# taz.de -- Neues Album von Leon Vynehall: Überfahrt ins Ungewisse | |
> Ambient, Streicher, Piano – und Migration: „Nothing Is Still“ heißt das | |
> neue Album des gefeierten britischen Produzenten Leon Vynehall. | |
Bild: Denker- oder Produzentenpose? Leon Vynehall | |
Eine sanft und leicht versetzt pochende Bassdrum setzt die dünne Haut in | |
Bewegung, unter der sich die Loops aneinander vorbeischieben, | |
überschneiden, gegenseitig auslöschen. In dem Stück „Drinking It In Again | |
(Chapter IV)“ arrangiert der britische Musiker Leon Vynehall Synthesizer, | |
Field Recordings, schwingende Percussion und Vocal-Samples zu einer | |
einnehmenden Komposition. Am Ende wehen die Klänge eines Saxofons durch | |
feinkörniges Rauschen hindurch ans Ohr. | |
Vynehalls Album „Nothing Is Still“, in dessen Mitte das Stück platziert | |
ist, ist ein ambitioniertes Werk. Nicht nur musikalisch strebt Vynehall | |
Vielschichtigkeit an. Der Musikproduzent aus England hat sein Debütalbum | |
multimedial angelegt. Das ist konsequent, wenn man bedenkt, dass die Musik | |
von Vynehall auch früher häufig über sich hinausgewiesen hat. | |
„Music For The Uninvited“ von 2014, eine Veröffentlichung, die mit sieben | |
Tracks zwischen EP und Album steht, landete bei einflussreichen | |
Musikmagazinen in jenem Jahr in den Bestenlisten. | |
Inspiration für die Stücke darauf, die von komplexer Electronica und | |
introvertiertem Ambient bis zu optimistischem House reichen, waren sonische | |
Erinnerungen seiner Kindheit wie die Kassetten, die der Brite als Kind im | |
Auto seiner Mutter zu hören bekam und das Videospiel „The Legend Of Zelda: | |
Ocarina Of Time“. Musik ist bei Leon Vynehall selten nur funktional. In den | |
Stücken stecken Geschichten, so wie sie bei ihm Musik werden, drängt er sie | |
den HörerInnen nie auf, sie klingen eher beiläufig. | |
## Die Story der Großeltern | |
Den Text zu „Nothing Is Still“ gab es noch vor der Musik: in dem bisher nur | |
auf Englisch veröffentlichten Buch „Nothing Is Still“, das Leon Vynehall | |
zusammen mit Max Sztyber verfasst hat. Ganz am Anfang standen aber Fotos: | |
Als sein Großvater vor vier Jahren gestorben war, sprach Vynehall mit | |
seiner Großmutter über seine und ihre Erinnerungen. | |
In den 1960er Jahren wanderten Stephanie und Derick Smith aus England aus | |
und suchten nach ihrem American Dream. Sie lebten einige Jahre in New York | |
City, bevor sie nach Großbritannien zurückkehrten. Diesen Abschnitt im | |
Leben seiner Großeltern möchte Vynehall mit „Nothing Is Still“ erzählen, | |
durch Musik, Bilder und mit Worten. | |
Der Ansatz dabei ist künstlerisch-fiktionalisierend, weniger | |
dokumentarisch. Vynehall und Sztyber skizzieren in neun Kapiteln auf | |
poetische, manchmal sprunghafte Weise aus der Sicht der Großmutter Momente | |
der Überfahrt, Erfahrungen der Ungewissheit, Zuversicht, persönliche | |
Katastrophen wie eine Fehlgeburt und den Entschluss zur Rückkehr nach | |
England. | |
Der Text vermittelt komplexe Gefühlswelten, in denen Skepsis und das Gefühl | |
von Einsamkeit auf Euphorie und Lust auf Neues treffen. Die Erzählerin | |
sucht nach Antworten, nach ihren eigenen Wünschen. Immer wieder äußert sich | |
das auch im Blick auf die Beziehung zu ihrem Mann, in Deutungsversuchen | |
seines Verhaltens. | |
## US-Geschichte der 1960er | |
Versatzstücke US-amerikanischer Geschichte zeichnen am Rand außerdem ein | |
Bild von den USA der 1960er Jahre. Im vierten Kapitel, „Drinking It In | |
Again“, auf September 1964 datiert, reflektiert die Erzählerin das | |
Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen. Ausgangspunkt ist das wütende | |
Verhalten ihrer schwarzen Arbeitskollegin, nachdem deren Bruder bei Riots | |
in Harlem von einem Polizisten ins Koma geprügelt worden war. | |
Vynehall markierte Worte oder Passagen des Textes und entwickelte daraus | |
Klänge und Arrangements. Die vielen feinen Wirbel, aus denen dichte Wellen | |
von Sounds entstehen, passen gut zu den Worten der Erzählung. | |
Clubmusik taucht dabei nur als Stilmittel auf, es dominieren Kompositionen | |
ohne Beat, melancholische, elektronisch produzierte Ambient-Stücke mit | |
Streich-Arrangements und Piano-Melodien. Es ist ein Kraftakt, der | |
literarisch, musikalisch und filmisch präsentiert wird. | |
Ein Kampf mit sich selbst, mit anderen, mit Ereignissen, die die Geschichte | |
der Welt oder die eigene nachhaltig prägen. Unter der dünnen Haut der | |
Oberfläche können Stürme entstehen, entfesselt, beängstigend. Aber wenn es | |
gut läuft, gibt es Menschen, die in den Sturm hineinsprechen. Die Knoten | |
des eigenen Lebens können sich mit denen des anderen verbinden und zu einem | |
neuen, oberflächlich ruhig pulsierenden Ganzen werden wie die Musik auf | |
„Nothing Is Still“. | |
4 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Philipp Weichenrieder | |
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