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# taz.de -- Psychiatrieopfer scheitert mit Klage: „Nicht zuständig“
> Vera Stein ist in den 70er-Jahren in der Bremer Psychiatrie festgehalten
> worden. Nun forderte sie eine Entschädigung, aber der Gerichtshof für
> Menschenrechte wies die Klage ab.
Bild: War für Vera Stein wie ein Gefängnis: die Klinik Dr. Heines
HAMBURG taz | „Ich war wie meine Schwestern ganz normal auf dem Gymnasium,
bevor ich das erste Mal eingesperrt wurde“, sagt Vera Stein. Doch ihr Leben
verlief nicht normal. Das Telefonieren strengt sie an. Sie muss es kurz
machen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
vom 19. Juli 2018 hat sie noch nicht gelesen. Nur, dass ihre erneute
Beschwerde abgelehnt wurde, hat sie schon von ihrem Anwalt erfahren.
Fast 20 Jahre schon kämpft die heute 59-Jährige, die eigentlich anders
heißt, gegen das Unrecht, dass ihr Ende der 1970er-Jahre in der Psychiatrie
zugefügt wurde. Vom 15. bis zum 22. Lebensjahr war sie in psychiatrischen
Krankenhäusern, davon vier Jahre lang geschlossen untergebracht. Ihr wurden
Medikamente wie Neuroleptika verabreicht, die sie eigentlich nicht hätte
bekommen dürfen. Von der Behandlung trug sie schwere körperliche Schäden
davon. Heute ist sie auf den Rollstuhl angewiesen, ihre Gesundheit
ruiniert.
Die Ärzte in einer Uniklinik hatten die Verdachtsdiagnose Hebephrenie
gestellt, eine Form der Schizophrenie, die in der Pubertät auftritt. Erst
als Vera Stein erwachsen ist, holt sie sich Hilfe und unabhängige
Gutachter. „Frau Stein hatte nie eine Hebephrenie“, schreibt die Hamburger
Kinder- und Jugendpsychiaterin Charlotte Köttgen, die dem Fall auch ein
Kapitel in ihrem Buch „Ausgegrenzt und mittendrin“ gewidmet hat.
Er sei ein Lehrbeispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Denn zu jener
Zeit habe die Psychiatrie-Enquetekommission des Bundestages längst ihren
Bericht vorgelegt und eine Reform eingeleitet. Auch hätten schon Ende der
1960er-Jahre Mediziner vor den schweren Folgen der Neuroleptika gewarnt.
Vera Stein hatte nur eine Pubertätskrise, wie viele sie haben, schreibt
Köttgen. In den Kliniken, die Stein auf Drängen ihres Vaters aufnahmen,
seien altersgemäße emotionale Regungen pathologisiert, sprich zur Krankheit
erklärt worden. Sieben Jahre lang sei Stein ohne Gespräche,
Familienberatung, schulische Förderung und Arbeitsangebote hospitalisiert
worden. Zudem hätten die Ärzte die Folgen einer Kinderlähmung, die Stein
als Dreijährige hatte, verkannt.
Bei der deutschen Justiz kam Stein, die gegen mehrere Kliniken klagte,
nicht weit. Lediglich ein Prozess gegen eine Uniklinik endete mit einem
Vergleich. Doch mit Hilfe zweier Gutachten erreicht Stein im Juni 2005
etwas Besonderes: Genau 30 Jahre nach ihrer ersten Einweisung bekam sie
Recht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugesprochen.
Denn zwischen 1977 und 1979 war die damals 18-Jährige ohne richterlichen
Beschluss und gegen ihren Willen in der privaten Klinik Dr. Heines in
Bremen festgehalten worden, und zwar in der geschlossenen Abteilung. Sie
sei unter Zwang mit Psychopharmaka behandelt und an ihr Bett oder die
Heizung gefesselt worden, berichtet sie.
## Nicht ermittelt wurde der materielle Schaden
Mehrfach versuchte sie zu fliehen und wurde von der Polizei dorthin
zurückgebracht. „In dem Moment, wo sie ausbricht und sogar in Handschellen
zurückgeführt wird, bringt sie in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, ich will
nicht eingesperrt werden“, sagte Rechtsanwalt Sebastian Schattenfroh schon
2001 in einer Dokumentation der Sendung „Kontraste“.
Der EGMR entschied, dass die Behandlung gegen die Europäische Konvention
für Menschenrechte verstoßen habe, konkret gegen Artikel 5, das Recht auf
Freiheit und Sicherheit, und Artikel 8, Recht auf Achtung des Privat- und
Familienlebens. Der deutsche Staat sollte ihr 75.000 Euro Schmerzensgeld
für den immateriellen Schaden zahlen.
Nicht ermitteln konnten die Straßburger Richter seinerzeit den materiellen
Schaden: die Kosten der Heilbehandlung und jenes Geld, das Stein entgangen
ist, weil sie nicht wie ihre Schwestern eine berufliche Karriere aufnehmen
konnte.
## Fehlende Erfolgsaussichten
Deshalb klagte Stein nach 2005 erneut vor deutschen Gerichten. Sie will das
Geld von der Klinik, die einen neuen Betreiber hat. Im Oktober 2005
beantragte sie beim Oberlandesgericht Bremen eine Prozesskostenhilfe, um
ihr früheres Schadenersatzverfahrens gegen die Klinik wieder aufnehmen zu
können.
Doch das Bremer Gericht lehnt den Antrag wegen fehlender Erfolgsaussichten
ab. Das deutsche Recht kannte zu dieser Zeit noch keine Wiederaufnahme von
Zivilverfahren.
Deshalb wandte sich die Frau, die heute in Hessen lebt und selbst schon
vier Bücher zu dem Thema geschrieben hat, erneut an das Straßburger
Gericht. Sie fordert eine Pension von 1.700 Euro im Monat für entgangene
Verdienste und ein Schmerzensgeld von 425.000 Euro.
## Ausgang offen
Doch diesmal ist sie mit der Beschwerde gegen Deutschland gescheitert. Weil
diese keine neuen Rechtsfragen aufwerfe, sei sie zum Teil als unzulässig
abgewiesen worden, teilte das Gericht am Donnerstag mit. Auch sei nicht das
Gericht dafür zuständig, die Umsetzung seiner Urteile in den jeweiligen
Ländern zu prüfen, sondern das „Ministerkomitee“ des Europarats.
Diesem Gremien, das ein, zwei Mal im Jahr tagt, liegt ebenfalls schon seit
2014 eine neue Beschwerde Steins vor. Das Komitee habe die Entscheidung des
Gerichts abgewartet, heißt es im Straßburger Gericht.
Der endgültige Ausgang von Vera Steins Gerichts-Odyssee ist also noch
offen. 2007 hatte sich das Ministerkomitee schon einmal zu der Umsetzung
geäußert und die Erwartung kund getan, dass der Frau im vollen Umfang
Wiedergutmachung gewährt wird. Das ist noch nicht passiert.
19 Jul 2018
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Psychiatrie
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Schmerzensgeld
Schizophrenie
Bremen
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