# taz.de -- Essay zu EU-Hilfen für Italien: Wie die „Reise nach Jerusalem“ | |
> Die Mitgliedschaft im Euro bedeutet für Italien Armut. Die EU muss das | |
> ändern – und kann das tun, ohne Steuergelder einzusetzen. | |
Bild: Neoliberale Ökonomen irren sich – und das erinnert an ein altes Kinder… | |
Wer jetzt in den Nachrichten das Wort „Italien“ hört, denkt [1][an | |
Mittelmeer-Flüchtlinge, die nicht mehr ins Land gelassen werden]. Das war | |
vor wenigen Wochen noch anders. Damals dominierte die Nachricht, dass die | |
neue italienische Regierung die Schulden erhöhen wollte, um die Wirtschaft | |
anzukurbeln. Doch dieser Plan fand Gegenliebe bei den Deutschen. Die bange | |
Frage war daher: Wird Italien aus dem Euro ausscheiden? | |
Vorerst hat die italienische Regierung nachgegeben und den parteilosen | |
Professor Giovanni Tria als Finanzminister berufen, der dann auch brav | |
versicherte, dass die italienische Regierung im Euro bleiben möchte und die | |
Schulden begrenzt. Dieser Kotau mag die Eurogruppe erleichtern. Allerdings | |
werden die Probleme damit nicht gelöst, sondern allenfalls vertagt. | |
Italien kann auf Dauer nicht im Euro bleiben, wenn die Währungsgemeinschaft | |
für es Armut bedeutet. Im April 2018 lag die Jungendarbeitslosenquote bei | |
33,1 Prozent – und selbst dieser fatale Anteil ist noch eine Verbesserung. | |
2014 waren sogar 40 Prozent [2][der italienischen Jugendlichen | |
unbeschäftigt]. Die neuen Arbeitsplätze sind zudem meist sehr schlecht | |
bezahlt und befristet. | |
In Spanien, das ähnliche Probleme hat und auch eine neue Regierung, werden | |
diese Stellen als trabajo basura, Mülljobs, bezeichnet. Vielen bleibt nur | |
die Auswanderung: 1,5 Millionen Italiener haben ihre Heimat verlassen, um | |
im EU-Ausland Arbeit zu finden. Nur Rumänen und Polen zieht es noch | |
häufiger in andere Länder. | |
## Mainstream-Ökonomen irren | |
Italien hat ein verlorenes Jahrzehnt durchlebt: Die Wirtschaftsleistung | |
Italiens ist heute immer noch um 5 Prozent niedriger als im ersten Quartal | |
2008. Dringend stellt sich daher die Aufgabe, ein weiteres solches | |
Jahrzehnt zu verhindern. | |
Neoliberale Mainstream-Ökonomen argumentieren gern,die Beschäftigungsquote | |
in Italien sei so niedrig, weil auch die Produktivität, also die | |
Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, zu wünschen übrig ließe. Doch die | |
Realität hat diese Theorie längst widerlegt. Italien hat heute eine höhere | |
Produktivität als vor der Krise. Gleiches gilt für Spanien – aber die | |
Arbeitslosigkeit hat nicht abgenommen, sondern zugelegt. | |
Das ist kein Zufall. Es ist nämlich genau anders herum, als | |
Mainstream-Ökonomen glauben: Die Produktivität in Italien und Spanien ist | |
gestiegen, weil die Arbeitslosigkeit zunahm. In der Krise haben die | |
Unternehmen als Erstes jene Jobs gestrichen, die für die Produktion nicht | |
unbedingt nötig waren, Jobs für Gärtner, Chauffeure und andere | |
Dienstleistungen. | |
Auch der Bausektor ist geschrumpft, der ebenfalls viele Menschen | |
beschäftigt hatte (und vergleichsweise wenig Maschinen). Der Wohlstand ist | |
durch die gestiegene Produktivität jedoch nicht gewachsen, wie Italien | |
zeigt, sondern es sind nur mehr Menschen ohne Arbeit. | |
## Kinder trainieren | |
[3][Der Irrtum der neoliberalen Ökonomen] erinnert an die „Reise nach | |
Jerusalem“: Kinder tanzen um Stühle, wobei es einen Stuhl weniger als | |
Kinder gibt. Stoppt die Musik, sollen sich die Kinder setzen. Unweigerlich | |
bleibt ein Kind übrig. Neoliberale würden nun empfehlen, dass man dieses | |
Kind trainieren solle, damit es schneller reagiert, besser hört und sich | |
geschmeidiger bewegt. Diese Idee ist natürlich unsinnig. Wenn der Plan | |
aufginge, bliebe eben ein anderes Kind ohne Stuhl. | |
Für Arbeitslosigkeit gilt das Gleiche. Es ist wenig hilfreich, Betroffenen | |
zu sagen, sie müssten halt „trainieren“, um besser zu werden als die | |
anderen. Die Lösung wäre vielmehr, einen weiteren Stuhl beziehungsweise | |
eine weitere Stelle zu schaffen, sodass alle einen Platz finden. | |
Wie aber entstehen Arbeitsplätze? Es ist banal: Private Firmen schaffen nur | |
dann neue Stellen, wenn sie damit mehr Waren oder Dienstleistungen absetzen | |
zu können glauben. Doch zurzeit sind die italienischen Unternehmer eher | |
pessimistisch, weshalb sie kaum neue Jobs anbieten. | |
Bleibt also nur der italienische Staat. Er müsste mehr Geld ausgeben und | |
beispielsweise in Bildung, Gesundheit und die öffentliche Infrastruktur | |
investieren. Neue Stellen und zusätzliches Einkommen würden die gesamte | |
Wirtschaft beleben. Auch private Unternehmen würden davon profitieren – sei | |
es, dass der Staat direkt bei ihnen bestellt, sei es, dass die öffentlichen | |
Angestellten bei der Privatwirtschaft kaufen. | |
## Ohne Investition kein Wachstum | |
Neoliberale Ökonomen tun gern so, als könnte eine Wirtschaft wachsen und | |
Arbeitsplätze schaffen, ohne dass vorher Geld fließt. Doch das ist schlicht | |
nicht möglich. Irgendjemand muss investieren, wenn die Wirtschaft | |
expandieren soll. Wenn jedoch die privaten Unternehmen ausfallen, wie in | |
Italien, dann bleibt nur noch der Staat. | |
Leider hat die neoliberale Doktrin das Sagen in der Eurozone: Der | |
Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die nationalen Schuldenbremsen | |
begrenzen die staatlichen Defizite. Italien ist daher gefesselt und kann | |
die heimische Arbeitslosigkeit nicht verringern. | |
Bisher ignoriert die Eurozone einfach, dass sich in Italien und Spanien | |
enorme soziale Spannungen aufbauen. Das ist Selbstmord. Die Eurozone wird | |
nur überleben, wenn die Beschäftigen nicht verarmen. Wenn das Elend | |
zunimmt, ist der politische Zerfall zwangsläufig und keineswegs das | |
Resultat irrationaler Entscheidungen von angeblich unmündigen BürgerInnen. | |
Italien braucht schnell Hilfe. Daher wäre es kontraproduktiv, darauf zu | |
warten und zu hoffen, dass irgendwann der Wachstums- und Stabilitätspakt | |
offiziell aufgeweicht werden könnte. Gesucht wird eine kreative Lösung, die | |
fiskalisch nachhaltig ist, keine Vergemeinschaftung der Schulden erfordert, | |
kein deutsches Steuergeld benötigt und den Stabilitäts- und Wachstumspakt | |
bestehen lässt. Kurz: Gesucht wird eine Lösung, die das deutsche Mantra der | |
„schwarzen Null“ unangetastet lässt. | |
## Mainstream-Ökonomen irren schon wieder | |
Eine Möglichkeit wäre der Aufbau eines europäischen Finanzministeriums | |
(eFin), das explizit die Aufgabe hätte, die Arbeitslosigkeit in der | |
Eurozone auf einem niedrigen Stand zu halten. Ähnlich wie die Europäische | |
Zentralbank (EZB) ein Inflationsziel von knapp 2 Prozent verfolgt, würde | |
das eFin eine Arbeitslosenquote von, sagen wir, maximal 5 Prozent als | |
Beschäftigungsziel anstreben. Ist die Beschäftigungslage schlecht, werden | |
die Ausgaben erhöht, ist die Lage am Arbeitsmarkt gut, werden sie | |
reduziert. | |
Staatliche Aufgaben gäbe es genug, nicht nur in Italien. Auch in | |
Deutschland besteht ein Investitionsbedarf von etwa 100 Milliarden Euro. | |
Vor allem den Kommunen fehlt das Geld, um Schulen, Straßen und Brücken zu | |
sanieren. Diese öffentlichen Ausgaben würden auch die Produktivität der | |
privaten Unternehmer steigern, weil diese ihre Waren effizienter | |
transportieren könnten. | |
Die Mainstream-Ökonomen irren, wenn sie glauben, dass Produktivität dadurch | |
zunimmt, dass man die staatlichen Ausgaben kürzt. Es ist umgekehrt: | |
Unternehmen benötigen die Vorleistungen der öffentlichen Hand, um produktiv | |
zu sein. | |
Bleibt die Frage: Wie kommt das eFin an Geld? Ganz einfach: Es würde | |
europäische Staatsanleihen (Eurobonds) ausgeben, die von Banken gekauft | |
werden könnten. Die Bürger müssten also keine Steuern nach Brüssel | |
abführen. Diese Eurobonds wären übrigens sehr attraktiv, weil sie absolut | |
sicher wären und kein Ausfallrisiko hätten. Sollten sich nämlich keine | |
Interessenten finden, würde die EZB diese Eurobonds aufkaufen. | |
## Keine Inflation | |
Eine unkontrollierte Inflation wäre trotzdem nicht zu befürchten, obwohl | |
die Geldmenge durch die Eurobonds steigen würde. Der Grund ist schlicht | |
dieser: Es ist nicht die Geldmenge, die bestimmt, ob es zu einer Inflation | |
kommt. | |
Diese Tatsache konnte jeder EU-Bürger in den vergangenen Jahren hautnah | |
miterleben. EZB-Chef Mario Draghi hat seit 2015 fast 3 Billionen Euro | |
[4][in die Banken gepumpt, um die Inflation in der Eurozone in die Höhe zu | |
treiben]. Doch noch immer dümpelt die Kerninflationsrate bei 1,1 Prozent. | |
Preise steigen nur, wenn die Fabriken ausgelastet sind. Doch in der | |
Eurozone sind viele Kapazitäten noch immer ungenutzt, und die Betriebe | |
liefern sich eher Rabattschlachten. Erst wenn es dem eFin gelungen wäre, | |
die Wirtschaft in der Eurozone anzukurbeln, würde auch die Inflation ein | |
bisschen zunehmen. Dies wäre sogar erwünscht: Dann könnte die EZB endlich | |
ihre Leitzinsen wieder anheben, die derzeit bei null liegen. | |
Bleibt noch eine zweite Frage: Wer bestimmt eigentlich, wie viele Eurobonds | |
das eFin in Umlauf bringen darf – und was genau es damit finanziert? Der | |
französische Ökonom Thomas Piketty hat vorgeschlagen, ein Euro-Parlament | |
aufzubauen, das rund hundert Mitglieder haben soll. Die Länder würden je | |
nach Einwohnerzahl repräsentiert, wobei auch Ministaaten wie Malta oder | |
Zypern mindestens einen Abgeordneten schicken dürften. | |
## Wahl zwischen Verarmung und Auswanderung | |
Ein Euro-Parlament würde die Eurozone demokratisieren, denn bisher | |
entscheiden oft Gremien wie die Eurogruppe. Sie sind in den europäischen | |
Verträgen gar nicht vorgesehen, haben aber Millionen Europäer in Armut | |
gestürzt. | |
Wird die Eurozone nicht reformiert, können die Menschen an der Peripherie | |
Europas nur noch zwischen Verarmung und Auswanderung wählen. Diese | |
Erkenntnis ist bei den Betroffenen längst angekommen, Italien arbeitet | |
bereits an einem Plan B. Bisher ist Deutschland der größte Profiteur des | |
Euros. Die Bundesregierung muss sich bewegen, wenn es nicht zum Crash | |
kommen soll. | |
5 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Ehnts | |
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