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# taz.de -- Aufarbeitung des NSU-Komplexes: Es hört nicht auf
> Das Urteil ist verkündet: Beate Zschäpe hat „lebenslang“ bekommen.
> Migrant*innen in Deutschland werden sich aber nicht sicher fühlen.
Bild: Rassistisch motivierte Morde geraten allzu schnell in Vergessenheit
Am vergangenen Wochenende fanden in [1][Klagenfurt die Tage der
deutschsprachigen Literatur] statt. Eine der Teilnehmerinnen war Özlem
Özgül Dündar, geboren 1983 in Solingen. Der Titel des literarischen Textes,
mit dem sie zum Wettbewerb um den Bachmannpreis antrat, lautete: „Und ich
brenne“. Darin berichten vier Mütter von einem Brandanschlag auf ein
Wohnhaus.
Eines der Jurymitglieder sagte in der an die Lesung anschließenden
Diskussion: „Es hat diesen Brand offensichtlich gegeben, mit einem
eventuellen rechtsradikalen Hintergrund. (..) Im Begleitschreiben zu diesem
Text stand, dass es sich um einen tatsächlichen Vorfall handelt, wenn ich
mich richtig erinnere, aus dem Ruhrgebiet, ich bin nicht mehr ganz sicher.“
Ich saß vor dem Fernseher, fassungslos. Und verletzt. Dabei bin ich die
letzte Person, die Menschen aufgrund ihrer Wissenslücken verurteilt. Ich
selbst habe viel mehr Lücken, was Allgemeinwissen oder die Kenntnis über
deutsche Historie angeht, als eine Journalistin sich erlauben sollte. Ich
weiß darum, es ist mir unangenehm. Und doch konnte ich einfach kein
Verständnis für diese Aussage in Klagenfurt aufbringen.
Warum nur? Vielleicht, weil der [2][Brandanschlag von Solingen] 1993,
obwohl ich damals erst sechs Jahre alt war, in meiner Wahrnehmung ein so
zentrales historisches Ereignis ist, dass ich immer annahm, alle wüssten
davon.
Weil der Anschlag nur ein Tiefpunkt einer längeren Welle rassistischer
Anschläge war und fünf Menschen bei dem Brand in ihrem eigenen Zuhause ums
Leben kamen, dachte ich, alle Deutschen kennen Solingen. Wissen, dass
Solingen nicht im Ruhrgebiet liegt. Aber so ist es anscheinend nicht.
Solingen ist im kollektiven Gedächtnis längst vergessen.
## An der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung ist zu zweifeln
Seit der [3][Urteilsverkündung am Mittwochmorgen] in München frage ich
mich: Wird dasselbe mit den NSU-Morden passieren? Natürlich nicht, werden
mich nun viele beruhigen wollen. Allein die Tatsache, dass die drei
Rechtsterroristen zehn Jahre lang im Untergrund leben konnten, gezielt
Menschen mit Migrationshintergrund auswählten, ihnen auflauerten und sie
ermordeten, dabei nie auch nur in Verdacht gerieten, ist so eine große
Tragödie für den deutschen Staat und die Sicherheitsbehörden, dass dies
niemand vergessen wird.
So wird der fünf Jahre lange Prozess gegen die einzige Überlebende des
Tätertrios, Beate Zschäpe, und einige Mitglieder ihres Helfernetzwerks wohl
als wichtigster Strafprozess der Nachkriegszeit gegen Rechtsterrorismus in
die Geschichte eingehen.
Ja, die Dimension der NSU-Morde ist eine andere, als die des Anschlags in
Solingen vor 25 Jahren. Doch ein entscheidendes Merkmal verbindet die
beiden Fälle: ihr Motiv. Und allein das ist Grund genug, an der
gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung dieses Falls zu zweifeln.
Die Menschen, die allesamt vom NSU durch Kopfschüsse mit ein und derselben
Waffe in den Jahren 2000 bis 2006 hingerichtet wurden, hießen Enver Şimşek,
Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, �…
Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat. (Michèle
Kiesewetter wurde 2007 mit einer anderen Waffe getötet.)
## Rassismuskritik ist eine Überlebensstrategie
Die meisten Deutschen werden sich diese Namen nicht merken, geschweige denn
sie aussprechen können. Die Namen sind fremd. Sie können sich nicht mit den
Opfern identifizieren. Das ist weder abwertend noch hetzerisch gemeint. Es
ist nur eine Feststellung. Ich kann mich mit den Opfern identifizieren. Ich
habe Angst. Ich denke: Das hätte mein Vater sein können.
Ich würde behaupten, diese Angst kennen viele. Sie schwingt in jeder Kritik
der Debatten über das N-Wort mit. Sie wohnt in den Warnungen vor der
unbedarften Übernahme von AfD-Positionen und der Normalisierung von rechten
Kampfbegriffen.
Rassismuskritik wird neuerdings oft als blöde Sprachverbotsforderung
belächelt. Das ist sie nicht. Rassismuskritik ist eine Überlebensstrategie.
Sie soll dabei helfen, eine Gesellschaft zu gestalten, in der Solingen und
der NSU nicht vergessen, oder am besten nie passieren werden. Eine
Gesellschaft, in der ein ermordeter Halit genauso viel wert ist wie ein
ermordeter Heinz.
Nun, da Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt wurde: Fühlen meine
Familie, meine Freund*innen und ich uns sicherer? Nein. Lindert es den
Schmerz der Angehörigen, dass Zschäpes Taktik vor Gericht, die naive
unwissende Mitläuferin zu geben, nicht aufgegangen ist? Ich bezweifle es.
## Ein Staat, der systematisch benachteiligt
Vielleicht hört der Schmerz nie auf. Nicht nur, weil die Strafen für die
Mitangeklagten, die den NSU beim Morden maßgeblich unterstützten,
erschreckend milde ausgefallen sind. Vor allem die Verstrickungen
staatlicher Behörden wie der Verfassungsschutz in die Mordserie sind
komplett offengeblieben.
Obwohl diverse V-Personen sich vor und nach dem Abtauchen des Terrortrios
in dessen unmittelbarem Umfeld befanden. Obwohl
Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme, der in seinem Heimatdorf
„Klein Adolf“ genannt wird, am Tag des Mordes an Halit Yozgat sich in
dessen Internetcafé in Kassel aufhielt.
Der hessische Verfassungsschutz fertigte einen Bericht an mit wichtigen
Informationen, über 30 Belegen zu Kontakten des NSU zur lokalen
Neonaziszene – und ordnete seine Geheimhaltung für 120 Jahre an. Bis 2134
bleibt diese Akte verschlossen! Ist es nicht erschütternd, wie vehement die
Aufklärung des staatlichen Versagens in diesem Fall abgewehrt wird?
[4][Institutioneller Rassismus] ist ein schweres Wort, es klingt so
abstrakt und hochgestochen. Aber es beschreibt sehr präzise die
Lebensrealität von vielen Menschen in diesem Land: Wir leben in einem
Staat, der uns systematisch benachteiligt, verdächtigt und uns nicht
denselben Schutz bietet, wie weißen Mitbürger*innen mit deutschem Namen.
## Ein gebrochenes Versprechen
Ich habe oben die Namen der Opfer aufgezählt. Acht von ihnen sind türkisch,
einer ist griechisch. Wie kann es sein, dass bei solch einer Namensliste
die Behörden all die Jahre nicht auf die Idee kamen, im rechten Milieu zu
ermitteln? Wieso gingen die Ermittlungen streng in Richtung des eigenen
Umfelds und ins Drogenmilieu?
Rassismus ist ein Problem, das sich immerzu reproduziert, indem es
unsichtbar gemacht wird. Angela Merkel hat es sehr schön gesagt, bei ihrer
Gedenkrede für die NSU-Opfer im Februar 2014: „Gleichgültigkeit – sie hat
eine schleichende, aber verheerende Wirkung. Sie treibt Risse mitten durch
unsere Gesellschaft. Gleichgültigkeit hinterlässt auch die Opfer ohne
Namen, ohne Gesicht, ohne Geschichte.“ In derselben Rede versprach die
Kanzlerin auch, die Morde und die Hintermänner und die Helfershelfer
aufzudecken. Dieses Versprechen wurde gebrochen.
Vielleicht kann aber doch verhindert werden, dass die Opfer ohne Namen und
ohne Gesicht bleiben. Dass der NSU-Komplex mit diesen Gerichtsurteilen als
abgeschlossen und aufgearbeitet gilt. Denn er ist nicht aufgearbeitet.
Darauf beharren viele engagierte Menschen, die am Mittwoch in mehreren
deutschen Städten unter dem Slogan „Kein Schlussstrich“ demonstrierten.
Ihre Forderung: Das gesamte Netzwerk und die Strukturen um den NSU müssen
aufgedeckt werden. Denn nur so kann eine ernstzunehmende Aufarbeitung
erfolgen. Und die Namen Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman
Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarid…
Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat sich im kollektiven Gedächtnis verankert. Denn
dort gehören sie hin.
Anmerkung: In einer früheren Version des Textes wurde Andreas Temme als
V-Mann bezeichnet. Das stimmt nicht, er ist Mitarbeiter des
Verfassungsschutzes.
11 Jul 2018
## LINKS
[1] /Bachmann-Preis-fuer-Tanja-Maljartschuk/!5515988
[2] /Brandanschlag-in-Solingen/!5505947
[3] /Urteil-im-NSU-Prozess/!5521706
[4] /Institutioneller-Rassismus-in-Deutschland/!5210596
## AUTOREN
Fatma Aydemir
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