Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Ausgehen und rumstehen: Dieselbe Straße, dieselbe Stadt
> Gerade hat unsere Autorin noch in einem Club getanzt. Nun trifft sie C.
> auf der Straße – weinend, aufgewühlt. Dann beginnt das Surren im Kopf.
Bild: Gewalt gegen Frauen kann auf dem täglichen Spaziergang passieren, im Bü…
An einem Sonntagmorgen in Moabit treffe ich sie an einer Straßenecke. In
meinen Ohren wummert noch der Bass, der die letzten Stunden auf mich
eingehämmert hat. Als ich C. erblicke, wird es schlagartig ruhig. Dann gibt
es nur noch ein gedämpftes Surren.
Eine Stunde zuvor ist C., 24 Jahre alt, an derselben Bahnhaltestelle wie
ich ausgestiegen. Sie ist auf ihrem Heimweg dieselbe Straße hinaufgelaufen,
hat in der Dunkelheit dieselben Läden passiert. Er kam aus dem Nichts, hat
sie gepackt und an eine Hauswand gedrückt. C. hat ihn abgewehrt, ihr Handy
gezückt, um die Polizei zu rufen. Er hat es ihr aus der Hand gerissen, ist
in die nächste Straße gerannt, sie hinterher. C. ist ihm bis zu ihm nach
Hause gefolgt, bis in den Hausflur. Sie wollte ihr Handy zurückhaben. Er
war viel schmächtiger als sie, und sie hatte ihn schon mal abgewehrt.
Sie fühlte sich sicher. Doch als er seine Haustür aufschließt und sie
hineinzerrt, ist sie gelähmt vor Angst und ihr Körper versteinert.
Später hat C. wieder an dieser Straßenecke gestanden, wo sie ihm begegnet
ist. Dort haben wir uns gefunden. „Wärst du mal eine Stunde früher
gekommen!“, sagt sie weinend, als wir bei ihr zu Hause sind. Vor einer
Stunde hatte ich in einem Club vor mich hin getanzt, wie Tausende Menschen
in Berlin.
## Alles schläft
Als die Polizei hinzukommt, wird C. gefragt, ob sie das Haus, in dem er
wohnt, wiedererkennen würde. Sie bejaht. Wir steigen in einen der zwei
Wagen, hinten wir mit einer Polizistin, vorne ihre drei Kollegen.
Die Polizisten öffnen ganz still mit einem Werkzeug die Haustüren auf der
Straße. C. soll sich die Treppenhäuser anschauen und eines wiedererkennen.
„Ich bleibe im Auto“, sage ich, weil das Surren in meinem Kopf schlimmer
wird. „Ist doch langweilig“, sagt der Polizist. „Kommen Sie mit.“ Gemei…
begutachten wir ein Treppenhaus nach dem anderen. In einem Flur hängt ein
Gemälde aus dem 19. Jahrhundert. Es ist grün und blau. Es zeigt ein Schiff
in den Weiten des Ozeans. Alles schläft friedlich. C. schüttelt den Kopf.
Das letzte Haus auf der Straße ist ein unscheinbarer, weißer Altbau mit
grauen Fensterrahmen. C. erkennt es wieder. Sie, die Polizistin und ich
setzen uns ins Auto. Die Polizisten beginnen, an die Türe zu hämmern, sie
rufen, er solle aufmachen. Doch nichts geschieht. Wir warten eine gefühlte
Ewigkeit, ohne ein Wort zu sagen. Eine nüchterne Frauenstimme ertönt
ununterbrochen im Polizeifunk: Sexuelle Belästigung auf der Kirchstraße.
Sexuelle Belästigung im Tiergarten. Das Opfer hat sich in den Tiefen des
Parks versteckt und wartet auf Hilfe.
## Es ist 11 Uhr, ich gehe ins Bett
Die Polizistin trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad und fummelt dann am
Lautstärkeregler. C. hingegen beobachtet unbeirrt das Geschehen auf der
Straße. Als Sonnenstrahlen ihr Gesicht treffen, zuckt sie kurz zusammen.
Das Hämmern und die Rufe draußen werden lauter, die gesamte Straße scheint
zu beben. Verschlafene Gesichter tauchen in Fenstern auf, ein Jogger tritt
durch eine Haustüre, wirft einen kurzen Blick in unser Auto und läuft los.
An diesem Sonntag wurde in Spandau ein Mensch mit einem Luftdruckgewehr
angeschossen. In Tempelhof ist ein Auto mit einem Krankenwagen
zusammengeprallt. Ein Kumpel hat in der Bar eine Frau kennengelernt, sie
haben geknutscht, er gehe nun mit ihr nach Hause, erzählt er mir am
Telefon. Es ist 11 Uhr und ich gehe ins Bett. Gegen das Surren stecke ich
mir Ohropax in die Ohren, doch es kommt nicht von draußen. Während mein
Kumpel vielleicht Sex hat und ich einschlafe, geht C. zur Arbeit. Sie hat
ihrem Chef erzählt, was passiert ist, doch er wollte ihr nicht freigeben.
Es sei zu viel los im Laden.
11 Sep 2018
## AUTOREN
Seyda Kurt
## TAGS
Gewalt gegen Frauen
Berlin
Kneipe
Gewalt gegen Frauen
Ausgehen und Rumstehen
Techno
Berlin-Neukölln
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Schweigen und Rauch
Wie vertreibt man sich die Nachweihnachtszeit? Mit vernebelten,
links-elitären Proklamationen in der heimatlichen Stammkneipe.
Messerattacken in Nürnberg: Polizei fasst mutmaßlichen Täter
In Nürnberg hat ein Mann drei Frauen schwer verletzt. Die Polizei hat einen
38-Jährigen verhaftet, der in zahlreichen Fällen vorbestraft ist.
Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Das perfekte Date dauert 60 Stunden
Nirgendwo lässt sich ein glücklicheres Wochenende verbringen als in Bar,
Badesee und Berghain. Bleibt nur die Frage: Gibt es auch langweilige
Elfmeter?
Kolumne Ausgehen und rumstehen: Zukunftsschock mit Schubumkehr
Kommt Techno aus Holland oder aus Detroit? Ab wann macht die Hitze Spaß?
Fragen und Antworten zum Auftritt von Model 500 im Berliner HAU
Kolumne Ausgehen und rumstehen: Samstag, Katertag, Nachmittag
Wenn niemand unsere Autorin durch die Neuköllner Nacht führt, ist sie
verwirrt von Berlin. Die Lösung: Niemals die Bibliothek verlassen!
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.