# taz.de -- Frauenrechte in Pakistan: Die Stimme im Land des Schweigens | |
> Am Mittwoch wird in Pakistan gewählt. Frauenrechte? Eine Randnotiz. | |
> Khadija Siddiqui überlebte eine Attacke und kämpft nun für Gerechtigkeit. | |
Bild: „Ich will die Stimme der unterdrückten Frauen sein“, sagt Khadija Si… | |
Lahore taz | Er holt mit seinem Messer aus und drückt die 21-jährige | |
Khadija Siddiqui in den Sitz des Autos. Einzelne Haarsträhnen springen | |
unter dem Kopftuch der jungen Frau hervor, als sie mit weit aufgerissenen | |
Augen in das Gesicht ihres Kommilitonen blickt – so erzählt Siddiqui von | |
diesem Tag, der ihr Leben veränderte. | |
Der erste Stich, der zweite, der dritte, der vierte, der fünfte. Die | |
Sicherheitsleute eines benachbarten Hotels beobachten den Angriff, ohne | |
einzugreifen: 23 Mal sticht der Mann auf die wehrlose Jurastudentin ein. Es | |
ist der 3. Mai 2016 in Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans. Khadija | |
Siddiqui liegt auf der Straße in ihrem Blut und hört, wie Passanten sie für | |
tot erklären. | |
Pakistan ist für Frauen eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die | |
Verfassung garantiert ihnen Gleichheit vor dem Gesetz und die | |
Unantastbarkeit ihrer Menschenwürde. Trotzdem gab es 2017 offiziell 2.322 | |
Fälle, in denen Frauen und Mädchen entführt, vergewaltigt oder getötet | |
wurden. Im Namen der Tradition, des Glaubens, der Politik und selbst der | |
eigenen Familie. Die Dunkelziffer ist hoch, weil sich nur wenige weibliche | |
Opfer trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen. | |
Khadija Siddiqui traut sich. „Ich will die Stimme der unterdrückten Frauen | |
Pakistans sein“, sagt sie im Haus ihrer Familie im Südwesten von Lahore. | |
Mehr als eineinhalb Jahre ist die Messerattacke her. Nach drei Wochen | |
Krankenhausaufenthalt, nach fast 200 Stichen, Blutkonserven und fünf | |
Monaten mit einer Nackenstütze klingen ihre Worte wie ein Aufschrei – und | |
wie eine Revolution: „Wir Frauen sind genauso viel wert wie Männer, wir | |
müssen für unsere Rechte kämpfen!“ | |
In Pakistan gehen Frauen selbst nach lebensgefährlichen Angriffen durch | |
Männer selten vor Gericht. Khadija Siddiqui hingegen klagte gegen den | |
Täter, obwohl ihr Kommilitone der Sohn einer mächtigen Familie ist. Doch | |
der Täter blieb vorerst frei, seine Familie bot ihr finanziellen Ausgleich | |
an. Siddiqui lehnte das „Blutgeld“ ab und zog vor Gericht. Sie fordert die | |
Höchststrafe: 10 Jahre. | |
## Anfangs waren sie Freunde | |
Warum hat er sie angegriffen? Khadija Siddiqui sitzt auf dem beigefarbenen | |
Sofa in ihrem Elternhaus in Lahores Bezirk Gulberg. Anfangs seien sie | |
befreundet gewesen, erzählt sie. Doch der ehemalige Kommilitone komme aus | |
einem sehr konservativen Umfeld, in dem Frauen den Männern zu gehorchen | |
hätten. „Er setzte mich unter Druck und machte mir Angst“, sagt sie und | |
verschränkt ihre Arme vor der Brust. „Ich hörte auf, mit ihm zu sprechen. | |
Damit kam er nicht klar.“ | |
Die Familie des Täters leugnet den Angriff. In der pakistanischen | |
Gesellschaft sind voreheliche Beziehungen verpönt. Ein Anwalt, selbst am | |
Verfahren nicht beteiligt, behauptet sogar, die junge Frau habe sich die 23 | |
Messerstiche selbst zugefügt. Weil der Beschuldigte ihre Liebe nicht | |
erwiderte. Zeugen für den mörderischen Angriff wurden von der Gegenseite | |
ignoriert. | |
Khadija Siddiqui lässt sich von ihrer Freundin Rida zum Zivilgerichtshof im | |
Zentrum der Stadt begleiten. Der Chauffeur wartet bereits vor der Haustür, | |
als sie in einer weißen Tunika und einem schwarzweiß gestreiften Jackett | |
erscheint. Mit ihrem Bodyguard. Der von der Regierung bestellte Mann hat | |
ein breites Gesicht und einen Dreitagebart. Er lässt die junge Frau keine | |
Sekunde aus den Augen. Seine Hand greift fest um den Lauf einer | |
Kalaschnikow, während er die Umgebung scannt. Die Unterstützer der | |
gegnerischen Seite sind überzeugt, dass Siddiqui nicht nach den Werten des | |
Islam lebt. Sie erhält anonyme Todesdrohungen. | |
Das Auto fährt los, mitten durch den Verkehr von Lahore – Autos, Rikschas, | |
Esel- und Pferdewagen sind unterwegs. Wie heißt der Mann, der mit dem | |
Messer auf sie einstach? „Ich hasse es, seinen Namen auszusprechen“, | |
flüstert Khadija. Ihre Freundin Rida schreibt ihn für uns auf: Shah | |
Hussain. | |
Im Gericht starren die gegnerischen Anwälte in dunklen Anzügen zu ihr | |
herüber. Statt darauf einzugehen, gibt die kleine Frau einem lokalen | |
Fernsehsender ein Interview. Nach dem Angriff sollte Siddiqui ihre | |
verpassten Klausuren nachholen. Mit ihrem Kommilitonen Shah Hussain, dem | |
Täter, im gleichen Raum. Damals wendete sie sich an die pakistanische | |
Presse, die seitdem über ihren Prozess berichtet. | |
Nach dem Interview begleitet das Filmteam Siddiqui durch das Gericht. Ihr | |
Gang wird steifer, je näher sie dem Saal kommt, in dem die Verhandlung | |
stattfinden soll. „Sie haben Berufung eingelegt“, erklärt sie später auf | |
dem Flur. „Mein Peiniger ist seit fünf Monaten im Gefängnis, seine Leute | |
wollen ihn auf Kaution freibekommen.“ | |
Doch die Gegenpartei erscheint nicht zur Verhandlung. Wie so oft. „Die | |
Familie des Angeklagten bestimmt die Regeln.“ Warum, das kann Siddiqui nur | |
erahnen: „Er ist ein Mann, dazu der Sohn eines einflussreichen Anwaltes.“ | |
## Manche halten sie für verrückt | |
Vor dem Gerichtsgebäude macht sie ein Selfie, um es auf Facebook zu posten. | |
In einem Land, in dem nur wenige Frauen auf der Straße sind, meist still | |
und fast unsichtbar in Begleitung ihres Mannes, möchte Siddiqi ihnen Mut | |
über die sozialen Medien machen. Ihre Posts erhalten unzählige Likes. | |
Andere halten sie für verrückt. Freunde und Verwandte fragen ihre Mutter, | |
warum sie nicht einfach das Blutgeld akzeptierten, warum sie sich das alles | |
antue. „Der Fall meiner Tochter ist größer als ihr eigenes Schicksal“, | |
erklärt die große, schlanke Frau mit kariertem Kopftuch. Sie holt tief Luft | |
und sagt: „Khadijas Fall wird Pakistan verändern!“ Sie werde alles tun, um | |
ihre Tochter zu unterstützen. | |
Siddiqis ehemalige Kommilitonen dagegen halten sich von ihr fern. Niemand | |
erscheint zu ihrer Unterstützung vor Gericht. Viele teilen die Ansicht, die | |
Messerattacke sei Siddiquis Fehler. Sie habe ihrem Angreifer schöne Augen | |
gemacht. | |
„Wenn du in diesem Land deine Stimme erhebst, wirst du gefragt: Warum ist | |
dir das passiert?“, erklärt sie, als sie nach dem Gerichtstermin wieder auf | |
dem Sofa sitzt. Es gibt Fladenbrot – Tschapati, dazu Hähnchen und Chutney. | |
Die junge Frau blickt zum Fenster. Das Haus ist von hohen Mauern umgeben. | |
Wenn das Opfer in Pakistan eine Frau sei, werde diese meist als die | |
Schuldige angesehen. „Die Menschen verurteilen nicht den Täter, sie | |
verurteilen mich.“ | |
In Pakistan sind solche Ansichten weit verbreitet. 2016 belegte das Land | |
den vorletzten von 144 Plätzen des Geschlechterungleichheitsindex, | |
unterboten nur vom arabischen Bürgerkriegsland Jemen. Frauen und Männer | |
können sich erst richtig kennenlernen, wenn sie verheiratet sind. Schon ein | |
falscher Blick, ein Flirt am Telefon, ein Liebesbrief können | |
lebensgefährlich sein. Vor allem für die Frau. Im nördlichen Swat-Distrikt | |
in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa wurde im Februar 2017 eine 14-Jährige von | |
ihrem Onkel erschossen, weil sie mit ihrem Cousin telefonierte. Der Täter | |
vermutete eine Liebesbeziehung. Im selben Jahr wurde eine 19-Jährige von | |
ihrem Cousin vergewaltigt. Das Mädchen ging zum Dorfgericht und wurde zum | |
Tode verurteilt. Weil sie, wie es hieß, ihren Cousin verführt habe. | |
## Peitschenhiebe, Amputation, Steinigung | |
Eigentlich blickten Frauen in Pakistan nach der Unabhängigkeit von | |
Großbritannien in eine vielversprechende Zukunft: Bereits 1947 versprach | |
Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah seinem Volk Demokratie, religiöse | |
Toleranz und Gleichberechtigung von Mann und Frau. Doch 1977 putschte sich | |
der Extremist Zia-ul-Haq an die Macht, islamisierte das Strafrecht und | |
führte die Scharia ein. Das pakistanische Rechtssystem beinhaltet | |
inzwischen neben islamischen auch westliche Elemente, doch bei | |
„gesellschaftlichem Fehlverhalten“ drohen Frauen noch immer Peitschenhiebe, | |
Amputation und Steinigung. Spricht eine verheiratete Frau mit einem anderen | |
Mann, leitet das Stammesgericht die Scheidung ein. Geht eine Frau mit einem | |
fremden Mann eine Beziehung ein, kann sie dafür umgebracht werden. | |
Im Haus ihrer Eltern in Lahore zieht Siddiqui ihren rosafarbenen | |
Lippenstift nach. Dabei rutscht der Ärmel ihrer Bluse zurück und gibt die | |
Narben auf ihrem rechten Unterarm frei. Ihr ganzer Körper ist voller | |
Schnitte. Eine wohlhabende Frau hat angeboten, die Kosten für kosmetische | |
Operationen zu übernehmen, damit ihre Narben weniger auffallen. Doch | |
Siddiqui möchte sie behalten. „Es liegt an dir, wie du deine Wunden | |
bemalst“, sagt sie in ihrer poetischen Sprache, als rede sie von begehrten | |
Schmuckstücken. „Färbst du sie golden, werden sie schimmern.“ | |
Woher nimmt sie die Kraft weiterzukämpfen? Trotz physischer Schmerzen, | |
Anschuldigungen und Morddrohungen? „Weil Allah mir ein neues Leben gab.“ | |
Und wenn die Familie des Täters so mächtig und die Gemeinschaft der | |
Islamisten so zornig ist – warum ist Siddiqui dann nicht längst tot? – | |
„Weil Gott mir hilft und der Prophet Mohammed will, dass ich lebe.“ | |
Dann stellt sie sich barfuß auf den Gebetsteppich, wendet sich nach Mekka, | |
legt die Hände auf die Schultern, auf die Brust, verbeugt sich, kniet | |
nieder, berührt mit der Stirn den Boden. Nach dem Gebet sagt sie mit | |
strahlendem Gesicht: „Der Islam ist mein Lebensweg, er zeigt mir, was | |
richtig und was falsch ist.“ | |
Der Islam ist für sie eine Religion der Liebe. „Er stärkt die Rechte der | |
Frau, doch manche missbrauchen ihn.“ Durch die Messerattacke sei ihr Glaube | |
noch stärker geworden. Ausgerechnet jene Religion, in deren Namen sie fast | |
umgebracht worden ist, hält sie am Leben. Ihr größter Wunsch: „Eine | |
Pilgerreise nach Mekka.“ | |
## Was sagt sein Vater? | |
Für die einen ist Khadija Siddiqui eine Kandidatin für den | |
Friedensnobelpreis. Andere wünschen ihr den Tod. Im Gericht trifft sie auf | |
ihren größten Feind: Tanveer Hashmi, den Vater des Täters. Durch sein | |
dünnes Haar wirken seine Augenränder noch tiefer. „Wir wissen nicht, wer | |
Khadija angegriffen hat“, betont er. „Das Messer wurde gewaschen ins | |
Gericht gebracht.“ Siddiqui habe seinen Sohn heiraten wollen, der sie aber | |
nicht. „Es gibt Bilder von Khadija mit anderen Männern.“ Er spielt auf | |
vermeintlich voreheliche Beziehungen Siddiquis an. Sie komme aus einer | |
ungebildeten Familie. Sei schizophren. „Geisteskrank!“ Er schlägt mit der | |
flachen Hand auf den Tisch. „Bei einem fairen Prozess kommt mein Sohn frei | |
– inschallah“, so Gott will. | |
Viele weibliche Gewaltopfer, die es sich leisten können, verlassen | |
Pakistan. Khadija Siddiqui bleibt. Und kämpft weiter: Gerichtstermine, | |
Social-Media-Kampagnen, öffentliche Auftritte. Und seit einiger Zeit kommen | |
die Rechte von Frauen in Pakistan tatsächlich in Bewegung: Die Haftstrafe | |
von Männern beträgt mittlerweile bei Ehrenmord bis zu 25 Jahre. Gerichte | |
dürfen die DNA als Beweismittel nutzen. Und Punjab verabschiedete als | |
dritte pakistanische Provinz ein Gesetz, das häusliche Gewalt verbietet. | |
Doch Anwälte, NGOs und Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass die | |
vorhandenen Gesetze vor Gericht selten angewendet werden. „Wenn sich Frauen | |
in Pakistan vor Gericht wehren wollen“, sagt Mehdi Hasan, Vorsitzender der | |
pakistanischen Menschenrechtskommission, „müssen sie Beweise, Zeugen, | |
Termine, Anwälte organisieren. In einer undurchsichtigen Umgebung. Beinahe | |
unmöglich.“ | |
Und dennoch: In Siddiquis einstiger Grundschule, die nun ihre kleine | |
Schwester besucht, scheint die Veränderung bereits stattzufinden. Als sie | |
die Schwester abholt, springen Mädchen in roten Schuluniformen auf sie zu. | |
„Wir sind so stolz auf dich!“, rufen sie und wollen sie umarmen. „Glaubt … | |
euch“, sagt Siddiqui. „Und kämpft für eure Rechte!“ Sie selbst setzt ihr | |
Jurastudium fort. | |
Anfang Juni, zurück in Deutschland, kommt eine Nachricht aus Pakistan. Der | |
Oberste Gerichtshof in Lahore hat Shah Hussain freigesprochen. Khadija | |
Siddiqui wird die Entscheidung beim Obersten Bundesgerichtshof anfechten. | |
Lesen Sie auch: [1][Wahlkampf in Pakistan Vom Playboy zum religiösen | |
Eiferer] | |
25 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlkampf-in-Pakistan/!5519573 | |
## AUTOREN | |
Luisa Willmann | |
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