# taz.de -- Unterricht in Kriegsgebieten: Tatort Schule | |
> Die Gewalt gegen SchülerInnen und LehrerInnen nimmt nach einem aktuellen | |
> Bericht weltweit zu. Fünf taz-KorrespondentInnen berichten. | |
Bild: In Afghanistan haben die Taliban das Bildungssystem übernommen und setze… | |
## Afghanistan: Radikaler Hass | |
Afghanistan verzeichnet, gemeinsam mit Nigeria, weltweit die höchste Zahl | |
an Angriffen und Drohungen gegen Lehrpersonal und Schüler. Gleichzeitig ist | |
die Zahl der Angriffe auf Schulen deutlich zurückgegangen. Für die Jahre | |
von 2013 bis 2017 sind es laut dem Bericht „Education under attack“zwar | |
noch 180. Doch allein im ersten Halbjahr 2009 waren es noch 123 Angriffe | |
gewesen. | |
Dahinter verbergen sich zwei gegenläufige Trends. Zum einen gaben die | |
Taliban, die größte Aufstandsgruppe im Land, die in etwa 70 Prozent des | |
Landes signifikant aktiv ist, seit 2012 weitgehend ihre jahrelange | |
bildungsfeindliche Politik auf. Bis dahin schlossen sie viele Schulen, | |
besonders Mädchenschulen, in den von ihnen kontrollierten Gebieten, während | |
sie Schulen in regierungskontrollierten Gebieten zu zerstörten suchten. | |
Inzwischen setzen sie auf die Übernahme des Bildungswesens. In den von | |
ihnen beherrschten Gebieten entsenden sie Vertreter in die | |
Schulverwaltungen und den Lehrkörper, verändern den Stundenplan und erhöhen | |
den Anteil religiöser Fächer. Allerdings lehnen sie nicht mehr | |
grundsätzlich die Vermittlung moderner Fächer wie Mathematik, | |
Naturwissenschaften und Geschichte ab. Mit Geldstrafen sorgen sie für | |
weniger Fehlzeiten bei Lehrer*innen und Schüler*innen. | |
Zudem haben sie für einige Gebiete Abmachungen mit der Zentralregierung | |
getroffen, dass diese die Schulen weiter finanziert. Grundlage dieser | |
Politik ist ein Dokument, das der damalige Leiter der | |
Taliban-Bildungskommission Haibatullah Achundsada, erarbeitet hat und das | |
auch Mädchenbildung nicht mehr verbietet. Achundsada ist inzwischen zum | |
obersten Chef der Taliban aufgerückt. Aus Taliban-Gebieten wird aber | |
berichtet, dass Mädchen dort nur bis zur sechsten Klasse die Schule | |
besuchen dürfen. | |
Nun hat sich allerdings der neue örtliche Ableger des Islamischen Staates | |
(IS) die frühere militante Linie der Taliban angeeignet. Zwar kontrolliert | |
der IS in Afghanistan nur etwa zwei Prozent des Territoriums. Doch jüngst | |
kam es vermehrt zu blutigen Angriffen. Erst am vorigen Mittwoch | |
attackierten IS-Kämpfer die Filiale des Bildungsministeriums in der Stadt | |
Dschalalabad, töteten zwölf Mitarbeiter und verletzten zehn weitere. Am | |
Sonntag brannten sie im nahegelegenen Distrikt Batikot eine Schule für 800 | |
Kinder nieder. Auch mit gemäßigten Taliban bleiben Schulen in Afghanistan | |
ein Topangriffsziel. | |
Thomas Ruttig, Kabul | |
## Uganda: Zeugnis gegen Sex | |
Das ganze Ausmaß der sexuellen Ausbeutung von ugandischen Studentinnen | |
wurde im Juni in einem 30-Seiten-Bericht publik. Ein Untersuchungsausschuss | |
an der berühmten staatlichen Makerere-Universität hatte zwei Monate lang | |
über 234 Personen interviewt, davon knapp 60 Prozent Frauen. Die meisten | |
von ihnen konnten Zeugnis darüber ablegen, wie sie von Lektoren und | |
Professoren sexuell genötigt wurden. | |
Auslöser für die Erhebung war eine skurrile Szene vor einem Jahr. Zum | |
Begräbnis des verstorbenen Hochschulprofessors Lawrence Mukiibi – dem | |
Gründer einer führenden Privatschulen-Kette im Land – kamen sage und | |
schreibe seine 100 Kinder. Seine Familie gab an, nur 24 seien ehelich | |
gezeugt. Die übrigen Nachfahren habe er: von seinen Studentinnen. Es war | |
die Zeit der internationalen #MeToo-Debatte. Mukiibis 76 uneheliche, | |
möglicherweise gegen den Willen der Frauen gezeugten Kinder sorgten für | |
einen Aufschrei in den sozialen Medien. | |
Korruption im Bildungsbereich ist in Uganda an der Tagesordnung: Wie der | |
Bericht an der Makerere-Universität nahe legt, besteht „die Bezahlung“ an | |
Hochschulen – etwa um für Prüfungen zugelassen zu werden – auch oft in | |
sexuellen Gefälligkeiten. Dabei nutzten Hochschulangestellte „systematisch“ | |
den Druck aus, den Studierende verspüren. Das Studium ist eine teure | |
Angelegenheit für eine ugandische Familie. Kaum jemand kann es sich | |
leisten, ein Semester zu wiederholen. Dass Professoren diese Situation bei | |
Frauen schamlos ausnutzen, sei ein „endemisches Problem“. | |
Zu Beginn des Jahres wagte eine Studentin den Gang vor Ugandas Hohes | |
Gericht: Sie konnte ein Handyvideo als Beweis vorlegen, wie ein | |
Universitätsangestellter sich an ihr vergeht. Bevor er ihr Zeugnis | |
herausrückte, schloss er sein Büro ab und zwang sie zum Sex. Weitere | |
Studentinnen machten Beweise publik: Auf Facebook und Twitter | |
veröffentlichten sie Fotos und Anschuldigungen. | |
Die international renommierte Makerere-Universität, seit Jahrzehnten unter | |
den besten drei afrikanischen Unis gerankt, geriet unter Druck, | |
internationale Geldgeber froren Gelder ein. Die Universitätsverwaltung sah | |
sich gezwungen, den Vorwürfen nachzugehen. Noch müssen die Aussagen der | |
Studentinnen vor Gericht geprüft werden. Die Leiterin des Ausschusses | |
spricht aber schon jetzt von einer „systematischen Ausbeutung der Macht“ | |
gegenüber Frauen an ugandischen Universitäten. | |
Simone Schlindwein, Kampala | |
## Ukraine : Unterricht im Bunker | |
„Ich hatte mal 30 Kinder in meiner Klasse“, berichtet die Lehrerin einer 6. | |
Klasse in Gorlivka, in der von Separatisten beanspruchten „Volksrepublik | |
Donezk“ im Osten der Ukraine. In der Stadt sind Gefechte mit ukrainischen | |
Truppen an der Tagesordnung. Die Hälfte der rund 200.000 Einwohner haben | |
Gorlivka schon verlassen. Nach Kiew oder nur ein paar Kilometer weiter, | |
raus aus der Gefechtszone. Die Lehrerin, die anonym bleiben will, zählt nur | |
mehr 15 Kinder in ihrer Klasse. Höchstens. | |
„Wenn wieder einmal für den Vormittag ein Angriff erwartet wird, dann | |
bleiben viele Schüler zu Hause“, erzählt sie. Dabei hätten die Schulen die | |
besten Bunker in der ganzen Stadt. Hunderte Male hätte sie dort mit der | |
Klasse schon Zuflucht gesucht. Im Bunker gebe es genug zu essen, zu | |
trinken. „Wir können sogar Unterricht halten.“ Für die Schulkinder, so die | |
Lehrerin, werde in Gorlivka deutlich mehr getan als für den Rest der | |
Bevölkerung. Materiell fehle es den Schülern an nichts. Nur eines erhielten | |
die Kinder nicht: psychologische Betreuung und Hilfe bei ihren | |
Angststörungen. | |
Die Schülerinnen und Schüler von Gorlivka stehen stellvertretend für die | |
vielen Kinder auf beiden Seiten der Front, die einen Schulalltag im | |
Kriegsgebiet bestreiten müssen. Über 700 Schulen, so berichtete das | |
Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen im Mai, haben durch den Krieg in der | |
Ostukraine Schäden davongetragen. Rund 12.000 Kinder leben nur drei | |
Kilometer von der Front entfernt. Sie hören jeden Tag auf ihrem Weg in die | |
Schule Schüsse, Einschläge und Detonationen. | |
Jeden Tag, berichtet das Internetportal von Radio Liberty, überquerten | |
Schulkinder in Scharen die Waffenstillstandslinie, um in die nächste Schule | |
zu gelangen. Für sie wird der Schulweg so zur täglichen Lebensgefahr. Über | |
240 Kinder sollen laut ukrainischen Außenminister bis Juni diesen Jahres im | |
bewaffneten Konflikt im Donbass ihr Leben verloren haben. | |
Es hätten noch viel mehr sein können, berichtet die Lehrerin aus Gorlivka: | |
„Wenn die auf der anderen Seite den Befehl erhalten, eine bestimmte Stelle | |
zu beschießen, dann informiert uns von dort jemand rechtzeitig und wir | |
können diese Orte vor dem Angriff räumen“, erklärt sie. Und das gleiche | |
würde man auch von der „Volksrepublik Donezk“ aus tun. Diese stille | |
Zusammenarbeit habe schon viele Menschenleben gerettet. Und die geschulten | |
Ohren der SchülerInnen und LehrerInnen, die nahende Raketen sofort | |
erkennen. | |
Bernhard Clasen, Kiew | |
## Mexiko: Die Macht der Narcos | |
Die ersten Drohungen kamen über Facebook. „Ihr Arschlöcher von Lehrern“, | |
schrieben die Autoren, „es gibt keinen Unterricht in Chilapa und Umgebung. | |
Habt ihr das kapiert?“ Dazu schickten sie Fotos von schwarzen Müllsäcken, | |
in denen sich die zerstückelten Reste von Leichen befanden. Die Toten waren | |
am selben Morgen in der südmexikanischen Stadt gefunden worden. | |
Für die Lehrer stand außer Frage, dass sie die Nachrichten ernst nehmen | |
müssen. Und so blieben 663 Schulen in Chilapa, Atlixtac, Zitlala und | |
anderen Gemeinden im Bundesstaat Guerrero geschlossen. 62.300 Schülerinnen | |
und Schüler mussten auf ihren Unterricht verzichten. Manche zwei Monate | |
lang, die meisten noch länger. Zwischendurch zogen mit Sturmgewehren und | |
Granatwerfern bewaffnete Männer durch die Schulen, um zu prüfen, ob die | |
Lehranstalten auch geschlossen sind. Die Pädagogen begannen, über WhatsApp | |
und Facebook zu unterrichten. | |
Das war im Herbst vergangenen Jahres. Die kriminellen Banden Los Ardillos | |
und Los Rojos lieferten sich mal wieder schwere Schusswechsel um die | |
Kontrolle dieser Region, in der viele vom Anbau von Schlafmohn für die | |
Opiumproduktion leben. Die beiden Banden haben hier das Sagen, die | |
Sicherheitskräfte erscheinen machtlos. Bis heute ist unklar, warum sich die | |
Angriffe gegen Lehrer richteten. Möglicherweise, weil die Pädagogen als | |
kritische Aufklärer und damit als Feinde der Kriminellen gelten. Vielleicht | |
aber auch, um Macht zu demonstrieren und Angst zu säen. | |
Wenige Monate vorher traf es Lehrer im nordmexikanischen Bundesstaat | |
Sinaloa. Hier dominiert das gleichnamige Sinaloa-Kartell. 148 Schulen | |
mussten vorübergehend geschlossen werden, weil die Ausbilder auf dem Weg | |
zur Arbeit von Bewaffneten gestoppt und bedroht wurden. Auch sie mussten | |
die Drohungen ernst nehmen. Im Mai 2017 killten Unbekannte in der Region | |
drei Lehrkräfte, die sich gerade auf dem Heimweg vom Unterricht befanden. | |
Guerrero, Sinaloa, Michoacán, Jalisco, Chihuahua – in zahlreichen | |
Bundesstaaten Mexikos terrorisieren kriminelle Banden die Bevölkerung. | |
Immer wieder fordern Eltern von der Regierung, dass ihre Kinder sicher in | |
die Schule gehen können. Meist ohne Erfolg. „Niemand garantiert mir, dass | |
die Schulen nicht einfach während der Klasse angegriffen wird“, sagt eine | |
Mutter aus Chilapa. „Die Soldaten sind schon lange hier, aber der Krieg | |
dieser Gruppen hört nicht auf.“ | |
Wolf-Dieter Vogel, Oaxaca | |
## Nigeria: Angst vorm Schulbesuch | |
Vor allem im [1][Nordosten Nigerias], wo sich die Terrorgruppe Boko Haram | |
seit 2009 ausbreitet, gilt der Schulbesuch bis heute als gefährlich. Die | |
2002 gegründete Miliz hat immer wieder gezielt Schulen angegriffen. | |
Weltweite Aufmerksamkeit erhielt sie ausgerechnet mit der Entführung von | |
276 Schülerinnen der weiterführenden Schule von Chibok am 14. April 2014. | |
Bis heute sind gut 100 von ihnen nicht befreit worden oder in der | |
Geiselhaft gestorben. | |
Chibok ist kein Einzelfall. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Miliz ein | |
Internat im Nachbarbundesstaat Yobe angegriffen und 46 Personen getötet, | |
die meisten von ihnen Schüler. Boko-Haram-Anführer Abubakar Shekau äußerte | |
sich kurz darauf mit einem Video, in dem es laut nigerianischen Zeitungen | |
heißt: Lehrer, die westliche Bildung vermitteln, werden vor den Augen ihrer | |
Schüler getötet. So bedeutet Boko Haram locker übersetzt auch: westliche | |
Bildung ist Sünde. Doch die Angriffe sind nicht nur ein Kampf gegen Schulen | |
nach westlichem Vorbild. | |
Mit ihnen gelingt es der Gruppe auch, internationale Aufmerksamkeit zu | |
erhalten. Das hat sie im Februar erneut geschafft. In Dapchi (Bundesstaat | |
Yobe) wurden 110 Mädchen im Alter von elf bis 19 Jahren von einer Fraktion | |
der Terrormiliz entführt. Die Gruppe, die Präsident Muhammadu Buhari gerne | |
als „technisch besiegt“ bezeichnet hatte, meldete sich zurück. Anders als | |
im Fall von Chibok sind die Geiseln bis auf eine aber befreit. Das hat zur | |
Folge, dass in der Region zahlreiche Schulen geschlossen bleiben. | |
Nach Unicef-Informationen öffneten im aktuellen Schuljahr nur 43 Prozent im | |
Bundesstaat Borno, Hochburg von Boko Haram. 1.400 Gebäude wurden zerstört. | |
Auch Lehrer fehlen. Mehr als 2.295 wurden seit 2009 ermordet sowie 19.000 | |
zu Binnenflüchtlingen. Neben Schulen hat Boko Haram in den vergangenen | |
Monaten auch mehrfach versucht, die Universität in der Provinzhauptstadt | |
Maiduguri anzugreifen. | |
Zwar gibt es die 2014 gegründete Initiative sichere Schule, die dafür | |
sorgen soll, dass in den Bundesstaaten Yobe, Borno und Adamawa SchülerInnen | |
geschützt werden. Laut Experten in Nigeria muss sich aber erst die | |
generelle Sicherheitslage verbessern, damit der Schulbesuch wieder möglich | |
wird. Eins wundert in Nigeria deshalb niemanden. Seit Jahren ist es das | |
Land mit der höchsten Zahl an Grundschulkindern, die nirgendwo eine | |
Schulbank drücken: 10,5 Millionen. | |
Katrin Gänsler, Abuja | |
25 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Terroranschlaege-in-Nigeria/!5502482 | |
## TAGS | |
Bürgerkrieg | |
Bildung | |
Taliban | |
Boko Haram | |
Schule | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Bildung | |
Schule | |
Taliban | |
Nigeria | |
Elfenbeinküste | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Weltbildungsbericht der Unesco: Corona verschärft Ungleichheit | |
258 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, schätzt die UN-Organisation. | |
Besonders wirkt sich Armut auf Abschluss und die Lernchancen aus. | |
Kommentar Gewalt gegen Schulen: Wissen unter Beschuss | |
In einem Drittel aller Staaten ist es gefährlich, Bildung wahrzunehmen. Die | |
Zivilgesellschaft solcher „failed states“ ist hilflos. Was kann man tun? | |
Neue Afghanistan-Strategie der USA: Washington will mit Taliban sprechen | |
Die US-Regierung will in Afghanistan Verhandlungen ermöglichen. Dazu muss | |
sie auf Forderungen der Taliban eingehen. | |
Konflikt in Zentralnigeria: Neuer Krieg testet alten Präsidenten | |
Eskalierende Gewalt in Nigeria stürzt Staatschef Buhari kurz vor einer | |
möglichen zweiten Amtszeit in ein Glaubwürdigkeitsproblem. | |
Ivorische Sängerin über ihr Herkunftsland: „Das Wichtigste ist Bildung“ | |
Die ivorische Musikerin Dobet Gnahoré spricht über kostenlosen Schulbesuch, | |
die Gleichstellung der Frau und ihr neues Album „Miziki“. |