# taz.de -- Moshe Ninios Kunst der Bilder: Der kurze Moment des Versprechens | |
> Esther Ofarim und der Riss im Bild: Die Arbeiten des israelischen | |
> Künstlers Moshe Ninio befassen sich mit den Grenzen der Fotografie. | |
Bild: Moshe Ninios „Patch“: Die abstrakten Muster entstammen der Kulisse ei… | |
Man sieht Esther Ofarim ihre Unsicherheit am Anfang ihres deutschen | |
Fernsehauftritts 1965 an – ihre Augen wandern zurückhaltend von links nach | |
rechts. Vermutlich liest die israelische Sängerin die erste Strophe des | |
Schlagers „Morgen ist alles vorüber“ vom Monitor ab. Dann verzieht sie | |
merkbar den Mund bei einem falsch ausgesprochenen Wort. Sie ist der | |
deutschen Sprache noch nicht mächtig und alleine auf der Bühne. | |
Erst später wächst ihr Selbstbewusstsein und sie schaut direkt in die | |
Kamera. Diese Unsicherheit, das kurze Auseinanderbrechen des perfekt | |
inszenierten Fernsehmoments, nahm sich der Fotograf und Künstler Moshe | |
Ninio zum Anlass, von 2010 bis 2015 den „Morgen cycle“ zu schaffen. | |
Der Werkzyklus enthält das von ihm bearbeitete Video des Fernsehauftritts | |
als Projektion. Diese und drei weitere Arbeiten werden derzeit in der neuen | |
Galerie NBA von Barak Bar-Am und Tal Sterngast in Charlottenburg gezeigt. | |
Die Ausstellung „Patch“ ist ein interessanter Start für eine neue Galerie, | |
deren Konzept sich auf die technologischen Möglichkeiten des modernen | |
Bildes in ausgewählten Ausstellungen konzentriert. | |
Zuvor wurde in den Räumen unter dem Namen Neumeister Bar-Am | |
Post-Internet-Art mit Fotobezug gezeigt. Jetzt startet das neue Programm | |
mit Moshe Ninio, einem etablierten israelischen Künstler, der sich intensiv | |
mit dem Medium Fotografie und dessen Grenzen befasst und in seinen Werken | |
mit historischen Bezügen arbeitet. | |
## Ein Skandal in Israel | |
Tal Sterngast, Kuratorin von „Patch“, setzt sich schon länger mit Ninios | |
Kunst auseinander. Sie schrieb einen der Katalogtexte zu seiner Ausstellung | |
2016/2017 im Musée d’Art et d’Histoire du Judaisme in Paris, in der auch | |
die besagte Videoprojektion gezeigt wurde. Die Aufnahme wurde im Fernsehen | |
schon mit starken Kontrasten in Schwarzweiß übertragen – Ninios | |
angewinkelte Screens beschneiden das Bild zusätzlich vertikal. | |
Ofarims puppenartiges Gesicht wandert so über die zwei Bildschirme. Im | |
Bühnenhintergrund entstehen während des Auftritts abstrakte, | |
kaleidoskopartige Muster, die Ninio für den zweiten Teil des Werkzyklus | |
auf Platten drucken ließ. Der Auftritt war in Israel ein Skandal, die frühe | |
Annäherung einer Jüdin an Deutschland heftig umstritten. Das deutsche | |
Publikum liebte die Sängerin jedoch, die bis 1969 im Duo mit ihrem erst | |
kürzlich verstorbenen ersten Ehemann Abi Ofarim viele Erfolge feiern | |
konnte. | |
## Dem Flicken geht der Riss voraus | |
Ninios Fokus und das Heranzoomen an das Gesicht der Sängerin offenbaren | |
weitere Ebenen. Ofarims glatte, perfekt gelegte Haare können nur von einer | |
Perücke stammen. Sie und die stark akzentuierten Augen verstecken ihre | |
orientalisch-jüdische Identität. Auch der kurze Moment des Versprechens, | |
der während der Fernsehübertragung kaum aufgefallen sein dürfte, bekommt | |
bei Ninio besondere Aufmerksamkeit. | |
Seine Komposition baut sich rund um das Verziehen des Mundes auf. Dieser | |
Fehler wird im Ausstellungstitel als „Patch“ aufgegriffen. Dem Flicken | |
eines Stoffs geht immer ein Riss voraus – oder, wie im Video, eine kurze | |
Entgleisung. | |
## Ein Loch im Gewebe | |
Der Dialog mit den zwei an der gegenüberliegenden Wand platzierten | |
Fotografien eines Teppichs funktioniert deshalb gut. Hier erkennt man auf | |
der einen Seite ein Loch im Gewebe, auf der anderen den „Patch“: Ninio | |
schnitt den Abschnitt des Lochs im Teppich horizontal aus der Fotografie | |
heraus und fügte das Bild wieder zusammen. Dadurch verkürzte sich die Länge | |
des Fotos, das oben und unten nun zu klein für den Rahmen ist. | |
Das Spiel mit der Betonung von nicht perfekten Zuständen findet man auch in | |
der neuesten Arbeit der Ausstellung. Für den „Würfel“ in der Galerie, eine | |
quadratische Einbuchtung in der Wand im Eingangsbereich, fertigte Ninio die | |
Videoprojektion „Dauerwelle“ an, die sich direkt auf den „Morgen cycle“ | |
bezieht. | |
## Morgen ist alles vorüber | |
Der Verweis im Titel auf Ofarims eigentlich lockigen Haarzustand steht hier | |
im Mittelpunkt. Ihre Perücke kreist in „Dauerwelle“ geisterartig in einem | |
Hologramm in der Luft. Und auch hier kommt es zu einem Bruch, wenn die | |
Drehung für Sekunden verharrt. | |
Das Wiederaufgreifen von Motiven und Relikten aus den Arbeiten von Ninio, | |
die sich alle aufeinander beziehen, erschafft eine spannende Polarität im | |
minimalistisch gestalteten Raum. Der Song, der das Galeriezimmer erfüllt, | |
bleibt nach dem Galeriebesuch im Ohr. „Morgen ist alles vorüber“, singt sie | |
immer wieder. Dekaden später bekommt sie dafür womöglich eine ganz andere | |
Aufmerksamkeit, als sie es sich vorstellen konnte. | |
21 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Lorina Speder | |
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