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# taz.de -- Kolumne Pressschlag: Flucht vor dem weißen Elefanten
> Das Dogma der Opfererzählung bleibt bei der Aufarbeitung der
> DDR-Dopinggeschichte heilig. Das Opfer dieser Deutung ist die Wahrheit.
Bild: Gehört zum Allgemeinwissen: das im DDR-Sport beliebte Anabolikum Oral Tu…
In der [1][Nacht vom 9. auf den 10. November] ist deutsche Geschichte immer
wieder konkret geworden. 1918 markierte dieses Datum die Ausrufung der
Republik, 1923 putschte Hitler. 1938 zündeten die Nazis Synagogen an. Und
1989 öffneten sich am 9. November die Schlagbäume zwischen Ost und West.
Die DDR ging unter und mit ihr der DDR-Leistungssport. Seitdem wird an der
Deutung dieses Kapitels, das dem Staatsplan 14.25 folgte, gearbeitet. Mit
diesem Staatsplan wurde das flächendeckende Doping in der DDR orchestriert.
In den 90er-Jahren wurden Trainer wegen Dopings Minderjähriger verurteilt.
Oral-Turinabol können heute auch weniger Sportinteressierte unfallfrei
aussprechen und als das benennen, was es ist: ein Anabolikum. Dank der
Dokumentationswut der Stasi und des Sportmedizinischen Dienstes der DDR
wurde Geschichte plastisch. Die Zentrale Ermittlungsstelle für
Regierungskriminalität, kurz ZERV, machte nach dem Mauerfall ihren Job
ebenso wie engagierte Antidopingkämpfer, die Dokumente aufstöberten.
So wurde es möglich, dass die Bundesregierung 2002 einen Topf füllte, aus
dem [2][Opfer des DDR-Dopings] entschädigt wurden. Damals meldeten sich
etwa 200 ehemalige Sportler, die 10.500 Euro überwiesen bekamen. Das war
eine verschwindend geringe Zahl im Vergleich zum Heer der Athleten, das
sich in den Kinder- und Jugendsportschulen drillen ließ und später den
blauen Adidas-Trainingsanzug trug.
Damals hieß es, die meisten Sportler lehnten es ab, sich ihrer eigenen
Geschichte zu stellen, sie verweigerten sich einer konkreten
Auseinandersetzung und leugneten damit auch körperliche Gebrechen, weil sie
das Risiko eines biografischen Resettings scheuten. Ihre Heldenerzählungen
wären zusammengeschnurrt zu Opfermonologen. Davon las man in jener Zeit
einige. Es waren mutige Berichte von Sportlern, die mit sich und der
Wahrheit gerungen hatten. Aber schon damals stand abseits dieser
skrupulösen Selbsterforschungen ein weißer Elefant im Raum.
## Fundiertes Wissen vom Betrug
Die zentrale Frage, der aus Pietätsgründen bislang immer ausgewichen wurde,
die aber heute so aktuell ist wie damals, lautet: Was wussten die
DDR-Athleten über Doping und die Folgen? Haben sie sich aus Karrieregründen
bewusst dafür entschieden? Gemeint sind nicht 15-jährige Schwimmerinnen
oder 17-jährige Leichtathleten, nein, im Fokus der Wahrheitssuche stehen
erwachsene Leistungssportler, die sich über Jahre im DDR-Sportsystem bewegt
haben.
Liegt es nicht auf der Hand, dass ein Großteil von ihnen nicht nur eine
Ahnung vom Betrug hatte, sondern ein fundiertes Wissen? Wer damals schon
für sich und sein Handeln Verantwortung übernahm, konnte der sich nicht
schlaumachen? Dass sich ein anderes Narrativ in den Medien verfestigt hat,
liegt an der [3][Geschichtsdeutung des Doping-Opfer-Hilfevereins (DOH)],
der, sein Name sagt es schon, am Dogma der Opfererzählung mit allen Mitteln
festhält.
Aus seiner Sicht handelt es sich bei ehemaligen DDR-Sportlern fast
ausnahmslos um unwissentlich Gedopte, die ob dieser Zwangsmaßnahme Traumata
und erhebliche Schäden davongetragen haben. Diese Sicht der Dinge hat
politische Erfolge ermöglicht. Das zweite Dopingopfer-Hilfegesetz ist ein
Beleg dafür. Den wohl 1.000 Antragstellern sei das Geld von Herzen gegönnt,
zumal die Folgeschäden der Oral-Turinabol-Einnahme bei Frauen extrem sind.
Aber viele Antragsteller wissen eben auch, dass Unwissen in ihrem Fall
extrem förderlich sein kann. Neues Opfer dieser interessengeleiteten
Geschichtsdeutung: die Wahrheit.
10 Nov 2018
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## AUTOREN
Markus Völker
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Doping
DDR
Opfer
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Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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Stasi
Dopingopfer
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