# taz.de -- Gegen die Fifa protestieren: Vergesst Putin! Wir schauen jetzt WM! | |
> Sinkende Einschaltquoten könnten die Fifa davon überzeugen, eine | |
> Fußball-WM nicht an autoritäre Staaten zu geben, heißt es. Stimmt nicht | |
> ganz. | |
Bild: Stell dir vor, es ist WM und keiner geht hin | |
Der Schriftsteller Ilija Trojanow hat zum Fernsehboykott der Fußball-WM in | |
Putins Russland aufgerufen. Er glaubt nicht an die Handlungskraft oder | |
-bereitschaft der Politik, aber an die Kraft der sinkenden Einschaltquoten. | |
Das Manifest, das er dazu mit Klaus Zeyringer veröffentlicht hat, kommt | |
einem komplett unrealistisch vor. Aber er hält es für die einzige | |
Möglichkeit der gesellschaftlichen Intervention. | |
Wenn wirklich viele mitmachten und die Fernsehzuschauerzahlen einbrächen, | |
dann – und nur dann – würde die Fifa Konsequenzen ziehen, sagt er, und den | |
Fußball nicht autoritären Regierungen und der totalen ökonomischen | |
Ausbeutung übergeben. Insofern sei der Fernsehboykott der | |
erfolgversprechendste überhaupt. | |
Und die Liebe zum Spiel? Genau die sei nicht der Grund, trotzdem | |
zuzuschauen, denn man könne sie nur durch Ausschalten schützen und | |
bewahren, sagt Trojanow. Seine Logik: Wo man partizipiert an einem | |
korruptem und zynischen Projekt, nimmt die eigene Leidenschaft Schaden. | |
Das ist womöglich der individuell radikalste Ansatz, sich als | |
[1][politischer Mensch] handelnd zu dieser WM zu verhalten. Aber handelt | |
man damit wirklich? Für sich selbst schon. Aber: „Selbstkasteiung im | |
Wohnzimmer hat noch nie eine kollektive Bewegung hervorgebracht“, schrieb | |
der Fußballexperte und Feuilletonist Peter Körte in der FAS. | |
Meine unrepräsentativen Umfragen bei durchaus politischen Menschen haben | |
ergeben, dass die Idee moralischen Respekt erntet. Ähnlich wie der CO2-arm | |
lebende Mensch, der nie mehr fliegt und aus dem Penthouse in eine Höhle | |
umzieht. Macht aber auch keiner nach. Jetzt mal im Ernst, sagen sie, alles | |
ist so schlimm, und ich habe so viel um die Ohren, und jetzt soll ich auch | |
noch auf die WM verzichten? Och, nö. | |
## Schlimm. Aber, na ja. | |
Okay, einen Aufrechten habe ich gefunden. Aber der lebt in den | |
Niederlanden. | |
Trojanow hat einen Punkt, wenn er sagt, dass man mit dieser Einstellung | |
keinen der demokratischen und emanzipatorischen Fortschritte der Menschheit | |
vorangebracht hätte. Aber um zu einer globalen Bewegung zu werden, fehlt | |
der persönliche Gewinn und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. | |
Das erwartbare Verhalten von unsereins droht sich also darin zu genügen, | |
die unzumutbaren Zustände in der demokratisch unkontrollierten Geld- und | |
Machtmaschine Fifa und in Putins Russland mit dem gleichen Durchblickertum | |
zu beklagen wie die Personal- und Strategieentscheidungen des | |
Bundestrainers und die Ranwanz-Show der Öffentlich-Rechtlichen, inklusive | |
süffisantem Hinweis auf die Deckmäntelchenfunktion des kritischen | |
Sportjournalisten Hajo Seppelt. Schlimm. Aber, na ja. | |
Wie verhält man sich aber als [2][Verteidiger der demokratischen] und | |
offenen Gesellschaften richtig – wenn man Trojanow für weltfremd hält und | |
nicht nur lamentieren will? | |
## Bitte nicht neben Putin lächeln | |
Vielleicht kommt pragmatische Rettung aus einer völlig unerwarteten | |
Richtung, nämlich von den Grünen. Genauer gesagt von der | |
Europaparlamentarierin Rebecca Harms. Sie ist Russland- und | |
Ukraine-Expertin und wird an diesem Montag in Berlin für einen „politischen | |
Boykott“ plädieren. | |
Heißt: Lass die Spieler spielen, lass die Fußballfreunde zuschauen, aber | |
sorg’ dafür, dass die Politiker der demokratischen und offenen | |
Gesellschaften nicht Teil der Fifa- und Putin-Show werden, indem sie | |
lächelnd auf den Stadiontribünen neben dem russischen Präsidenten sitzen. | |
Nun ist das alles komplex, nicht nur wegen der Geschäftsbeziehungen, | |
sondern auch wegen zukunftspolitischer Fragen, die nicht durch totale | |
Entfremdung von Russland gelöst oder gelindert werden können. Aber die | |
britischen Politiker bleiben wegen des Giftanschlags von Salisbury und | |
wegen russischer Chemiewaffen in Syrien zu Hause, die isländischen auch; | |
das sollte auch für deutsche Staatsrepräsentanten möglich sein. | |
Speziell, wenn man Harms’ Beobachtung teilt, dass die Olympischen Spiele | |
von Sotschi die Lage der politischen Gefangenen, die Meinungs- und | |
Pressefreiheit in Russland nicht vorangebracht haben. | |
## Ansage via politische Ebene | |
Die politische Ebene ist die richtige Ebene, um eine Ansage zu machen, am | |
wirkungsvollsten, indem sich möglichst viele EU-Mitglieder | |
zusammenschließen – und speziell Frankreichs Präsident Macron und die | |
deutsche Kanzlerin Merkel auch dann nicht anreisen, wenn das Team des | |
nationalen Verbands im Finale stehen sollte. Je weniger neben ihm sitzen, | |
desto weniger Sonne fällt auf Putin. Und auf die Fifa übrigens auch. | |
Aber auch Harms’ Argumentation hat eine entscheidende Schwachstelle, und | |
die besteht darin, dass sie den falschen Eindruck verstärkt, die Teams | |
seien Vertreter der Staaten oder gar Nationen, und deshalb seien die | |
gewählten Staatschefs zuständig. Das ist mitnichten so. | |
Putin mag die WM von der Fifa gekauft haben, das sind eindeutig | |
Geschäftspartner, aber wenn Merkel in die Kabine des DFB-Verbandsteams | |
geht, so ist das, als besuche sie den Handballmeister Flensburg oder den | |
Fußballlandesligisten TSV Bordesholm. Eine nette Geste, aber komplett ohne | |
Zuständigkeit. | |
Ich gestehe ein, dass die Lage unbefriedigend ist und ich die ganz große | |
Lösung bisher auch nicht gefunden haben. Bis dahin gilt: Merkel soll zu | |
Hause bleiben. Der Bundespräsident sowieso. Erstens, weil sie nicht für das | |
Verbandsteam zuständig sind. Zweitens weil sie damit dennoch das am | |
wenigstens schlechte aller möglichen symbolpolitischen Statements abgeben. | |
Bei der bekannten Umfragenfixierung der Regierung geht es für uns Bürger | |
nun darum, das Merkel klarzumachen. | |
## Leitlinien nach Cohn-Bendit | |
Ansonsten schauen wir WM, und zwar nach den Leitlinien, die der große | |
Fußballliebende, Frankfurt- und Frankreich-Fan Daniel Cohn-Bendit | |
ausgegeben hat. | |
Erstens: Kritisch reden reicht nicht, ist aber auch nicht nur wohlfeil. | |
„Man muss Präsident Putin kritisieren, man sollte überhaupt nicht nach | |
Katar fahren, und ich bin auch dafür, dass Ronaldo von den Steuerbehörden | |
verfolgt wird, denn das hat Relevanz.“ | |
Zweitens: Sich die unterschiedlichen Ebenen bewusst machen. „Wenn Ronaldo | |
einen großartigen Fallrückzieher macht, denke ich nicht an seine | |
Steuererklärung.“ | |
Das kann man theoretisch und moralisch kritisieren, aber so ist das. | |
## Tapferkeitsmedaille bitte | |
Cohn-Bendit sagt: „Wir denken vor dem Spiel und nachher können wir wieder | |
denken, aber wenn der Ball rollt, dann fühlen wir nur noch. Dann fühlen wir | |
mit dem Spiel.“ Aber so einfach kommt er auch nicht davon. Denn jetzt denkt | |
er ja offenbar noch, und was wäre denn, wenn Präsident Macron seinen | |
Berater zum Finale Frankreich gegen Deutschland mitnehmen wollte? | |
„Ich würde nicht mitfliegen“, sagt Cohn-Bendit. „Aber dann muss mir die … | |
die große Dutschke-Tapferkeitsmedaille verleihen.“ So etwas kann | |
selbstverständlich nur eine Vollversammlung der Genossenschaft entscheiden. | |
Aber das erscheint als ein fairer Deal. | |
10 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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