# taz.de -- Kritik Friedenspreis an Jaron Lanier: Die Maschine ist ein Teil von… | |
> Jaron Lanier erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Dabei | |
> hat er die Probleme des Netzzeitalters missverstanden. | |
Bild: Lanier macht das Internet für den Niedergang der Mittelklasse verantwort… | |
Wenn am Sonntagvormittag bei der [1][Verleihung des Friedenspreises des | |
deutschen Buchhandels] in der Frankfurter Paulskirche die Kameras der ARD | |
auf Sendung gehen, wird der Börsenverein Jaron Lanier als eminenten | |
Kritiker des Internetzeitalters ehren. | |
Ist Jaron Lanier aber die Person, die die deutsche Öffentlichkeit in dem | |
Mann mit den Dreadlocks zu sehen glaubt? Man liest, Jaron Lanier sei nicht | |
nur einer der „wichtigsten Konstrukteure der digitalen Welt“. Er gilt gar | |
als „Informatiker, der das Internet mitentwickelte“. Kaum einer stellte | |
diese Einschätzungen in Frage, man nahm sie hin wie eine sattsam bekannte | |
Wahrheit. Florian Cramer [2][schrieb auf dem Blog] des Merkur: „Nichts | |
davon stimmt.“ Wer wissen will, warum Lanier nicht zu den Architekten des | |
Internets zählt, sollte Cramers Beitrag lesen. | |
Abgesehen davon hat Lanier das Internet so gründlich missverstanden wie | |
kaum jemand anderes. Mitte der achtziger Jahre propagierte er die | |
„virtuelle Realität“, in die man alsbald mittels Datenbrille und | |
Datenhandschuh eintauchen würde. Von dieser virtuellen Realität ist damals | |
wie heute im alltäglichen Gebrauch des Netzes wenig bis gar nichts zu | |
spüren. | |
Das Netz basiert auf Text. Zum einen ist das der Code, der technisch der | |
Kommunikation im Netz zugrunde liegt. Zum anderen ist das Medium, durch das | |
wir im Netz kommunizieren, ebenfalls Text. | |
## Ohne Text wäre das Netz unbrauchbar | |
Die bunten Bilder haben das Internet einst über die Zirkel der Hacker und | |
Nerds hinaus attraktiv gemacht. Die eigentliche Revolution aber trug den | |
Namen E-Mail. Ohne Text wäre das Netz schlicht unbrauchbar: Was wären | |
Google, Facebook und Twitter ohne ihn? | |
Auch Smartphones sind Geräte, auf denen vor allem Textnachrichten | |
ausgetauscht werden. Insofern ist richtig, wenn Florian Cramer schreibt, | |
dass der deutsche Buchhandel nun ironischerweise einen Computerentwickler | |
auszeichnet, „der Zeit seines Lebens versucht hat, Computer und digitale | |
Medien von der Dominanz der geschriebenen Sprache zu befreien“. | |
Laniers 2013 erschienenem Buch „Who owns the future?“ liegt die Erkenntnis | |
zugrunde, dass die Gratiskultur im Netz zum Problem geworden ist. [3][In | |
einem Interview hat er erklärt]: „Das Dogma oder die Internetideologie | |
lehrt uns: Ja, schon richtig, wir zwingen Musiker, ihre Musik kostenlos | |
abzugeben, aber dafür bekommen sie ebenfalls kostenlose Publicity, mit | |
deren Hilfe sie andere Sachen verkaufen können. Für bereits bekannte | |
Künstler wie Radiohead mag die Rechnung aufgehen, für alle anderen ist das | |
nicht der Fall.“ | |
So richtig Laniers Beobachtung ist, so widersprüchlich ist sein Vorschlag | |
zur Behebung dieses Missstandes, schlägt er doch ein System von | |
Mikrozahlungen vor. Das Beispiel Spotify lehrt uns aber, dass Musiker auch | |
von Mikrozahlungen fürs Abspielen ihrer Stücke nicht leben können – außer | |
sie heißen Radiohead. | |
## Der gute libertäre Kalifornier | |
Lanier glaubt gar, kommerzielle Rechte jedes Einzelnen an jeder Äußerung im | |
Netz eigneten sich besser, das Problem zu lösen, als neue Formen eines | |
bürgerlichen Rechts auf Privatsphäre. Aber wird Jaron Lanier am Sonntag | |
denn nicht als Verfechter von mehr individuellen Rechten gegenüber | |
Datenkraken wie Google geehrt, deren Geschäftsmethoden er mit der | |
Erpressung von Schutzgeldern vergleicht? Das stimmt schon, nur ist | |
anscheinend keinem aufgefallen, dass Lanier als guter libertärer | |
Kalifornier an technologische Lösungen für ökonomische Probleme glaubt: | |
Programmieren wir also einen Marktplatz dafür. | |
Zuletzt hat Lanier das Internet für den Niedergang der Mittelklasse | |
verantwortlich gemacht. Das Netz habe viele Menschen aus der formellen | |
Ökonomie der entwickelten westlichen Länder in die informelle Ökonomie | |
zurückgedrängt. Sicher ist das Netz Teil dieses Problems. Es ist aber weder | |
seine alleinige Ursache noch seine Lösung. | |
[4][Wenn Amazon keine Steuern zahlt], muss die Politik länderübergreifend | |
dagegen angehen. [5][Wenn Amazon weit unter Tarif zahlt], müssen die | |
Arbeiter streiken. Und die Konsumenten sollten überlegen, ob sie nicht doch | |
beim Buchhändler ihres Vertrauens ihren Schmöker bestellen. | |
Wenn man schließlich die Frage der digitalen Demokratie stellen will, wie | |
Lanier es in seinem Beitrag über das Vergessen im Netz getan hat, wo er ein | |
Demokratiedefizit konstatiert, weil Suchmaschinenbetreiber die | |
unvorsichtigen Äußerungen von Usern im Netz nicht löschen wollen, dann muss | |
die Analyse woanders beginnen. | |
## Das Sammeln von Daten als Privileg | |
Evgeny Morozov ist näher an den Kern der Frage herangerückt, [6][als er | |
schrieb]: „Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht die | |
mangelnde Kontrolle über unsere Daten, sondern die Tatsache, dass moderne | |
politische Systeme, die über solche Datenmengen verfügen, den Bürger für | |
entbehrlich halten – und Bürger, die sich im digitalen Vergnügungspark | |
namens ’Content‘ amüsieren, nur allzu bereit sind, sich aus der Sphäre des | |
Politischen zurückzuziehen.“ | |
Nur wer flüchtig liest oder sich die Recherche spart, kann Lanier für einen | |
humanistischen, sozialdemokratischen Ideengeber fürs digitale Zeitalter | |
halten. Und nur wer einem altertümlichen Authentizitätsbegriff huldigt, | |
kann, wie es der Stiftungsrat des Friedenspreises [7][in seiner Begründung] | |
tut, „die immer größere werdende Diskrepanz zwischen Mensch und Maschine, | |
Wirklichkeit und virtueller Realität“ als wesentliches Problem unserer Zeit | |
beschreiben. | |
Die Maschine ist ein Teil von uns, und der Chat mit einem Lover übers | |
Mobiltelefon nicht unwirklicher als ein lauschiger Plausch in der Laube. | |
Die Fragen, die das Internet uns stellt, sind zu wichtig geworden, um sie | |
an Entwickler zu delegieren. Das vielleicht größte Problem, dem wir uns | |
gegenübersehen, ist ökonomisch-politischer Natur: Das Sammeln von Daten und | |
das Verwandeln von Aufmerksamkeit in Geld ist Privileg einiger weniger | |
geworden. | |
11 Oct 2014 | |
## LINKS | |
[1] /!139825/ | |
[2] http://www.merkur-blog.de/2014/06/virtuelle-realitaet-der-friedenspreis-fue… | |
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/netzkultur-der-digitale-maoi… | |
[4] /!91782/ | |
[5] /!129513/ | |
[6] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/silicon-demokratie/kolumne-silicon-de… | |
[7] http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/445722/?aid=800948 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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