# taz.de -- Olympiasieger Christian Schenk: Talfahrt eines Helden | |
> Christian Schenk gewinnt 1988 Olympiagold im Zehnkampf. Dann setzt er zum | |
> Sprung in ein neues Leben an – und landet in der Psychiatrie. | |
Bild: Ein Leistungsmensch durch und durch: Christian Schenk | |
Das ist die Geschichte eines großen Sportlers. Er war nicht nur ein | |
Kämpfer, wie so viele Leistungssportler, er war ein Zehnkämpfer. In | |
Erinnerung geblieben sind vor allem seine Luftnummern. Er sprang in einer | |
Technik, die man heute leider nicht mehr sieht. Christian Schenk ging im | |
Wälzer über die Latte. Er lief nur kurz an, stieß sich mit dem linken Bein | |
ab, riss das rechte katapultartig nach oben und kurbelte sich dann über die | |
Latte. In einem Mehrkampf sprang er einmal 2,27 Meter hoch. Was für eine | |
sensationelle Leistung! | |
Niemals sprang ein Zehnkämpfer in einem Wettkampf höher. So einer musste | |
ganz oben landen, logisch: Christian Schenk wurde 1988 Olympiasieger von | |
Seoul, ein Jahr vor dem großen Umbruch. Der Modellathlet, ein Siegfried des | |
Dekathlons, stand mit Vokuhila-Frisur auf dem Podium, murmelte die Namen | |
seiner besten Freunde, seiner Rostocker Clique, und war berauscht. | |
Einen höheren Berg als diesen sollte er nicht mehr erklimmen. Fortan konnte | |
es nur noch abwärts gehen für den Sportler vom SC Empor. Der Mann, der in | |
diesem Moment der König der Leichtathletik war, gewann keine Goldmedaille | |
mehr in einem großen Wettkampf. | |
Die einen nehmen den Abstieg als Lebensaufgabe an und kommen talwärts im | |
Alltag an, die anderen versuchen den Moment der Größe in einer | |
Endlosschleife zu durchleben, machen ihn zum Kernthema ihres Lebens, zum | |
ewigen Referenzpunkt. | |
## Liebte das Limit | |
Warum auch nicht, hatte sich doch in Südkorea ein Sportlerleben erfüllt, | |
ein Leben der Entbehrungen, der „Hörigkeit“, wie Christian Schenk in seinem | |
am Montag erscheinenden Buch „Riss“ erzählt, aber auch ein Leben, das sich | |
irgendwie richtig anfühlte für ihn: „Ich musste mich nie überwinden. Ich | |
konnte nicht genug bekommen. Ich liebte es, mich zu bewegen. Ich liebte es, | |
mich zu verausgaben, bis der Punkt erreicht war, an dem ich nicht mehr | |
konnte, bis ich das Limit spürte.“ | |
Schenk schreibt in seinem Buch, das er mit dem Koautor Fred Sellin verfasst | |
hat, an einer Familiengeschichte, die durchaus konkurrieren kann mit den | |
großen DDR-Geschichten der Familien Havemann, Brasch oder Henselmann. | |
Der Vater, auch er ein Sporttalent, arbeitet sich vom einfachen | |
Bäckergesellen hoch zum Arzt mit Einfluss. Er bekommt Zugang zu den | |
höchsten SED-Kreisen, wird Chef des Kulturbunds auf Usedom, verlässt die | |
Familie. Weil sich die zweite Frau umbringt, kehrt er zurück zur Mutter von | |
Christian Schenk, als sei nichts geschehen. Vielleicht eine Direktive der | |
Partei, die ihm wie allen in diesem Land ein Korsett anlegte. | |
Der Vater schickt den Jungen, eine dürre „Speiche“, zum Turnen, später zur | |
Leichtathletik. Der Alte hatte als Kommunist Karriere gemacht, der Junge | |
steigt als Sportler auf, jedoch immer beargwöhnt vom überkritischen Vater, | |
der kaum zu Gesten der Zuneigung fähig ist. Egal was der Junge tut, es kann | |
nie genug sein. | |
## Beine plötzlich taub | |
Er wird Olympiasieger? Im Hürdenlauf hätte ich dich immer noch geschlagen, | |
sagt der Vater. Der Sohn, der so vieles richtig machen will, löst sich | |
schweren Herzens vom Medizinstudium? Der Vater spricht jahrelang nicht mehr | |
mit ihm. Er hinterlässt eine emotionale Leerstelle, die nach dem Mauerfall | |
größer und größer zu werden scheint. Es war eine Zeit der Möglichkeiten, | |
und der lebenshungrige Athlet, der bisher so ein braver Botschafter im | |
Trainingsanzug gewesen war, kostet sie auch aus. | |
Die Karriere ist allerdings 1993 vorbei, bezeichnenderweise bricht er beim | |
Training zusammen, seine Beine sind taub. Er kann sich nicht mehr aufrecht | |
in diesem Sportleben halten. „Die Wende veränderte alles. Auf einmal waren | |
wir Sportler nicht mehr die gefeierten Helden, sondern Begünstigte eines | |
verabscheuungswürdigen Systems. Staatsdiener, Marionetten. Lieblinge von | |
Honecker und Co.“ Auch ihn trifft der Hass, sein Auto wird zerkratzt. | |
Befand sich Christian Schenk in der DDR in einem Land, in dem für ihn | |
gedacht und gehandelt wurde, wo er in vielerlei Hinsicht, auch emotional, | |
eingehegt wurde, muss er nun mit einer gewissen Grenzenlosigkeit leben. | |
Grenzen, die auch für sein Ich niedergerissen werden. Er kommt damit nicht | |
so richtig klar, versucht sich zunächst im Fernsehen beim ZDF – und | |
scheitert, weil seine Ambitionen zu groß sind für diese TV-Anstalt. | |
Er verhält sich wie ein Getriebener, der immer wieder Anlauf nimmt, um | |
einen Punkt in der Vergangenheit zu erreichen. Seine Großspurigkeit, seine | |
„Hypomanie“ lebt er in der PR- und Marketingbranche aus, will als | |
ehemaliger Leistungssportler Teil der Leistungsgesellschaft sein, | |
„Repräsentationselite“, wie er sagt. | |
## Nach der Wende ratlos | |
„Ich muss immer Dienstleister sein, muss funktionieren, sympathisch wirken, | |
innovativ auftreten, das ist oft nicht leicht“, stöhnt er seinerzeit über | |
das zermürbende Multitasking. „Ich habe mich immer besser gefühlt, wenn ich | |
geführt wurde“, hat er dieser Tage in einem FAZ-Interview bekannt. | |
Schenk übernimmt sich. Hatte er schon in den 1990er Jahren an einer | |
„Entlastungsdepression“ gelitten, die er zum Burn-out umdeutete, so kommt | |
es nun schlimmer. Auf hypomanische Phasen folgt der depressive | |
Zusammenbruch. War der DDR-Zehnkampf-Schenk eine grandiose Figur, so wirkt | |
der Nachwende-Schenk verloren, rastlos. | |
Er schreibt: „Manchmal komme ich mir vor wie ein Akrobat, der unter einer | |
Zirkuskuppel Saltos schlägt, bis er irgendwann den Halt verliert und ins | |
Fangnetz stürzt.“ Er weiß, dass es ernst ist, sehr ernst, denn er verfängt | |
sich sogar im Netz eines paranoiden Wahns, als er glaubt, von Polizisten | |
verfolgt zu werden oder Anis Amri zu sein, der Attentäter vom Berliner | |
Breitscheidplatz. „Wenn man auf einer Briefmarke steht, um sich herum | |
nichts als Abgrund, verbessert man seine Lage nicht, indem man sich nach | |
vorn beugt und in die Tiefe schaut.“ | |
Was soll er tun? Der große Christian Schenk wird irre, kommt in die | |
Psychiatrie. Eine größere Demütigung ist kaum vorstellbar für einen wie | |
ihn, den Charmeur und Showman, der alle glauben machte, er könne | |
„gedanklich auf den Mond“ fliegen. Und nun? Absturz. Ganz unten. Tabletten: | |
Tavor, Cipralex, Valdoxan, Lithium. | |
## Teil des Dopingsystems | |
Sie sollen ihn wieder erden, zu seiner inneren Mitte führen. Es sind | |
unterstützende Mittel, so wie früher Oral-Turanibol ein unterstützendes | |
Mittel, allerdings ganz anderer Art, war. Das Anabolikum wurde in der DDR | |
von allen A-Kader-Athleten geschluckt. | |
Christian Schenk war Teil dieses [1][staatlichen Dopingsystems]. Er räumt | |
das in seinem Buch ein, nachdem er eine Beteiligung lange geleugnet oder | |
relativiert hat – und sogar einen West-Dopingarzt in einer Petition | |
unterstützte, damals in den 90ern. „Anfangs bestritt ich, jemals verbotene | |
Mittel eingenommen zu haben. Dann legte ich mir die juristisch etwas | |
weichere Antwort zurecht, ich hätte nie wissentlich gedopt. Beides war | |
gelogen. Ich habe gedopt, und ich wusste, dass ich dope“, bekennt er jetzt, | |
fast 30 Jahre nach der Wende. | |
Es ist eine sehr späte Einsicht, und man fragt sich, ob diese Inkonsequenz, | |
das Verleugnen des Offensichtlichen nicht auch dazu beigetragen haben, dass | |
er das mentale Gleichgewicht in der Luftnummer seines Nachwendelebens | |
verlor. Dass die Amplituden seines Verlorenseins immer stärker nach oben | |
und unten ausschlugen, weil er sich nicht der Wahrheit stellte. | |
Man konnte ja schon kurz nach dem Mauerfall im Buch „[2][Doping]. Von der | |
Forschung zum Betrug“ von Brigitte Berendonk nachlesen, dass Schenk die | |
blauen Pillen eingenommen hatte. 1983 fing es nach seiner eigener | |
Darstellung an. | |
## Sport war sein Leben | |
In den letzten Jahren hat er viel aufgearbeitet, die Krankheit war der | |
Motor seiner Introspektion. Er hat sich die Frage gestellt, ob womöglich | |
extrem leistungsorientierte Menschen zwangsläufig hypoman sind? Er hat aber | |
auch Ines Geipel die Frage gestellt, warum Anabolikakonsumenten fünfzehn | |
Jahre kürzer leben als andere. | |
Zuerst hat er sich im Brustton der Empörung bei der Vorsitzenden des | |
Dopingopfer-Hilfevereins gemeldet, aber dann ist ihm wohl klargeworden, was | |
dieses Sportsystem mit den Sportlern gemacht hat. Auch Christian Schenk | |
hätte wie einige seiner Kollegen früh sterben können; er überlebte eine | |
gefährliche Lungenembolie. In seinem Buch geht er darauf kaum ein, als | |
wolle er diesen dunklen Schatten nicht wahrhaben. | |
Ist der heute 53-Jährige also ein illegitimer Doping-Olympiasieger? Das | |
Internationale Olympische Komitee sagt Nein. Er darf seine Goldmedaille von | |
Seoul behalten, hat das IOC am Donnerstag verkündet. Es ist eine richtige, | |
eine gute Entscheidung. Sie ermöglicht es Christian Schenk, seine Würde als | |
Sportler zu wahren, seine Identität als olympischer Held. | |
„Jedes Training ging ich an wie einen Wettkampf. Nie war eine | |
Trainingseinheit banal, sondern immer wichtig. Und die, die ich gerade | |
absolvierte, war die allerwichtigste überhaupt.“ Der Sport war seine | |
Religion, schreibt er, „das Training mein Gebet. Es gab nichts, was | |
wichtiger war.“ Heute geht es um viel mehr: sein Leben. | |
1 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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