| # taz.de -- Autor Till Raether über weiße alte Männer: „Privilegien änder… | |
| > Der Hamburger Autor Till Raether maßregelt alte weiße Männer, berichtete | |
| > von seinen Depressionen auf Twitter und schreibt Krimis, die politische | |
| > Fragen verhandeln. | |
| Bild: Findet Zuhören interessanter als Mitmischen: Till Raether | |
| taz: Auf welches Privileg der weißen alten Männer würden Sie am ehesten | |
| verzichten, Herr Raether? | |
| Till Raether: Wir hatten neulich eine Diskussion auf Facebook, da hatte | |
| eine Kollegin gezählt, wie viele Männer und wie viele Frauen in den großen | |
| Publikumszeitschriften vertreten sind. Es sind eigentlich immer mehr | |
| Männer, die die Debatten beherrschen durch Lautstärke und Quantität. Und | |
| dann kam das alte Argument, vor allem von Kollegen, es muss doch nach | |
| Qualität gehen. | |
| Zieht das? | |
| Ich glaube, dass es nicht nur mit Qualität zu tun hat, sondern auch mit | |
| alten Blickwinkeln. Ich fände viele verschiedene Perspektiven interessanter | |
| und mir persönlich würde es nichts ausmachen, wenn mir die Redaktion sagte: | |
| Wir haben jetzt schon genügend Texte von Männern im Heft. Aber das kann ich | |
| natürlich nur sagen, weil ich durch viele vorhergehende Privilegien einen | |
| Zustand erreicht habe, wo es auf einen Artikel mehr nicht ankommt. | |
| Letztlich ist es unmöglich, die Privilegien aus der eigenen Biographie | |
| herauszurechnen und deswegen finde ich es so interessant, sich damit zu | |
| beschäftigen. | |
| Das haben Sie in einem Text für die Süddeutsche Zeitung von den alten | |
| weißen Männern verlangt. | |
| Das Privileg aufzugeben, in den Debatten immer gleich mitmischen zu wollen | |
| – das fällt mir tatsächlich leicht. Weil ich – es hat eine Weile gedauert… | |
| festgestellt habe, dass Zuhören interessanter ist und dem Berufsbild des | |
| Journalisten mehr entspricht. | |
| Und wo würde es Ihnen weh tun? | |
| Es tut sofort weh, wenn es um Geld geht. Ich glaube, dass es schwierig | |
| wird, sobald man glaubt, man hätte etwas durch die eigenen Verdienste | |
| verdient. Wenn es um Schauspielerinnen und Schauspieler geht, die in der | |
| selben Fernsehserie spielen und die männlichen Kollegen kriegen pro Folge | |
| eine Million und sie nur 400.000: Ist das Ziel dann, dass die Männer auf | |
| ihr Honorar verzichten, damit alle gleich viel bekommen oder ist das Ziel, | |
| dass alle eine Million bekommen? | |
| In Norwegen hat die männliche Fußball-Nationalmannschaft auf Werbeeinnahmen | |
| verzichtet, sodass alle gleich viel bekommen. | |
| Ich finde auch, dass das der richtige Weg wäre. Zugleich finde ich es | |
| erstaunlich, dass das Gespräch dann sehr schnell um Verzicht geht. Beim | |
| Gender-Pay-Gap zum Beispiel geht es gar nicht darum, dass künftig alle | |
| Männer weniger verdienen. Die Privilegien sind ja etwas, was man irgendwann | |
| on top bekommen hat, etwas, was einem ohne eigenes Verdienst als | |
| Angehöriger einer Kultur, in die man hineingeboren wird, in den Schoß | |
| fällt. | |
| Wie kam es überhaupt zu diesem Text? | |
| Diese Redewendung der weißen alten Männer kenne ich noch aus meiner | |
| Unizeit, als über Lehrpläne und Kanon diskutiert wurde. Ich verstehe sie | |
| so, dass damit deskriptiv eine bestimmte Tradition gemeint ist. Inzwischen, | |
| wo ich mit quasi 50 Jahren anfange, auch demographisch zu dieser Gruppe zu | |
| gehören, habe ich mich gewundert, dass es in öffentlichen Diskussionen als | |
| so beleidigend empfunden wird. | |
| Wie empfinden Sie es? | |
| Als deskriptiv. Ich empfinde es als sehr ermüdend, immer wieder diesen | |
| Diskussionen um umgekehrten Rassismus und umgekehrten Sexismus zu folgen, | |
| die so abseits allen Nachdenkens über strukturelle Benachteiligung | |
| stattfinden. Da wird dann gesagt: „Ein Festival nur für Frauen, das ist | |
| sexistisch.“ Oder: „Zu sagen, Deutschland ist rassistisch geprägt, ist | |
| selbst rassistisch, weil nicht alle Deutschen Rassisten sind.“ | |
| Sie haben viel Prügel für den Text bezogen. Gab es darunter auch | |
| Widerspruch, den Sie bedenkenswert fanden? | |
| Im Text steht eigentlich nichts Neues. Alles, was ich über strukturellen | |
| Rassismus sage, schreiben Persons of Color und Autorinnen mit anderen | |
| Hintergründen seit Jahren. Und plötzlich gibt es mehr Aufsehen, weil es nun | |
| ein alter weißer Mann sagt. Dieses Privileg im Privileg habe ich im Text | |
| nur angedeutet. Das Zweite betrifft den Vorwurf aus der, vereinfacht | |
| gesagt, eher rechten Ecke, der Text sei selber rassistisch, weil ich Weiße | |
| auf ihre Hautfarbe reduzierte – ich hätte deutlicher erklären müssen, dass | |
| man, wenn man heutzutage „weiß“ schreibt, sich nicht mehr auf ethnische | |
| Merkmale bezieht, sondern auf ein Set von kultureller Prägung und | |
| wirtschaftlichen und geographischen Privilegien. Darum war es relativ | |
| einfach für, ich sage mal, Trolle, den Text anzugreifen. | |
| Sie selbst haben eine bestimmte Art von Verletzlichkeit gezeigt, als Sie | |
| auf Twitter ein Antidepressivum nannten, das Sie nehmen. Wie programmatisch | |
| war es, das öffentlich zu machen? | |
| Mir ist klar geworden, dass Twitter ein Raum ist, in dem viele Leute sich | |
| über Depressionen austauschen. Es hat mir geholfen, mich mehr und | |
| konstruktiver mit dem Thema Depression auseinanderzusetzen, wenn ich | |
| registriert habe, wer sich alles noch damit rumplagt und ich möchte, dass | |
| Leute die Möglichkeit haben, mich darauf anzusprechen. Die Krankenkasse | |
| weiß es sowieso. | |
| Sind Sie nach der politischen Diskussion jetzt wieder in die Krimiwelt | |
| eingetaucht? | |
| Für mich hängen die beiden Sachen eng zusammen. Ich habe vor fünf Jahren | |
| angefangen, Kriminalromane zu schreiben und würde nicht sagen, dass es auf | |
| den allerersten Blick politische Bücher sind. Aber mich haben von Anfang an | |
| Fragen interessiert wie: „Wie gucken wir als weiße Europäer und | |
| Europäerinnen auf andere Kulturen?“ – etwa in meinem ersten Krimi, wo es um | |
| den Ausbruch eines afrikanischen mutmaßlichen Virus auf einem | |
| Kreuzfahrtschiff geht. Wie vermeide ich da einen exotisierenden Blick, wie | |
| kann ich ihn aber gleichzeitig in der Geschichte spiegeln, wenn Personen im | |
| Buch ihn haben? Auch Männer-Frauen-Themen haben mich sehr beschäftigt. | |
| Früher war ein Journalist, der auch belletristisch schreibt, für beide | |
| Seiten nicht ernst zu nehmen. | |
| Sie dürfen nicht vergessen, ich bin vor knapp 20 Jahren nach Hamburg | |
| gekommen, um mit großer Begeisterung und voller Überzeugung für die | |
| Brigitte zu arbeiten. Aus der Sicht von Journalistenkollegen und | |
| -kolleginnen war ich ab dem Moment bestenfalls angreifbar. Mein Eindruck | |
| ist ein anderer: Ich kenne aus meiner Generation fast keinen Journalisten | |
| und keine Journalistin, die nicht einen angefangenen Roman in der Schublade | |
| haben. | |
| Was sagt einem das? Dass viele einem Irrtum unterliegen, was Literatur ist? | |
| Ich weiß nicht, ob das auch auf mich zutrifft – in jedem Fall glaube ich, | |
| dass, seitdem ich in diesem Beruf bin, also seit 25 Jahren, er gegenüber | |
| denen, die ihn ausüben, immer unfreundlicher und unwirtlicher geworden ist. | |
| Das Buch bietet eine Möglichkeit, daraus auszubrechen, indem es so viel | |
| mehr Autonomie verleiht. | |
| War es eine literarische Entscheidung, Krimiautor zu werden oder spukte da | |
| auch der Gedanke an die Verkäuflichkeit herum? | |
| Definitiv. Bei mir hatte es zwei Komponenten: Ich habe jahrelang immer | |
| wieder an Romanen geschrieben und es war, als hätte ich etwas nicht | |
| begriffen: Was sollen die Figuren machen? Dieses klassische Plotentwickeln | |
| für Leute, die nur völlig normal vor sich hin leben wollen, hat mich | |
| genervt und das hat man den Büchern wohl auch angemerkt. Die | |
| Genre-Literatur finde ich toll, weil sie so klare Regeln hat. Das war das | |
| eine. | |
| Und das andere? | |
| Ich war dankbar für die Aussicht, dass ein Kriminalroman eher Leser findet, | |
| weil Kriminalroman darauf steht und jede Leserin und jeder Leser weiß: | |
| Hoffentlich ist es ein bisschen ungewöhnlich, aber er wird zu 60 bis 70 | |
| Prozent dem Genre folgen, sonst hätten die das nicht draufgeschrieben. | |
| Wie kam es zu diesem Schritt? | |
| 2013 kam mein Literaturagent nach Hamburg, um sich mit mir darüber zu | |
| unterhalten, wie es weitergehen soll. Er hat mir erklärt, warum es mit den | |
| heiteren Sachbüchern nicht mehr geht, und über die Romane mussten wir gar | |
| nicht mehr reden. Wir saßen in einem sehr lauten Restaurant und ich habe zu | |
| ihm gesagt: „Ich könnte es ja noch einmal mit einem Krimi versuchen.“ Er | |
| sagte: „Ja, Krimi wäre deine beste Option.“ | |
| Die beste? | |
| Als ich wieder in mein Büro kam, wurde mir klar, was er tatsächlich gesagt | |
| hat: „Ja, Krimi wäre deine letzte Option.“ Es hat mich aber auch ein | |
| bisschen beflügelt, nach dem Motto: Hey, jetzt ist es auch egal. Das hat | |
| mir geholfen, es für mich selbst zu einem Vergnügen zu machen. | |
| In Ihrem Regal liegt der Band „Profile sexueller Gewalttäter“ – ist das | |
| Vergnügen am Krimischreiben das Wandern an Abgründen entlang? | |
| Ich hadere sehr mit einer bestimmten Art von Gewaltverherrlichung im | |
| Kriminalroman. Ich finde zum Beispiel, dass das erste Kapitel von | |
| „Blutapfel“ zu brutal ist, dass da etwas mit mir durchgegangen ist. Im | |
| neuen Band wird eine Sonderkommission eingerichtet, die sich mit | |
| sexualisierter Gewalt beschäftigen soll. Da ist mir noch einmal klar | |
| geworden, dass ich es interessanter finde, wie so eine Kommission | |
| möglicherweise nur ein Feigenblatt in einer gesellschaftlichen Diskussion | |
| ist, als über kriminologische Erkenntnisse zu schreiben. | |
| Zu den gesellschaftlichen Debatten: Geht die um Privilegien-Wahrung noch | |
| weiter? | |
| Ich glaube, es ist noch lange nicht gegessen, die Dinge ändern sich sehr | |
| langsam und schleppend. Ich merke an mir so einen Überdruss, sogar als | |
| Leser. Ich will nicht mehr die Romane lesen über Männer in der Lebensmitte, | |
| die nicht so richtig wissen wohin und die noch einmal alles infrage | |
| stellen. Ich will sie auch nicht mehr im Fernsehen sehen, wenn sie einem | |
| die Welt erklären. | |
| Dürfen die alten weißen Männer dann nicht mehr mitschreiben? | |
| Doch, natürlich. Aber im Moment bekommen sie 60 bis 80 Prozent der gesamten | |
| Aufmerksamkeit. Ich habe vor einiger Zeit angefangen, gezielt andere | |
| Autorinnen und Autoren zu lesen und würde sagen, dass es etwas anderes ist, | |
| ob ein Zeitgenosse aus meiner Generation mit meinem bürgerlichen | |
| Hintergrund über Schuld schreibt als wenn es eine Autorin tut, die als Kind | |
| aus China in die USA emigriert ist und in der Rückschau auf die | |
| Kulturrevolution schreibt. Da ist nicht nur die Fallhöhe anders, auch der | |
| Referenzraum und die sprachlichen Bilder sind anders. | |
| Wenn das einzige Pfund, mit dem man wuchert, die eigene Biographie ist, ist | |
| die Geschichte auch irgendwann auserzählt. | |
| Die Autorin, Yiyun Li, von der ich eben sprach, schreibt nicht über ihre | |
| eigene Familiengeschichte. Das wird hochliterarisch, weil sie Dinge | |
| nachempfindet, die sie nicht selbst erlebt hat. Es muss auch keine | |
| Migrationsgeschichte sein. Eine andere Autorin, die mich total fasziniert, | |
| ist Shirley Jackson, die Schauerromane geschrieben hat mit Blickwinkeln und | |
| Interessen, die in meiner Welt nicht vorkommen. | |
| Zum Beispiel? | |
| Eine wahnsinnige Bedeutung von Vorgängen im Haushalt, viel Kochen, | |
| Handarbeit, Tätigkeiten, bei denen ich zehn Seiten vorher nicht wusste, | |
| dass man ihnen so viel Bedeutung geben kann. Die Frage ist dann nur, warum | |
| ich eigentlich noch schreibe. | |
| Für nicht-weiße, nicht-bürgerliche Menschen. | |
| Natürlich nicht, ich bin mein Publikum, wobei Männer nicht viel lesen. | |
| 17 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
| ## TAGS | |
| Krimi | |
| Gleichberechtigung | |
| Gender Pay Gap | |
| Krimis | |
| Alltagsrassismus | |
| Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Jonathan Franzen | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Sexismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Brief an einen alten weißen Freund: „Wir haben doch viel Glück gehabt“ | |
| Eine alte weiße Frau schreibt einen Brief an einen alten weißen Mann und | |
| Freund – der nach rechts driftet und den das Altmänner-Bashing nervt. | |
| Rhetorik der US-Rechten: Die Pornifizierung der Politik | |
| Linke in den USA sprechen über Pornografie höchstens als Problem. Die Neue | |
| Rechte hingegen versucht sie für Politik und Stimmenfang gezielt zu nutzen. | |
| Essay Diskussion um Integration: Linke in der Diskursfalle | |
| Viele Linke scheuen die Debatte über Probleme mit der Integration. Sie | |
| schaden damit der Demokratie und dem Kampf gegen Rechtsextremismus. | |
| Offener Brief der Rowohlt-Autoren: Für Holtzbrinck hoch brisant | |
| Nach dem kalten Abservieren der Rowohlt-Verlegerin Barbara Laugwitz empören | |
| sich jetzt viele Autoren. Für den Mutter-Konzern ist das ein Problem. | |
| Anne Wizorek über die Rolle von Hashtags: „Privilegien sind eine Droge“ | |
| Rassismus und Sexismus stecken in der DNA des Landes, sagt Anne Wizorek. | |
| Was bewirken da Kampagnen wie #aufschrei und #MeTwo? | |
| Pro und Contra zu #MenAreTrash: System gegen Individuum | |
| Unter dem Hashtag #MenAreTrash soll über strukturelle Gewalt diskutiert | |
| werden. Doch ist es okay, alle Männer als Abfall zu bezeichnen? |