| # taz.de -- Der Fall Mesut Özil: Deutscher Fußball gegen die Moderne | |
| > Özils Rücktritt verweist auf einen größeren Kontext. Die Modernisierung | |
| > des deutschen Fußballs geht immer mit massiver Kritik einher. | |
| Bild: Die Debatte um Özil reiht sich ein in eine lange Modernisierungskritik i… | |
| Antonio Rüdiger, der bei Chelsea FC spielt, [1][hat sich auf Twitter dafür | |
| bedankt], dass er an der Seite von Mesut Özil in der Nationalmannschaft | |
| wirken durfte: „Danke an einen der besten Fußballer, mit dem ich je | |
| zusammengespielt habe.“ | |
| Was Rüdiger weiß, ist das, was bei internationalen Fußballexperten | |
| unumstritten ist: Mesut Özil hat ein bemerkenswert feines Ballgefühl und | |
| kann mit seinen Pässen seine Mitspieler sensationell gut in Szene setzen – | |
| sofern diese die Qualität haben, Özils Gedanken zu lesen. Der | |
| deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sieht | |
| bei Özil „Pässe, die eher aus dem Nichts zu kommen scheinen als aus der | |
| epischen Tiefe des Raumes“. | |
| Das erinnert nicht zufällig an die berühmte Formulierung: „Netzer kam aus | |
| der Tiefe des Raumes“, von Karl-Heinz Bohrer. In den frühen siebziger | |
| Jahren, als die DFB-Elf 1972 Europa- und 1974 Weltmeister wurde, als mit | |
| Bayern München und Borussia Mönchengladbach gleich zwei Bundesligateams in | |
| die europäische Spitze aufrückten, erlebte der deutsche Fußball einen | |
| ersten Modernisierungsschub, eine Öffnung zu Entwicklungen in der Welt. Der | |
| Schriftsteller Walter Jens hatte dem wohl prägendsten deutschen Spieler | |
| dieser Zeit, Franz Beckenbauer, eine „undeutsche“ Spielweise attestiert – | |
| es war als Lob gemeint. | |
| „Undeutsch“, das Wort ist mit Mesut Özil wieder zurück auf dem | |
| Fußballplatz. Dass der Mittelfeldspieler aus Gelsenkirchen, der türkische | |
| Wurzeln hat und bei Arsenal FC unter Vertrag ist, die Hymne nicht mitsingt, | |
| ein bekennender Muslim ist, der auch schon in Mekka war und sich mit dem | |
| autokratischen Präsidenten der Türkei fotografieren ließ, wird ihm ähnlich | |
| vorgeworfen, wie dass er „undeutsch die Schultern hängen“ lasse, [2][wie | |
| Lorenz Maroldt im Tagesspiegel auflistete]. | |
| ## „Deutsche Tugenden“ | |
| Im Fußball ist gerne von den „deutschen Tugenden“ die Rede, die, gerade in | |
| sportlich schwierigeren Zeiten, die Nationalmannschaften wieder | |
| aufgerichtet hätten. Zuletzt haben sich Uli Hoeneß, Lothar Matthäus und | |
| Mario Basler dieses Argumentereservoirs bedient. Hoeneß nannte Özil einen | |
| „Alibikicker“, der seit Jahren „nur Dreck gespielt“ und keinen Zweikampf | |
| gewonnen habe. Matthäus attestierte Özil, er fühle sich im DFB-Trikot nicht | |
| wohl, und Mario Basler störte sich am wenig maskulinen und wenig | |
| martialischen Auftreten Özils: „Körpersprache wie ein toter Frosch“. | |
| Was wie die unoriginelle Suche nach einem Sündenbock für das frühe WM-Aus | |
| aussieht, ist jedoch nicht neu. Vor der WM 2014, die Deutschland mit Özil | |
| gewinnen konnte, hatte die Zeit unter dem Titel „Liefern, Löw!“ das | |
| Gespräch zweier renommierter Fachjournalisten, Béla Réthy und Marcel Reif, | |
| veröffentlicht, in dem beide damit prahlten, dass ihnen die Diskussionen | |
| über taktische Weiterentwicklungen und Spielanlagen völlig gleichgültig | |
| seien. Réthy: „Ich schaue auch immer nach abkippenden Sechsen oder anderen | |
| taktischen Volten, aber entdecke sie meistens auch nicht.“ Und Reif empfahl | |
| als Mittel gegen Italiens Andrea Pirlo: „Dem haust du – hart, aber fair – | |
| ganz einfach auf die Socken.“ | |
| Die selbstgefällige Ignoranz gegenüber der Fußballmoderne war das eine, | |
| das an dem Gespräch irritierte. Das andere war die für Experten merkwürdige | |
| Forderung, Trainer Löw müsse endlich mal liefern: Zu dem Zeitpunkt hatte | |
| die DFB-Elf 2006 überraschend Platz drei bei der WM geholt, auch 2010 stand | |
| das Team im WM-Halbfinale, 2008 fand es sich im EM-Finale, vier Jahre | |
| später im Halbfinale. Dass Löw bald sogar den WM-Titel „lieferte“, änder… | |
| an der Ablehnung nichts. Uli Hoeneß zeigte sich nach der WM 2018 „froh, | |
| dass der Spuk vorbei ist“. | |
| Was Jogi Löw und Jürgen Klinsmann ab 2004 angeschoben hatten, war die | |
| zweite große – und erfolgreiche – Modernisierung des deutschen Fußballs. | |
| Aber Klinsmann und Löw mussten sich permanent mit Kritikern herumschlagen. | |
| ## Ein altbekanntes Problem | |
| Auch andere Trainer, die als Modernisierer des Fußballs gelten, hatten mit | |
| der deutschen Sportöffentlichkeit Probleme: Pep Guardiola etwa, der | |
| Bayern München zu Meisterschaft und Pokal und ins | |
| Champions-League-Halbfinale führte, war [3][nach wenigen Monaten in | |
| Deutschland genervt] und fühlte sich missverstanden. Einige Journalisten | |
| verübelten ihm seine Distanz, sein Verweigern von Interviews. Aber anstatt | |
| dies zu kritisieren – man hätte auch Guardiolas Eintreten für Katar | |
| kritisieren können –, wurde an seiner Spielweise herumgekrittelt. Der | |
| Philosoph und Publizist Wolfram Eilenberger warnte vor einer | |
| „Feminisierung“ des Bayern-Fußballs durch Guardiola. Damit meinte er eine | |
| „taktisch forcierte Abkehr von männlich codierten Tugenden: der Physis, dem | |
| Kampf, der Durchsetzungskraft, der Ichbezogenheit, auch der potenziellen | |
| Großräumigkeit des Spiels“. | |
| Es gibt in Deutschland keine allzu große Tradition der Spielanalyse, schon | |
| gar nicht eine, die gesellschaftliche Entwicklungen mit in den Blick nimmt. | |
| Gerade in der Özil-Debatte, die ja die Analyse des WM-Aus ersetzt, ist das | |
| offensichtlich. Viele Fans achten lieber auf Dinge wie Körpersprache oder | |
| darauf, wie viele Meter ein Spieler rennt, wie viele Zweikämpfe er gesucht | |
| und wie viele er gewonnen hat. Weniger wird geschaut, welche Qualität seine | |
| Pässe haben, wie diese die Statik des Spiels verändern können, wie sich | |
| Mannschaftsteile verschieben, wie Räume geschaffen und geöffnet werden. | |
| Personalisierte Spielbetrachtung, die gerne von einem bestimmten Spieler | |
| bestimmte Dinge verlangt („Reinhängen soll er sich“, „Charakter zeigen!�… | |
| verträgt sich leider allzu gut mit den Rassismen, die Mesut Özil jetzt (und | |
| nicht erst jetzt) an den Kopf geschleudert wurden. Manchmal ist der | |
| Rassismus offensichtlich („Verpiss dich nach Anatolien!“), manchmal kommt | |
| er auf sanften Pfoten daher („Schade, dass die Fifa-Statuten nicht | |
| erlauben, dass er noch einmal für die Türkei spielen kann“). Interessant | |
| ist die Verschränkung von Rassismus und Fußball aber auch auf dieser Ebene: | |
| Die meisten, die jetzt Özil „virtuell ausbürgern“ (so der Sporthistoriker | |
| Diethelm Blecking) wollen, konnten mit seinem Spiel noch nie etwas | |
| anfangen. | |
| ## Friedliche Spielweise | |
| Der Spieler Mesut Özil galt schon nach der WM 2010 in Südafrika, da war er | |
| 21 Jahre alt, als der „geheimnisvollste Fußballer, den Deutschland je | |
| hatte“, wie die Süddeutsche damals schrieb. „Dieses Fußball-Deutschland i… | |
| es ja gewohnt, breitbrüstige Führungsspieler zu beherbergen, giftige | |
| Terrier oder eiskalte Bomber.“ Özil sei ein Gegenentwurf, einer, der sich | |
| nicht der berühmten deutschen Härte verschreibe. | |
| Zu dem [4][körperlosen Spiel Özils], der Zweikämpfe eher meidet, um lieber | |
| unbedroht einen raumöffnenden Pass zu spielen, gibt es historische | |
| Parallelen. Eine ist die Spielweise des Österreichers Matthias Sindelar. | |
| Der Stürmer von Austria Wien – Spitzname „Der Papierene“ – machte von … | |
| bis 1938 für Österreich 44 Länderspiele. Sindelar, damals europaweit ein | |
| Star, sah im paritätisch zusammengesetzten „Großdeutschland“-Team für si… | |
| keinen Platz. Als Reichstrainer Sepp Herberger 1938 Sindelar beim Training | |
| sah, soll er ausgerufen haben: „Das soll ein Fußballer sein?“ | |
| Wie der Historiker Rudolf Oswald gezeigt hat, haben die gerade ihre | |
| Renaissance erlebenden deutschen Fußballtugenden ihren „Ursprung im | |
| Volksgemeinschaftsideal“. Schon 1934 hatte der einflussreiche | |
| NS-Sportfunktionär Guido von Mengden „die Abkehr vom rein Technischen und | |
| Artistischen“ gefordert, das Spielsystem müsse „aus dem Geist des neuen | |
| Deutschland geboren sein“. | |
| 1935 lobte der Kicker „das deutsche Wesen“, weil es nämlich „geradlinig, | |
| nicht verspielt und auf Ballartistik aus“ sei. Diese kämpferisch-kollektive | |
| Spielanlage, hat Oswald nachgewiesen, zeigte sich bis 1954, als Deutschland | |
| damit zum ersten Mal Weltmeister wurde. Geprägt wurde die Spielanlage von | |
| Sepp Herberger, und gelobt wird sie bis heute: körperbetont, | |
| zweikampfstark, nicht für die Galerie spielend, keinem Konflikt aus dem Weg | |
| gehend. | |
| Und schon ist man wieder in der Özil-Debatte. | |
| ## Modernisierung aus Notwendigkeit | |
| Der Modernisierungsschub des deutschen Fußballs, für den mehr als Mesut | |
| Özil Bundestrainer Jogi Löw steht, wurde möglich, weil das alte Modell Ende | |
| der Neunziger krachend an die Wand gefahren war. Der deutsche Fußball | |
| konnte international schlicht nicht mehr mithalten. | |
| International war anderes los: 1998 war Frankreich Weltmeister geworden mit | |
| einer équipe multiculturelle, wie man die Mannschaft bald nannte, denn | |
| viele Franzosen mit nordafrikanischen Wurzeln spielten dort. Nicht zuletzt | |
| Superstar Zinedine Zidane, Sohn algerischer Einwanderer. Bayern-Trainer | |
| Ottmar Hitzfeld erklärte mit Blick auf die Zuwandererkids in deutschen | |
| Städten: „Wir verzichten auf 50 Prozent unseres Nachwuchspotenzials!“ | |
| Als das DFB-Team auch noch die EM 2000 versemmelte, bemühte man sich um | |
| eine breite Förderung aller in der deutschen Gesellschaft lebenden | |
| Fußballtalente. Nach der Pleite bei der EM 2004 übernahmen Jürgen Klinsmann | |
| und Jogi Löw die Nationalmannschaft. Beiden schwebte nicht weniger als eine | |
| grundlegende Reform der deutschen Fußballkultur vor. [5][Spieler mit einem | |
| anderen kulturellen Background] konnten hierzu einen Beitrag leisten. Özil | |
| wurde später eine Schlüsselfigur in Löws Konzept. | |
| Der Erfolg – bis hin zum Weltmeistertitel 2014 – gab dem Löw’schen Fußb… | |
| recht. Aber verstummen wollte die Kritik an dieser Moderne nie. Von | |
| „schwulem Fußball“, der nicht maskulin-hart sei, wird schwadroniert. Dass | |
| Spieler wie Mesut Özil und Toni Kroos, an dessen Körpersprache ebenfalls | |
| Kritik geübt wurde, zentral für den Erfolg waren, wurde nie richtig | |
| akzeptiert. | |
| Das „Schwulsein“ wird als Metapher für „verweichlichten Fußball“ geno… | |
| Vom „drohenden ‚Ende des Mannes‘ – nicht als biologischer Leib, sondern… | |
| gesellschaftliches Entwicklungsideal“ schwadronierte schon Wolfram | |
| Eilenberger, der nicht nur Pep Guardiola angriff, sondern auch Jogi Löw | |
| attestierte, er wolle den Erfolgen des spanischen Fußballs „mit einer noch | |
| weicheren Mischung begegnen“. Interessanterweise wurden auch Pep Guardiola | |
| und die prägenden Fußballer Xavi und Iniesta von Gegnern ihres Spiels des | |
| „Schwulseins“ bezichtigt. | |
| Zur Vorstellung von der Nationalelf als ethnisch reiner Mannschaft gehört | |
| auch die von einem garantiert heterosexuellen, auf keinen Fall femininen | |
| Ensemble. So fügt sich in der Person Mesut Özil vieles zusammen. | |
| 4 Aug 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/ToniRuediger/status/1021352986700853249 | |
| [2] https://www.tagesspiegel.de/politik/oezils-ruecktritt-ein-land-spielt-falsc… | |
| [3] /Abschied-von-Pep-Guardiola/!5258892 | |
| [4] /Mesut-Oezils-DFB-Ruecktritt/!5519618 | |
| [5] /Kolumne-Press-Schlag/!5520132 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
| Dietrich Schulze-Marmeling | |
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