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# taz.de -- DDR-Staatsdoping: Nicht nur Opfer
> Vor Gericht wird über die Lebensgeschichte einer Dopingopfer-Aktivistin
> gestritten. Dabei wird auch die Rolle der Sportler im DDR-System
> verhandelt.
Bild: Betrüger oder Betrogener: Olympiasieger Christian Schenk wusste, was er …
BERLIN taz | Seit mehr als zweieinhalb Jahren gibt es heftige Kritik am
Doping-Opferhilfe-Verein (DOH), dessen Beratungsstelle kürzlich von
Berlin-Mitte in die ehemalige Stasi-Zentrale nach Berlin-Lichtenberg
umgezogen ist. Der Verein war 1999 gegründet worden, um sich für Opfer des
DDR-Dopings einzusetzen. Langjährige, dem Verein eng verbundene Experten
wie der Molekularbiologe Werner Franke oder der Sportlehrer Henner Misersky
[1][wandten sich im Jahr 2018 ab].
Sie werfen dem Verein und der von 2013 bis Ende 2018 amtierenden
Vorsitzenden Ines Geipel unter anderem vor, die Zahlen der DDR-Dopingopfer
in die Höhe zu treiben und von Spätfolgen des DDR-Dopings zu sprechen,
obwohl diese wissenschaftlich unzureichend begründet seien. Die
Auseinandersetzungen der Protagonisten beider Lager beschäftigen die Justiz
in Berlin bis heute.
Der eine Fall betraf eine Auseinandersetzung zwischen dem seit Dezember
2018 amtierenden DOH-Vorsitzenden Michael Lehner (66) und dem
Doping-Aufklärer Werner Franke (80). Bei einer Pressekonferenz des
Doping-Opferhilfe-Vereins im Haus der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur in Berlin im August 2019 wollte Lehner [2][mit körperlichem
Einsatz] den Zutritt von Franke zur Pressekonferenz verhindern.
Es kam zu Rangeleien. Wochen später stellte Jurist Lehner Strafanzeige
gegen Franke. Der Vorwurf: Körperverletzung. Nachdem das Amtsgericht
Berlin-Tiergarten zunächst einen Strafbefehl gegen Franke verhängt hatte,
stellte das Gericht nach einem Einspruch von Franke das Verfahren ein.
Dessen „etwaige Schuld“ wäre gering, öffentliches Interesse an der
Verfolgung bestehe nicht. Lehner erklärte auf Anfrage, er wolle die
Entscheidung des Gerichts nicht kritisieren.
## Überzogene Opferdarstellung
Der zweite Fall, der vor dem Landgericht Berlin landete, betrifft die
Auseinandersetzung zwischen Ines Geipel, damals noch Vorsitzende des DOH.
Diese hatte im Juni 2018 den Antidopingkämpfer Henner Misersky, der sich
bereits in der DDR als Skilanglauftrainer dem Staatsdopingsystem
verweigerte, verklagt, nachdem dieser Kritik an der Personalie Geipel
geäußert und Widersprüche in der Darstellung ihrer eigenen Biografie und
der von weiteren vermeintlichen Dopingopfern aufgezeigt hatte.
In fünf von insgesamt sieben konkreten Aussagen, die Ines Geipel ihrem
Kritiker Henner Misersky gerichtlich verbieten lassen wollte, entschied das
Landgericht Berlin inzwischen zugunsten von Misersky. In zwei noch nicht
abschließend geklärten Punkten, die die DDR-Biografie Geipels betreffen und
den von ihr beanspruchten politischen Opferstatus infrage stellen, steht
die Entscheidung des Berliner Kammergerichts noch aus.
Misersky war Gründungsmitglied des Doping-Opferhilfe-Vereins und wirkte bis
zu seinem Austritt wegen des völligen Vertrauensverlusts zur Vorsitzenden
im Mai 2018 als Experte im Beirat für Ethik. Der 79-jährige Trainer und
Hochschulsportlehrer war in den 1960er Jahren einer der besten
3.000-Meter-Hindernisläufer. Später war er erfolgreich als
Skilanglauftrainer im DDR-Sportclub Motor Zella-Mehlis tätig. Er und sein
Trainerkollege Helmut Rothämel lehnten konsequent die Vergabe des anabolen
Steroids Oral-Turinabol an junge, ausgewählte Kadersportlerinnen ab. 1985
wurde Misersky deshalb entlassen. Aus dieser Trainingsgruppe gingen später
fünf Olympiateilnehmerinnen hervor.
Misersky will zudem „nicht mehr die unbestätigte These tolerieren, die
heute immer noch verbreitet wird, es sei flächendeckend, unwissentlich
zwangsgedopt worden unter strengster Geheimhaltung“. Es sei Panikmache,
wenn heute behauptet wird, in das DDR-Vitaminpräparat Dynvital seien
männliche Steroide gemischt worden, weil es sich um ein harmloses
Getränkepulver handelt, das unkontrolliert verwendet wurde und für das es
keinerlei Absetzfristen gab. Auch nach der Wiedervereinigung habe es in
Trainingsstätten zur Verfügung gestanden.
Deshalb sieht er „bei der Mehrzahl von ehemaligen erwachsenen
DDR-Reisekader-Sportlern eine Mitverantwortung wegen der meist verordneten
Schweigeverpflichtung zur Einnahme von Dopingmitteln. „Auch durch die
obligatorischen Urin-Ausreisekontrollen zur Verschleierung des Dopings, um
bei internationalen Wettkämpfen nicht positiv getestet zu werden, war ihnen
bewusst, dass sie sich in ein System des organisierten Sportbetrugs
integriert hatten.“
Misersky ist zudem der festen Überzeugung, „auch aus eigener Erfahrung,
dass man als Trainer, Arzt, als erwachsener Athlet, definitiv Nein zum
Doping in der DDR sagen konnte“. „Ich habe es genauso getan als Athlet und
später als Trainer wie auch meine Tochter Antje als DDR-Meisterin im
Skilanglauf 1984 und 1985. Sie wurde 1992 in Albertville erste
gesamtdeutsche Olympiasiegerin im Frauen-Biathlon. Es gibt genügend
Beispiele von weiteren Trainern, Athleten und Medizinern, die sich in der
DDR ebenso dem Doping verweigert haben.“
## Unberechtigte Selbstentschuldung
Um so mehr ist ihm eine Differenzierung bei der Thematik wichtig. Er hält
es für eine Legende zu behaupten, dass einst gedopte, erwachsene
DDR-Sportler vornehmlich nur Opfer sein könnten. Der Fall des
[3][DDR-Zehnkampf-Olympiasiegers Christian Schenk] von 1988, der drei
Jahrzehnte später, im Jahr 2018 in seiner Autobiografie zugab, Dopingmittel
in der DDR eingenommen zu haben, und dies nach dem Mauerfall jahrelang
geleugnet hatte, sei nur ein Beispiel für diejenigen, die wissentlich
betrogen haben und sich Jahrzehnte später als Opfer darstellen und einen
Systemzwang zur Selbstentschuldung für ihr unfaires Verhalten vor sich
hertragen. Deshalb plädiert er gemeinsam mit seinem Mitstreiter Franke für
eine genaue Einzelfallprüfung unter Einbeziehung von Experten.
Bei der langjährigen Fürsprecherin und ehemaligen Vorsitzenden der
DDR-Dopingopfer, Ines Geipel, die Mitglied der SED war und bis 1985 als
Sprinterin im Sportclub Motor Jena aktiv gewesen ist, sieht Misersky
aufgrund intensiver Recherchen starke Anhaltspunkte für selbstbestimmtes,
wissentlich praktiziertes Doping unter dem Jenaer Sprinttrainer
Horst-Dieter Hille. Dies bestätigen auch mehrere Zeitzeugen.
Und auch Geipel, die an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst als
Professorin für deutsche Verssprache lehrt und [4][als Publizistin] zu
Themen der DDR-Geschichte erfolgreich ist, hat dies in einer Vernehmung im
Rahmen der Ermittlungen zum DDR-Doping Ende der 1990er Jahre so angegeben:
„Mir war, wie wahrscheinlich jedem anderen Sportler auch, von Anfang an
klar, dass die Tabletten ein Dopingmittel darstellen.“ Es handelte sich um
Oral-Turinabol.
Insofern stellt Misersky die Frage, wieso Geipel dann eine finanzielle
Entschädigung nach dem im Jahr 2002 verabschiedeten Dopingopferhilfe-Gesetz
erhalten habe, obwohl laut Gesetz nur Betroffene mit erheblichen
Körperschäden durch unwissentliches, gegen ihren Willen verabreichtes
Doping antragsberechtigt gewesen seien. Hinter den persönlichen
Auseinandersetzungen, die vor Berliner Gerichten gelandet sind, liegt ein
grundsätzlicher Streit über die Interpretation der Dopinggeschichte im
DDR-Sport.
7 Dec 2020
## LINKS
[1] /Streit-im-Doping-Opfer-Hilfeverein/!5542572
[2] /Aufarbeitung-der-DDR-Sportgeschichte/!5662748
[3] /Gesetz-zur-Dopingopferhilfe/!5548904
[4] /Umkaempfte-Zone-von-Ines-Geipel/!5583141
## AUTOREN
Thomas Purschke
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