Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Doping in der DDR: Zweifelhafter Unschuldsmythos
> Ex-Trainer Henner Misersky wirft dem Dopingopfer-Hilfeverein vor, bei der
> Aufarbeitung des DDR-Dopings Geschichte zu klittern. Er wird verklagt.
Bild: Henner Misersky riskiert viel, um „Ungereimtheiten“ offenzulegen
Stützerbach taz | Vorbei am Erbskopf und dem Finsteren Loch führt eine
steile Serpentinenstraße hinunter nach Stützerbach. Unten im Tal wohnen
[1][Henrich „Henner“ Misersky] und seine Frau in einem liebevoll
renovierten Fachwerkhaus.
Kaum hat der Besucher die Klingel betätigt, öffnet der 79-Jährige auch
schon die Tür und geleitet den Gast ins Wohnzimmer, in dem an der Wand
bukolische Szenen eines Malers aus Utah hängen. Es sind Darstellungen einer
heilen Welt, und Misersky tut wohl gut daran, ab und zu auf das so schön im
Schnee spielende Kind zu schauen oder die auf einer grünen Wiese weidende
Kuh, denn er muss sich dieser Tage mit einer Sache beschäftigen, die den
Blutdruck schon mal in ungute Bereiche treiben kann.
Am Donnerstag wird eine Klage vor dem Landgericht Berlin gegen ihn
verhandelt. [2][Die Klägerin: Ines Geipel], ehemalige Leichtathletin des SC
Motor Jena. Gegen Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 250.000 Euro
oder ersatzweise einer Ordnungshaft von sechs Monaten wird ihm angedroht,
bestimmte Dinge nicht mehr in der Öffentlichkeit zu behaupten.
Grob gesagt, verbittet sich Geipel bestimmte Aussagen über ihre
Vergangenheit im DDR-Sport, die der Beklagte wiederum für wichtig und
legitim hält, weil sie seiner Meinung nach der Wahrheit entsprechen. Gegen
Zahlung von gut 800 Euro hätte sich Misersky fügen können, aber das wollte
er nicht. „Ich lasse mich doch nicht mundtot machen“, sagt er kämpferisch.
Henner Misersky redet lang, fast zwei Stunden, über den Fall und was ihn
sonst noch beschäftigt. Seine Frau Ilse unterstützt ihn manchmal, aber sie
hat es schwer, seinen Redefluß zu unterbrechen, zu engagiert ist ihr Mann
bei der Sache. Einmal hakt die frühere 800-Meter-Läuferin ein und sagt:
„Wir haben Ines Geipel ja lange Zeit bewundert für das, was sie leistet und
tut, wir hätten ja niemals gedacht, dass es soweit kommt.“ Vor zwei, drei
Jahren noch waren Henner Misersky und Ines Geipel Verbündete.
Sie zogen an einem Strang. Sie als Vorsitzendes des
Dopingopfer-Hilfevereins, kurz DOH, er als Gründungsmitglied dieses Vereins
und hervorragender Kenner der DDR-Sportszene in all ihren Details. Geipel
suchte immer wieder Rat bei Misersky, besuchte ihn im Thüringer Wald,
nutzte auch seine Prominenz als Mitglied der Hall of Fame des deutschen
Sports. Es ging beiden um die gute Sache: die staatliche Entschädigung von
DDR-Dopingopfern, die in den 70er und 80er Jahren mit Anabolika vollgepumpt
wurden und heute unter Organschäden oder einem kaputten Rücken leiden.
## Doktrin des Zwangsdopings
Beide engagierten sich als Sachwalter eines Unrechts, das im
wiedervereinigten Deutschland mit ein paar Tausend Euro zumindest ein
kleines bisschen wiedergutgemacht wurde. Geipel, 59, Professorin für
Versmaß an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin,
Schriftstellerin und gern gebuchte Ossi-Deuterin, betrieb die Geschäfte des
DOH im Stile einer Pressure Group mit aktivem Lobbying in den Medien und
der harten Verteidigung ihrer Narrative.
Das ist im Grunde Business as usual, wenn es nicht um Artefakte des
DDR-Sports ginge, die drohen, im Widerstreit der Interessen auf das Format
von Handschmeichlern gesandstrahlt zu werden. Der DOH präsentierte
regelmäßig [3][beeindruckende Opferzahlen], und das ging nur, wenn die
„Geipel-Doktrin“, wie Misersky sagt, eingehalten wurde. Das heißt: Im
DDR-Sport habe es flächendeckend, und auch im Bereich der Erwachsenen, ein
System des Zwangsdopings gegeben.
## „Sie nahmen die blauen Bohnen bewusst“
Mündige Athleten hätten also entweder nicht gewusst, was es mit den „blauen
Bohnen“, gemeint ist das Anabolikum Oral-Turinabol aus dem VEB Jenapharm
Jena, auf sich hatte, oder sie waren so in das System verstrickt, dass
ihnen die Einnahme aufgenötigt werden konnte. „Die Wirklichkeit ist viel,
viel komplexer“, sagt Misersky, „DDR-Sportler waren hochprivilegiert, und
viele wollten es bleiben, deswegen nahmen sie die blauen Bohnen bewusst,
manchmal sogar in Selbstmedikation.“
Angefangen hat sein Unbehagen, als die ehemalige Sprinterin und
Weitspringerin Heike Drechsler in die Hall of Fame des deutschen Sports
aufgenommen wurde und in einem Interview behauptete, „ungewolltes Doping“
nicht ausschließen zu können. Sie habe Oral-Turinabol [4][„nie wissentlich
und willentlich“] genommen, ließ sie wissen.
## Merkwürdigkeiten um Ines Geipel
Belegt ist, dass sie regelmäßig schluckte. Das Verbiegen der Wirklichkeit
erregte Misersky damals, ihn, der als Skilanglauf-Trainer in Oberhof 1985
Mädchen in seiner Gruppe, darunter seine Tochter Antje, keine Dopingmittel
geben wollte und deswegen von der DDR-Nomenklatura übel geschnitten wurde.
Er sprach mit Geipel über den Fall Drechsler, aber die beschwichtigte. Die
Frage stand im Raum: Darf man für die gute Sache die Geschichte klittern?
Nein, fand Misersky und fing an, als er merkte, dass sich Geipels
Abwehrreflex auswuchs zu einem „Kaltstellen“ und „Ausgrenzen“ seiner
Person, in Geipels Biographie zu graben. Er wollte wissen, mit wem er es
all die Jahre genau zu tun hatte. Hatte er sich womöglich in Ines Geipel
getäuscht?
Misersky forschte nach und fand seiner Meinung nach Merkwürdiges. Die
„Weltklasseathletin“, „Staffelweltrekordlerin“ – und bisweilen auch
„Olympiasiegerin“ -, als die sie in den Medien erscheint, hat nur zu einem
Staffel-Vereinsrekord des SC Motor Jena beigetragen, auf der ewigen
Bestenliste über 100 Meter erscheint sie lediglich auf Position 442,
weswegen er ihren Kaderstatus anzweifelt. Sie war Mitglied der SED, nahm
nachweislich Oral-Turinabol ein, war mit einem Schwerathleten verheiratet,
der auch dopte und bekam einen in der DDR sehr begehrten
Germanistik-Studienplatz. In Stasi-Unterlagen ist nachzulesen, dass sie bei
ihrem Trainer gezielt Dopingmittel nachfragte.
## Fragwürdige Opfererzählung
Misersky berichtet noch über allerhand andere „Ungereimtheiten“, die für
ihn ein untrügliches Zeichen sind, dass Ines Geipel die Realitäten im
DDR-Leistungssport ziemlich verzerrt darstellt; dass sie also bewusst
überdramatische und falsche Geschichten über ihre Vergangenheit im
DDR-Sport erzähle und nicht zufällig mit dieser Methode im DOH reüssierte.
„Ihre Opfererzählung halten auch andere Antidopingexperten wie Werner
Franke [5][für fragwürdig]“, sagt Misersky. Für ihn ist klar: Sie habe
genau gewusst, dass sie selbst gedopt hat und in ihrem Umfeld gedopt wurde.
„Die Wahrheit muss auf den Tisch“, fordert er. Dort steht jetzt aber erst
einmal das Mittagessen: Gemüseauflauf und zum Nachtisch Obstsalat. Henner
Miserskys Teller wird kalt. Er redet und redet. Er hat immer noch
Aufklärungsbedarf.
6 Feb 2020
## LINKS
[1] /Aufarbeitung-von-Doping-im-DDR-Sport/!5226714
[2] /Streit-im-Doping-Opfer-Hilfeverein/!5542572
[3] https://www.deutschlandfunk.de/dopingopfer-schluss-mit-der-opfer-politik.89…
[4] https://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/heike-drechsler-doping-finde-i…
[5] https://www.tagesspiegel.de/sport/handgreiflichkeiten-bei-doping-opfer-hilf…
## AUTOREN
Markus Völker
## TAGS
Doping
DDR
Doping im Spitzensport
DDR
Dopingopfer
Doping
Doping
Doping
Dopingopfer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Fall Geipel und Gesinnungskämpfe: Doping und Prawda
Mit der Wahrheit nimmt es DDR-Leistungssportlerin und Anti-Doping-Kämpferin
Ines Geipel nicht genau. Kritiker werden diskreditiert. Ein Gastbeitrag.
Streit um DDR-Sporterbe: Im Nebel der Geschichte
Einst gemeinsam unterwegs, treffen sich Henner Misersky und Ines Geipel vor
Gericht wieder – und der Ex-Trainer obsiegt in allen Punkten.
DDR-Staatsdoping: Nicht nur Opfer
Vor Gericht wird über die Lebensgeschichte einer Dopingopfer-Aktivistin
gestritten. Dabei wird auch die Rolle der Sportler im DDR-System
verhandelt.
Gesetz zur Dopingopferhilfe: Betrüger oder nur Betrogene?
Anti-Doping-Aktivisten kämpfen gegen das Dopingopferhilfegesetz. Ein
früherer DDR-Zehnkämpfer will sich entschädigen lassen.
Kolumne Pressschlag: Flucht vor dem weißen Elefanten
Das Dogma der Opfererzählung bleibt bei der Aufarbeitung der
DDR-Dopinggeschichte heilig. Das Opfer dieser Deutung ist die Wahrheit.
Streit im Doping-Opfer-Hilfeverein: Hilfe, Opfer!
Ines Geipel steht an der Spitze des Doping-Opfer-Hilfevereins. Mit Erfolg.
Doch einige Ex-Mitstreiter*innen wenden sich von ihr ab.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.