| # taz.de -- Kolumne Ausgehen und rumstehen: Samstag, Katertag, Nachmittag | |
| > Wenn niemand unsere Autorin durch die Neuköllner Nacht führt, ist sie | |
| > verwirrt von Berlin. Die Lösung: Niemals die Bibliothek verlassen! | |
| Bild: Eigentlich trinkt unsere Autorin gar nicht viel, Berlin macht sie betrunk… | |
| Es ist dieses Jahr bereits Sommer an Christi Himmelfahrt in Alt-Moabit. | |
| Hier wohne ich seit einem halben Jahr mit Blick auf einen kleinen Kanal, | |
| aber vor allem auf viel Beton im angrenzenden Gewerbegebiet Richtung | |
| Charlottenburg. Im Winter ist hier aus dem Fenster keine Menschenseele zu | |
| sehen, aber heute schwappen zum ersten Mal vom Kanalufer Stimmen und Musik | |
| in die Wohnung. Ich suche nach Ohrstöpseln. Die Nachbar*innen grillen auf | |
| dem Balkon, ich koche einen Eintopf. | |
| Freitagabend, ich treffe O. am Hermannplatz. Sie führt mich ins Aqua Vin | |
| Aqua auf der Weserstraße, wo es das beste Bœuf bourguignon der Stadt gebe, | |
| wie sie sagt. Ich verstehe kein Wort, und Vegetarierin bin ich auch, aber | |
| ich lasse mir von O. gern allerlei zeigen. | |
| Drei Weingläser später stoßen X. und Z. dazu. Wir ehemaligen Kölner*innen | |
| sind das Trio der Ahnungslosigkeit: was tun und wo? Aber zum Glück ist O. | |
| da, sie führt uns mit großer Leichtigkeit und ganz selbstverständlich durch | |
| die Neuköllner Nacht. 1. Station: Großartige Pommes auf der Sonnenallee. 2. | |
| Station: Loophole, Boddinstraße, plaudern und tanzen, Retrogott legt auf, | |
| fühlt sich an wie ein Stück Heimat. 3. Station: Closing Party der Morphin | |
| Bar, irgendwo im Hinterhof, zu betrunken, Warteschlange zu lang. | |
| Also lieber nach Hause. Ich mache noch ein Foto von O. mit der Rose, die | |
| ich ihr zum Dank und als Ausdruck meiner Bewunderung geschenkt habe. | |
| ## Zack, bitteschön | |
| Samstag, Katertag, Nachmittag: Ich laufe über die Turmstraße Richtung | |
| U-Bahn-Station, als die Menschenmenge immer größer wird. Allmählich merke | |
| ich, dass sie sich um Absperrungen sammeln, umgeben von unzähligen Polizei- | |
| und Feuerwehrwagen. Über dem abgesperrten Gebäude auf der überfüllten | |
| Einkaufsstraße steigt Rauch in den Himmel und beißender Gestank in meine | |
| Nase, ein Autoalarm kreischt. | |
| Ich bin gelähmt, bleibe stehen – nicht, weil ich das Geschehen beobachten | |
| will, sondern aus Angst vor dem, was an der nächsten Straßenecke lauern | |
| könnte. Hinter mir, vor dem türkischen Supermarkt, werden währenddessen im | |
| Sekundentakt Wassermelonen zerhackt und in die Welt entlassen, zack, | |
| bitteschön, zack. | |
| In der U9 pocht der Lärm noch in meinen Ohren, meine Augen brennen. Ein | |
| junger Mann rappt, ich beobachte verstört und fasziniert eine Frau, der es | |
| gelingt, trotz schräger Töne und wummerndem Bass Musik über ihre Kopfhörer | |
| zu genießen. Sie verzieht keine Miene – und liest dazu sogar Zeitung! | |
| Ich verstehe diese Stadt nicht, denke ich, sie hinterlässt in meinem Kopf | |
| nur Fragen. Ich kann ihre Dynamik nicht fassen, und ihre Wege begreife ich | |
| sowieso nicht. Warum muss ich etwa von Moabit erst einmal in den Norden | |
| nach Wedding fahren, um dann nach Mitte zu kommen, was sich doch | |
| fluglinientechnisch einfach zu meiner Rechten befindet? | |
| ## Wo alles seinen Platz hat | |
| Ich flüchte in die Festung: die Volkswagen-Universitätsbibliothek in der | |
| Fasanenstraße. Vier Stockwerke in sich geschlossene Kosmen, Buchdeckel an | |
| Buchdeckel die reine Übersicht und Klarheit, alles hat seinen Platz für die | |
| nächsten Jahrzehnte. | |
| Niemals werde ich diesen Ort verlassen, denke ich. V. fragt, ob wir uns im | |
| Toast Hawaii in Prenzlauer Berg treffen, ich sage nein, ich darf mich nicht | |
| zu sehr von der Bibliothek entfernen, sonst werde ich nervös. | |
| Dann gehe ich doch, weil mein Kater brummt, außerdem ist meine Freundin E. | |
| aus Köln in der Stadt, X. wird uns an diesem Abend mithilfe von Google Maps | |
| heldenhaft an die Museumsinsel und dann in die Bar Saint Jean in der | |
| Steinstraße führen. | |
| In der U8 von Wedding nach Mitte denke ich an die Nachricht, die Z. mir am | |
| Morgen schrieb: „Dass du in letzter Zeit immer so viel trinken musst!“ | |
| Dabei, so stelle ich fest, trinke ich nicht mehr als zuvor, diese Stadt | |
| macht mich nur schneller betrunken. | |
| 16 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Seyda Kurt | |
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