# taz.de -- Unions Mythenjahr 1968: Von der Geschichte weggekickt | |
> Vor 50 Jahren holte der 1. FC Union den DDR-Pokal. Dass der Sieg den | |
> Köpenickern kein Glück brachte, hat mit dem Prager Frühling zu tun. | |
Bild: Hat schon was mit Fußball zu tun: Tumultszenen 1968 beim Einmarsch nach … | |
Beim letzten Saisonheimspiel wurde im Köpenicker Fußball-Forst eine | |
imposante Choreo für die ewigen Titelhelden des 1. FC Union zelebriert. Vor | |
50 Jahren, genau am 9. Juni 1968, hatte der Verein nach dem Finalsieg gegen | |
den Favoriten FC Carl Zeiss Jena sensationell den DDR-Pokal gewonnen. Der | |
(vom Gewerkschaftsbund gestiftete) FDGB-Pokal ist bis heute der einzige | |
nationale Titel der Eisernen. | |
Bei der Fan-Inszenierung im Stadion wurde den Spielern von damals jeweils | |
mit einem Einzelbild gehuldigt. Auch Günter „Jimmy“ Hoge, der vergangenen | |
November gestorben ist. Jimmy ist der vielleicht legendärste Union-Spieler, | |
nicht nur wegen seines Könnens als Außenstürmer, sondern auch, weil er als | |
Typ jene Aufmüpfigkeit ausstrahlte, die das Union-Image in der DDR prägte. | |
Jimmy pflegte kein bewusstes Widerständlertum, er wollte sich nur nicht in | |
seinen Vorlieben einschränken lassen. Zu denen gehörte, dass er gern einen | |
trank. | |
Auch als ich mich vor Jahren mal zu einem Gespräch in Hellersdorf, wo er | |
wohnte, mit ihm verabredete, trafen wir uns in einer kleinen Destille. Wir | |
sprachen über den Pokalsieg und 1968, das Mythenjahr, das im Westen eins | |
ist wegen Sex, Straßenschlachten und Rock ’n’ Roll und im Osten wegen Sex, | |
Westrockhören und von Panzern überrollter politischer Hoffnungen. Hoges | |
erster Kommentar zum Jahr 1968 lautete nur: „Scheiße.“ | |
Der gebürtige Berliner war damals sportlich obenauf, sogar | |
DDR-Nationalspieler. Ein politisch interessierter Mann war er nie, aber die | |
größte Enttäuschung seines Sportlerlebens hat mit jenen Panzern zu tun, die | |
im August 1968 in Prag den kurzen Frühling eines demokratischen Sozialismus | |
niederwalzten. Denn in der Folge durften er und seine Mannschaftskameraden, | |
obwohl qualifiziert, nicht im Europapokal der Pokalsieger spielen. | |
„Die haben uns einfach verarscht“, sagte Hoge. „Verarscht“ ist für vie… | |
Unioner ein Schlüsselwort bei der Betrachtung ihrer Vereinsgeschichte. Das | |
Selbstverständnis des jetzigen Zweitligisten basiert auf seinem früheren | |
Underdogstatus, inklusive des regelmäßigen Verschaukeltwerdens von der | |
großen Politik. Manches ist Schwarz-Weiß-Sicht, aber 68 war in der Tat ein | |
Jahr, das für die Köpenicker strahlend weiß begann und schwarz endete. | |
## Grenzenlose Begeisterung | |
Zunächst lief alles bestens, ja so gut wie nie zuvor in der kurzen | |
Geschichte des 1966 neu gegründeten Klubs 1. FC Union Berlin, der viel | |
weniger protegiert wurde als die anderen Großklubs der DDR. Als | |
Oberliga-Außenseiter hatte er in der Saison 67/68 überraschend das | |
FDGB-Pokalfinale in Halle/Saale erreicht und sogar 2:1 gegen DDR-Meister | |
Jena gewonnen. Die Begeisterung in Ostberlin kannte keine Grenzen: Eintrag | |
ins „Goldene Buch“ der Stadt, Ansturm von neuen Union-Mitgliedern und | |
Aussicht auf Europacup-Spiele, gar gegen Teams aus dem Westen. | |
Was auch für die Union-Spieler das Allergrößte war, da man ja sonst immer | |
nur gegen Polen und Tschechen gespielt hatte. „Dat konnste doch vergessen“, | |
wie Hoge sagte. Zur Vorbereitung auf die neue Saison 68/69 gab es für das | |
Union-Team eine Reise in die Sowjetunion, nach Sotschi ans Schwarze Meer. | |
„Neckermann-Hotel und allet umsonst“, aber das habe ihn nicht gejuckt, | |
meinte Hoge. „Ick wollte im Europacup spielen!“ | |
Und in dem Wettbewerb schienen sogar mehr als nur zwei Erstrundenspiele | |
drin. Die Auslosung in Zürich bescherte den Berlinern als Gegner den | |
jugoslawischen FC Bor. Machbar, fanden die meisten, nur Vizeklubchef Günter | |
Mielis warnte vor Übermut: „Wir meinen gut daran zu tun, uns nicht in | |
Illusionen zu wiegen.“ | |
Was sportlich gemeint war, entpuppte sich als bittere Prophezeiung. Nachdem | |
die Truppen der Ostblockstaaten am 21. August 1968 in Prag einmarschiert | |
waren, eskalierte der politische Ost-West-Konflikt. Einige westeuropäische | |
Fußballklubs, vorneweg AC Mailand, machten klar, dass sie nicht gegen die | |
Ostvereine antreten würden. Um den Europacupwettbewerb zu retten, führte | |
die Uefa eine Neuauslosung durch, nach der zunächst die Ost- und | |
Westvereine in Gruppen unter sich die Finalgegner bestimmen sollten. Da das | |
die Verbände der meisten sozialistischen Staaten als politische | |
Diskriminierung betrachteten, zogen sie ihre Mannschaften zurück. Und so | |
verfielen die bereits gedruckten Eintrittskarten für das neu ausgeloste | |
Duell 1. FC Union gegen Dynamo Moskau. | |
## Es folgt die Depression | |
Der Euphorie folgten Depressionen bei den Eisernen, weil sie wussten, dass | |
der Verein solch eine Chance wohl nie wieder kriegen würde. Vor allem die | |
Unioner Spieler waren sich einig, dass sie als Sportler ausbaden mussten, | |
was die Politiker verzapft hatten. Den Weg in die DDR-Presse fand diese | |
Kritik nicht. Stattdessen segnete das Oberligakollektiv eine vom Verband | |
erwartete Solidaritätserklärung bezüglich des Spielverzichtbeschlusses ab. | |
In der Folge taumelte Union sportlich bergab. Ein Mix aus Pleiten, Pech und | |
Personalpolitik (Hoge wurde wegen „charakterlicher Schwächen“ gesperrt) | |
bewirkte den direkten Abstieg aus der DDR-Oberliga. Der Prager Frühling | |
geriet für Union zum Winter der Vereinsgeschichte und 68 zum Mythenjahr für | |
Fußball-Köpenick. Erst 33 Jahre später spielten die Unioner als | |
DFB-Pokalfinalist doch noch im Uefa-Cup. Wobei sie nach dem Flug am 12. | |
September 2001 in Finnland erfuhren, dass die Uefa wegen der New Yorker | |
Terroranschläge am Vortag auch ihr Spiel gegen den FC Haka Valkeakoski | |
gestrichen hatte. Es fand acht Tage später statt. | |
Wenn Union etwas mehr vorzuweisen hat als sportliche Erfolge, dann | |
mythische Vereinsgeschichten, über die manchmal sogar die Welt spricht: wie | |
2014 über das WM-Wohnzimmergucken in der Alten Försterei. In diesem Jahr | |
zur WM in Russland fällt es aus – so wie 1968 das Pokalspiel Union gegen | |
Dynamo Moskau. | |
9 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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