermittlungsverfahren eingeleitet, wenn Fahrlässigkeit bestand“. | |
Gleichzeitig hat am Mittwoch der Arbeitsbühnen-Verleiher Gerken aus | |
Düsseldorf bekannt gegeben, seine Geräte aus dem Hambacher Forst ab sofort | |
abzuziehen. Man sei vom Auftraggeber vorher nicht über den geplanten | |
Einsatzzweck informiert gewesen. „Da auch wir mit der Vorgehensweise im | |
Hambacher Forst absolut nicht einverstanden waren und sind, haben wir heute | |
beschlossen, dass wir unsere Geräte dort stilllegen“, schreibt die | |
Gerken-Geschäftsleitung. | |
Bilder der feuerroten Gerken-Hubbühne waren am ersten Räumungstag um die | |
Welt gegangen. In den Tagen danach hatten Hambach-AktivistInnen dazu | |
aufgerufen, den beteiligten Drittfirmen per Mail die Meinung zu geigen. | |
Jetzt schreibt Gerken, man sei von anderen Kunden vielfach kritisiert | |
worden. Und: Man wisse um den Vertragsbruch und müsse halt „mit hohen | |
Regressansprüchen unseres Kunden“ rechnen. Diese Entscheidung war gut eine | |
Stunde vor dem Todessturz bekannt gegeben geworden. | |
Am Abend zurück im „Kleingartenverein“. Gut 20 Leute sitzen im großen Kre… | |
auf alten Holzbänken, auf Isomatten und dem ausgestreuten Stroh. Der | |
Versammlungsplatz unterhalb der Baumhäuser drumherum. Viele halten sich im | |
Arm. Gegenseitige Trostsuche. Einer streicht Erdnussbutterbrote vor sich | |
hin. Es ist still. Und wenn doch jemand ein Wort sagt in großer Ruhe, dann | |
flüsternd fast. Klar, Steffen Meyn kannten hier alle. „Der hat sich doch | |
immer vorbildlich gesichert …“ | |
„Hier ist sechs Jahre lang nichts passiert“, sagt einer, „sechs Jahre leb… | |
wir hier.“ Und dann: Erst brannte vergangene Woche direkt nebenan eine | |
Wiese, wo die Polizeiwagen standen. Endlich hatte da ein Wasserwerfer mal | |
einen sinnvollen Einsatz: Alles war zum Glück schnell gelöscht. Und jetzt | |
der Todessturz. „Passt nur auf“, sagt eine andere leise, „am Ende werden | |
sie uns dafür verantwortlich machen.“ | |
## Brüllen, schreien, schluchzen: Die Trauer sucht ein Ventil | |
Nebenan, keine dreißig Meter entfernt, steht mit laufendem Motor eine | |
Polizeiwanne und bewegt sich wie auf Pirsch auch mal ein paar Meter weiter. | |
Plötzlich brüllt eine Frau los und rennt drohend in Richtung Polizei: | |
„Verpisst euch, ihr Schweine. Lasst uns wenigstens in Ruhe trauern.“ Dann | |
bricht sie zusammen. Kauert auf dem Boden. Wut braucht ein Ventil. Sie | |
schluchzt und kriegt viel Trost von den anderen. | |
Keine Übernachtung hier. Das passt nicht mehr. | |
Niemand weiß, wie es weitergehen kann. Alle Räumungen sind [6][unmittelbar | |
nach Meyns Tod ausgesetzt]. Kann RWE einfach an einem Tag X sagen, heute | |
geht es wieder los – wir wollen doch ab dem 15. Oktober roden? Neustart vor | |
Steffens Beerdigung oder erst danach? Und was wird dann passieren? | |
In der Nacht auf Donnerstag war ein jahrelanger Aktivist, der schon vor | |
Tagen geräumt worden war und strafbewehrten Platzverweis hatte, in den Wald | |
zurückgekehrt und konnte einige Baumhausbewohner dazu überreden, bis auf | |
Weiteres herunterzukommen. Dann berichtet ein Augenzeuge noch, wie | |
„ekelhaft und unwürdig“ das Business as usual in der Nacht gewesen sei: | |
Kontrollen weiterhin, keinerlei Polizeirückzug, „keine Ruhe, Scheinwerfer | |
überall, die Generatoren liefen ununterbrochen“. | |
Immerhin, gestern durften erstmals seit über einer Woche wieder | |
SpaziergängerInnen in den Wald. Auch die Aktivisten gehen inzwischen von | |
einem Unfall aus. Freunde des Verstorbenen lehnen Schuldzuweisungen ab. | |
Grablichter flackern, Blumen sind abgelegt. Auf einem Holzschild steht: | |
„Zündet Eure Kerze, Singt Euer Lied! Zeigt ihm, dass hier niemand aufgibt!“ | |
Am Nachmittag [7][kommt per Twitter das „Angebot der Polizei] Aachen an | |
alle Personen im Hambacher Forst: Solltet ihr ein Baumhaus verlassen wollen | |
und benötigt dabei Unterstützung, könnt ihr euch an unseren Kontaktbeamten | |
wenden. Wir sind da, um euch zu helfen.“ Um 15.45 Uhr gibt es eine | |
Schweigeminute. Für den frühen Abend ist eine Trauerfeier an der Mahnwache | |
geplant. Für den wöchentlichen Waldspaziergang am kommenden Sonntag rechnen | |
die Organisatoren mit mindestens Zehntausend Menschen. | |
## Die Forderungen: Räumung stoppen, Besetzung beenden | |
In Düsseldorf übergeben am Donnerstag Mittag Umweltgruppen eine Liste mit | |
500.000 Unterschriften an die Landesregierung mit der Forderung, Räumungen | |
und Rodungsvorhaben sofort zu stoppen. Die Hambach-Aktivisten schreiben: | |
„Wir fordern die Polizei und RWE auf, den Wald sofort zu verlassen und | |
diesen gefährlichen Einsatz zu stoppen. Es dürfen keine weiteren | |
Menschenleben gefährdet werden.“ | |
Schon am Morgen hatte die Landesregierung ihre Forderungen gestellt: Die | |
BaumhausbewohnerInnen, so NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), sollten | |
jetzt freiwillig ihr Zuhause verlassen, „dann wäre ja gar kein Problem | |
mehr“. | |
Bis zum Nachmittag hat sich die Polizei bei mir wegen der Zeugenaussage | |
noch nicht gemeldet. Die Staatsanwaltschaft Aachen vermeldet gleichzeitig, | |
es lägen nach den bisherigen übereinstimmenden Zeugenaussagen „keine | |
Anhaltspunkte für Fremdverschulden“ vor. Eine Obduktion des Leichnams ist | |
angeordnet. | |
20 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/hambibleibt?lang=de | |
[2] https://twitter.com/HambiBleibt/status/1042657717612011520 | |
[3] /Nach-Unfall-im-Hambacher-Forst/!5537059 | |
[4] /Tod-im-Hambacher-Forst/!5534584 | |
[5] https://twitter.com/Vergissmeynnic1?lang=de | |
[6] /Toedlicher-Sturz/!5537191 | |
[7] https://twitter.com/Polizei_NRW_AC/status/1042729357536645120 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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