# taz.de -- Kolumne Leuchten der Menschheit: Dobermann springt vom Balkon | |
> In Deutschland lesen weniger Leute Bücher. Sind die Smartphones schuld? | |
> IT-Guru Jaron Lanier warnt inzwischen vor Social Media. | |
Bild: Wer hier mit Nazi-Tattoos rumläuft, kann auch mal Probleme mit der Poliz… | |
Ich wische, also bin ich. Ganz analog beobachte ich zunächst eine Szene an | |
der Badestelle der Dahme in Eichwalde am südöstlichen Stadtrand Berlins. | |
Sehr heterogenes Publikum. Vier Beamte der Brandenburger Polizei tauchen | |
auf, kontrollieren einen schwer muskelbepackten Mann. Er muss sich | |
anziehen. | |
Auf meinen Smartphone lese ich zwei Tage später: „Laut RBB haben Gäste | |
eines Strandbades in Eichwalde (Dahme-Spreewald) die Polizei geholt, weil | |
ein Mann mit einem Nazi-Tattoo herumgelaufen ist. ‚Meine Ehre heißt Treue‘ | |
stand auf – seinem Bauch. Das ist die Parole der Waffen-SS. Folge: | |
Ankleiden, dann Strafverfahren.“ Toll, der bekennende Nazi bekommt sogar | |
eine Anzeige. | |
Ich weiß, gerade ist es sehr en vogue, auf die sozialen „Wisch“-Medien | |
einzudreschen. Jeder wischt, aber viele schämen sich dafür – und können | |
doch nicht anders. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat eine | |
Studie veröffentlicht, nach der sich 6,4 Millionen Menschen von 2013 bis | |
2017 in Deutschland vom Buchlesen verabschiedet haben. | |
## Wisch und weg | |
Sie lesen auch nicht im E-Book-Format, sondern nur noch das, was Individuen | |
oder Institutionen in den sozialen Medien so posten. Wisch und weg. Dabei | |
geben viele (jüngere) Menschen an, von der digitalen Dauerkommunikation so | |
erschöpft zu sein, dass sie allenfalls noch Fernsehserien gucken – Netflix | |
statt Romane. | |
Von einem reinen Manipulations- und Suchtinstrument bei Smartphone und Co | |
spricht inzwischen Jaron Lanier. Gerade ist sein Pamphlet „Zehn Gründe, | |
warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ erschienen | |
(HoCa, 2018). Lanier prägte die digitale Realität einst bejahend mit. Heute | |
warnt er vor naiver Datenpreisgabe und organisiertem Missbrauch. Manches | |
klingt bei Lanier inzwischen jedoch nach Überwachungsparanoia, weniger nach | |
einer qualitativen Strategie für den Umgang mit neuen Medien. | |
Und so wische ich doch noch einmal über mein Smartphone. Und stoße auf | |
einen weiteren interessanten Tweet der Berliner Polizei vom 11. Juni, | |
Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Anwohner rufen um 21.45 Uhr die Polizei, weil | |
vom Balkon eines Hochhauses Schüsse abgegeben werden. „Nach Vorliegen eines | |
Durchsuchungsbeschlusses verschafften sich die Beamten eines | |
Spezialeinsatzkommandos Zugang zur entsprechenden Wohnung in der siebten | |
Etage. | |
Dort trafen sie auf zwei Männer im Alter von 24 Jahren und fanden zwei | |
Schreckschusswaffen mit Munition, welche beschlagnahmt wurden.“ Mit in der | |
Wohnung und auf dem Balkon ein Hund, ein „Stafford-Dobermann-Mix“. | |
Verängstigt stürzt sich das Tier beim Zugriff des SEKs laut Polizei-Tweet | |
„bei seiner Flucht vom Balkon in die Tiefe und verstarb“. Wisch und weg. | |
Wer also nicht – wie es Autor Lanier empfiehlt – seine Zugänge zu den | |
sozialen Netzwerken löschen will, aber von Katzenfotos und Co genug hat, | |
sollte Tweets wie denen der Berliner Polizei folgen. Da wird gelegentlich | |
auf doch eher transparente Weise überwacht. | |
19 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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