# taz.de -- Kolumne Ausgehen und rumstehen: Wenn die Luft nachts fett und warm … | |
> Tanzen, auf der Wiese liegen, Cola-Rum trinken. In solch schweren Zeiten | |
> durch Berlin flanieren – wird unsere Autorin zu einer „Toskanalinken“? | |
Bild: Es ist Sonntag, und ich schaue keinen „Tatort“ | |
Mein Freund T. mag keine Krimis. Die große Frage, sagt er, während er sein | |
Bier öffnet, sei doch nicht, wer der Mörder im „Tatort“ ist, sondern warum | |
Deutschland jeden Sonntag eine Leiche braucht. Jeden elenden Sonntag! Kein | |
„Tatort“ kommt ohne den obligatorischen Toten aus. Was verrät uns das über | |
dieses Land? Bisschen Voyeurismus, bisschen Blutdurst ist okay, aber halt | |
immer schön zur Primetime, damit vorher auch die letzten Graubrotreste vom | |
Tisch gefegt sind? | |
Keine Ahnung, wie wir darauf gekommen sind. Man sollte an einem warmen | |
Freitagabend in Berlin-Mitte vielleicht nicht allzu viel über Deutschland | |
nachdenken. Und über leicht muffige, identitätsstiftende Rituale. Ich tue | |
es trotzdem. Schließlich habe ich zum Abendessen die Rezeptkolumne aus dem | |
Zeit-Magazin nachgekocht, und wer das tut, hat sein Leben bedenklich gut im | |
Griff. Ist quasi mit Highspeed auf dem Weg in die freundliche | |
Bürgerlichkeit. | |
Außerdem kommen J. und ich gerade aus dem Roten Salon der Volksbühne, wo es | |
auch einiges nachzudenken gab. Bei der Diskussionsreihe „Pop und Identität“ | |
ging es diesmal um Musik mit totalitärem Anspruch, um nationalistischen | |
Rock, islamistischen Rap, um Künstler, die das kraftvolle Moment von Pop | |
gegen die Freiheitlichkeit wenden. Man redete über den Echo und Punks mit | |
Hakenkreuzen. | |
Warum aktuell – völlig zu Recht – ein Skandal um ein Rap-Duo entbrannt ist, | |
das zumindest zur Hälfte mächtig offensiv mit dem Antisemitismus flirtet, | |
aber im letzten Jahr kaum jemand Notiz davon genommen hat, dass mit Xavier | |
Naidoo ein astreiner Verschwörungstheoretiker die Echo-Verleihung moderiert | |
hat – diese Frage werden J. und ich wohl nicht mehr beantworten, während | |
wir nach der Veranstaltung die Torstraße hinunterlaufen, nein: | |
hinunterflanieren. | |
## „100 Zeilen Hass“-Kolumnen im Park | |
So richtig gut flanieren kann man nämlich dann, wenn die Luft noch nachts | |
fett und warm ist und sich die Straßen der eigenen Stadt zum ersten Mal im | |
Jahr wie eine Meerpromenade anfühlen. So wie heute. Urlaubsluft. Zu schön | |
für schwere Gedanken das alles. | |
Holen wir also T. ab, der keine Krimis mag, und gehen dorthin, wo die | |
Rock-’n’-Roll-Welt noch intakt ist, wenn auch nicht mehr lange: ins Bassy | |
am Senefelderplatz. Schwer zu glauben, dass dieser Club bald geschlossen | |
wird, aber vielleicht auch folgerichtig in unseren komplizierten Zeiten, | |
ist doch alles hier so wundervoll simplen Regeln unterworfen: Eine schwarze | |
Lederjacke ist das beste Kleidungsstück, das man tragen kann, drei Akkorde | |
sind im Zweifelsfall genug für einen Spitzensong, und Cola-Rum geht schon | |
in Ordnung, wenn man ihn nur mit einer Zigarette kombiniert. | |
Es ist die letzte Ausgabe der Partyreihe „Ballroom“, bevor das Bassy im | |
Sommer Geschichte sein wird, und als wir gehen, sind wir zum Glück | |
beschäftigt genug damit, unsere Augen an die Sonne zu gewöhnen, um keine | |
wehmütige Gesichter zu machen. | |
Am Sonntagabend tue ich das Beste, was man an einem Sonntagabend im | |
Frühsommer tun kann: Ich liege mit J. im Schöneberger Stadtpark, wir | |
trinken Brause und lesen uns gegenseitig „100 Zeilen Hass“-Kolumnen von | |
Maxim Biller vor, gesammelte Tiraden aus den späten Achtzigern bis | |
Neunzigern. Biller, der Deutschland häufig schmerzhaft gut versteht, | |
schreibt über „wachsweiche Toskanalinke“. | |
Bestimmt meint er damit Menschen, die ganz oft Rezepte aus dem Zeit-Magazin | |
kochen. Und ich frage mich, sacht beunruhigt: Bin ich auf dem Weg zur | |
Toskanalinken? Höchstwahrscheinlich. Aber immerhin: Es ist Sonntag, und ich | |
schaue keinen „Tatort“. | |
29 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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