# taz.de -- Musiktheater über Kolonialgeschichte: Bis auf die Knochen | |
> Die Band Kante und das Künstlerkollektiv Khoi Konnexion aus Südafrika | |
> erzählen beim Kampnagel-Sommerfestival von einer schmerzhaften geteilten | |
> Geschichte. | |
Bild: Mit Spiegeln und Morsecodes kommunzierten die deutschen Kolonialtruppen i… | |
Sie hören nicht auf, von der Decke und aus dem Kamin zu fallen. Immer | |
wieder landen Schädel und Knochen im Teig für die Pfannkuchen, die für den | |
Gast dieses unheimlichen Hauses irgendwo in der ockerfarbenen Sandwüste in | |
Namibia gebacken werden: einen Wanderer, der immer wieder lautstark | |
erklärt, nicht an Gespenster zu glauben. | |
In jeder Wand dieses „[1][Hauses der herabfallenden Knochen]“, von dem die | |
namibische Spoken-Word-Artistin Nesindano „Khoes“ Namises auf der | |
Kampnagel-Bühne so eindringlich wie in einem Schauermärchen erzählt, | |
stecken diese nicht zum Schweigen zu bringenden Gebeine. | |
Immer wieder rufen sie sich in Erinnerung, rastlos spuken die Geister der | |
Ahnen herum. Und nicht nur in diesem Märchenhaus, das nicht zufällig | |
irgendwie ans Hexenhaus erinnert, in dem Hänsels Fleisch bis auf die | |
Knochen abgenagt werden soll: Jedes Heim, wird Peter Thiessen, Sänger der | |
Hamburger Band Kante, am Ende dieses sagenhaften Abends singen, ist ein | |
„haunted house“, ein von Geistergeschichten heimgesuchtes Spukhaus. | |
Die Bühne für diese Geschichten, in denen Vergangenheit und Gegenwart | |
untrennbar miteinander verknüpft sind, auch sie ist zu Beginn ein Spukort. | |
Zu den sirrenden Klängen des einsaitigen Mundbogens – für das | |
Selbstverständnis der Khoisan im südlichen Afrika das wichtigste | |
traditionelle Musikinstrument – machen Theaternebelschwaden, die sich aus | |
Paketen und Kisten ergießen, die zu Beginn auf die Bühne getragen werden, | |
aus ihr einen Friedhof. | |
## Bühne für Geistergeschichten | |
Auf diesem Friedhof beginnen Kante gemeinsam mit Namises, dem | |
südafrikanischen Musikaktivistentrio [2][Khoi Konnexion] und dem | |
Theatermacher Nikola Duric von der postdramatischen Performancetruppe | |
Showcase Beat le Mot von Knochen zu erzählen – und von all den | |
(alb-)traumhaften Geschichten von Geistern, Chimären, Kolonialgewalt, | |
Schuld und Sühne, die die in ihnen steckenden Geister erzählen. | |
Es ist ein Friedhof, der sich über zwei Kontinente erstreckt. Denn die | |
Knochen der zwischen 1903 und 1908 von den Deutschen ermordeten Ovaherero | |
und Nama, so erzählt Namises ebenso kraftvoll poetisch wie unverblümt, | |
liegen nicht nur in Massengräbern ohne Grabsteine in Namibia begraben. | |
Tausende lagern in den Sammlungen der Berliner Charité und in den Schränken | |
von Forschungsinstituten in Freiburg, Frankfurt und Dresden. | |
## Schmerzhafte Vergangenheit | |
Dorthin verschifft wurden sie vor über 100 Jahren, um an ihnen | |
„Rasseforschung“ zu betreiben. Warum etwa die Nama sich so taktisch schlau | |
den deutschen Kolonialtruppen entgegenstellten: Das wollten die | |
rassistischen Forscher durch die Untersuchung der abgeschnittenen Schädel | |
und Gehirne von Nama-Offizieren herausfinden. | |
Es ist eine geteilte Geschichte, vor deren Hintergrund dieses | |
transkulturelle Musiktheater entstanden ist; eine Geschichte voller Gewalt, | |
Schmerz, Trauer, Verdrängung und Verkennung, die kaum miteinander geteilt, | |
zu wenig einander mitgeteilt wird. | |
Und die dennoch brennend aktuell ist: Seit März vergangenen Jahres wird vor | |
einem New Yorker Gericht eine Klage gegen die Bundesregierung verhandelt, | |
die sich bis heute weigert, sich für den von den Kolonialtruppen begangenen | |
Völkermord zu entschuldigen – oder ihn überhaupt als [3][Genozid | |
anzuerkennen]. Über 70 Prozent der Ovaherero und rund 10.000 Nama fielen | |
ihm zum Opfer, wurden in Konzentrationslagern ausgehungert, zu Tode | |
gefoltert und erhängt. | |
## Vielstimmige Erzählung | |
Eine Entschädigung hat Deutschland dafür nie gezahlt. Kommende Woche sollen | |
Schädel und Gebeine aus der Kolonialzeit an Namibia zurückgeben werden, | |
[4][aber es gibt Streit]: Die namibische Botschaft hat Kritiker wie den | |
Paramount Chief der Herero, Vekuii Rukoro, nicht eingeladen. Rukoro ist es, | |
der in New York gegen Deutschland klagt. | |
Eine historisch adäquate Aufarbeitung der grausamen Verbrechen aber will | |
„Das Haus der herabfallenden Knochen“ nicht leisten. Stattdessen haben alle | |
Beteiligten im Vorfeld auf zwei Reisen durch Namibia und Südafrika Märchen | |
und widerständige Geschichten gesammelt, sich auf die Spuren der in ihnen | |
anklingenden Motive begeben und sie in einer vielstimmigen Erzählung | |
zusammengefügt. | |
Denn in diesen Märchen und Volksmythen verknüpft sich die geteilte | |
Geschichte bereits lange bevor die Gebrüder Grimm die deutschen | |
Volksmärchen schriftlich fixierten. Mit den holländischen und | |
hugenottischen Siedlern waren auch Geschichten von Hexen und Drachen nach | |
Südafrika gekommen, mit den Missionaren und deutschen Kolonisatoren | |
gelangten sie nach Namibia. | |
Es sind wandernde Geschichten, die die Khoisan in das Repertoire ihrer | |
Erzählkultur aufnahmen, sie veränderten, umdeuteten und subversiv wendeten. | |
Für all diese Geschichten – von der explodierenden Schlange, dem Schakal | |
und dem Missionar oder eben vom Haus der herabfallenden Knochen – findet | |
der Abend im reduzierten, aber assoziationsreichen Bühnenbild der | |
Künstlerin Ruth May eine überzeugende Form: Mal poetisch, mal szenisch | |
verspielt und immer wieder in hinreißenden gemeinsamen Songs wird – auf | |
Deutsch, Englisch, Afrikaans und Nama – eine Geschichte erzählt, die kein | |
abgeschlossenes Ganzes, sondern ein zerklüftetes, fragiles Fraktal ergibt. | |
Es ist eine Geschichte, die Raum schafft für eine gegenwärtige Begegnung | |
auf Augenhöhe, die Möglichkeiten sucht, jenseits kolonialer Lasten einen | |
Weg aus der geteilten Vergangenheit in eine gemeinsame Zukunft zu finden. | |
Identitäten und Gewohnheiten sind nicht in Stein gemeißelt, das macht | |
dieser Abend immer wieder deutlich. Zu erleben ist hier ein Stück | |
aufrichtiger und lebendiger Erinnerungskultur. | |
24 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://www.haus-der-herabfallenden-knochen.de | |
[2] http://asai.co.za/artist/garth-erasmus/ | |
[3] /Koloniale-Objekte-und-Gerechtigkeit/!5509135 | |
[4] https://www.deutschlandfunk.de/geraubte-gebeine-aus-namibia-aerger-im-vorfe… | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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