| # taz.de -- Die Wahrheit: Anders wohnen | |
| > Ob Knast, Pol oder Orbit – in der überall herrschenden aktuellen | |
| > Wohnungsnot sind unkonventionelle Lösungen gefragt. | |
| Bild: Immer dieses lästige Pendeln ins Umland! | |
| Vier Monate befindet sich Udo Assmann bereits auf Wohnungssuche, als er | |
| merkt, dass er der Angelegenheit seelisch nicht gewachsen ist. Nun gilt es, | |
| andere Saiten aufzuziehen. Beim Besichtigungstermin im schimmligen Flur | |
| einer winzigen Zweiraumwohnung im Frankfurter Bahnhofsviertel steht er vor | |
| der unlösbaren Aufgabe, eine vierzigseitige Selbstauskunft ohne | |
| nachweisbare Beschönigungen auszufüllen und trotzdem die augenscheinlich | |
| solvente Konkurrenz auszustechen. | |
| Eingepfercht zwischen achtzig Mitbewerbern muss der 40-jährige | |
| Speditionskaufmann mit ansehen, wie die cleveren Rivalen dem beauftragten | |
| Makler den Siegelring küssen und ihm dicke Briefumschläge zustecken. | |
| Assmann ergreift ein tosender Schwindel. Wie von einer unsichtbaren Macht | |
| gelenkt, rollt er die Formulare zu einem handlichen Knüppel zusammen und | |
| prügelt damit unter gellenden Schreien wahllos auf die Umstehenden ein. | |
| Dabei gelingt es ihm zunächst, einige aus dem Weg zu räumen und weitere mit | |
| Prellungen und Platzwunden auszustatten, doch der Tobende ist überwältigt, | |
| ehe er auch dem Makler ernstlichen Schaden zufügen kann. Als die | |
| herbeigerufene Polizei Assmann 15 Minuten später abführt, umspielt ein | |
| Lächeln seine lädierten Züge. Wenigstens hat er nun für längere Zeit ein | |
| Dach über dem Kopf – und das auch noch im citynahen Stadtteil Preungesheim. | |
| ## Wenn das mit der Eigentumswohnung nicht wär | |
| Zwar schätzt nicht jeder Wohnungssuchende den Gedanken, sein künftiges | |
| Lager in einer Justizvollzugsanstalt aufzuschlagen. Tatsache bleibt jedoch: | |
| Der Immobilienmarkt in den Ballungsgebieten ist zu kaputt, um die | |
| geräumigen Knastzellen allein irgendwelchen geborenen Kriminellen zu | |
| überlassen. | |
| Über Jahrzehnte hinweg haben neoliberale Parteien wie Union, SPD, FDP und | |
| Grüne den sozialen Wohnungsbau vernachlässigt und den Mietmarkt dem freien | |
| Spiel der Kräfte überantwortet. Nun explodieren die Mieten, während | |
| Gentrifizierung und Luxussanierung die Durchschnittsverdiener aus den | |
| Innenstädten vertreiben. Wer da nicht auf der Straße landen will, muss sich | |
| schon etwas einfallen lassen, um das passende Domizil zu finden. | |
| Ebenfalls geschafft haben dies Henrike Wilden und Paul-Ingo Esterhazy. Das | |
| aus Hannover stammende Studentenpaar ist im Rahmen eines einzigartigen | |
| Modellversuchs in den tiefsten Süden gezogen und wohnt dort sogar mietfrei. | |
| Warum? Ihre ungewöhnliche Behausung befindet sich in der Neumayer-Station | |
| III am Rande der Antarktis, nur etwa 2.000 Kilometer vom Südpol entfernt. | |
| Hier testen deutsche Forscher im Auftrag der Bundesregierung, wie man | |
| Mieter unter widrigsten Verhältnissen einquartieren kann. | |
| ## Es ist vielleicht etwas kalt | |
| Mindestens gewöhnungsbedürftig sind die Umstände allemal: Draußen vor der | |
| Tür herrschen im Jahresmittel Temperaturen von minus 16 Grad, der | |
| Unterkunftsraum weist Containergröße auf, ihr Studium müssen die beiden | |
| wegen der schlechten Verkehrsanbindung an der Fernuni Hagen fortsetzen. | |
| Entschädigt werden sie dafür mit einer traumhaft ruhigen Wohnlage, | |
| charmanten Nachbarn in Gestalt einer Kolonie Kaiserpinguine und den | |
| längsten Nächten, die sie je erlebt haben – dass es am Ende insgesamt wohl | |
| nur zwei werden, liegt an der Befristung des Mietverhältnisses auf 24 | |
| Monate. | |
| Nach einem Vierteljahr in der Polarnacht ist bei Wilden und Esterhazy | |
| allerdings gehörige Ernüchterung eingekehrt: Die mitgebrachten | |
| Alkoholvorräte sind längst aufgebraucht, die nächstgelegenen Clubs in Chile | |
| und Südafrika ohne Hundeschlitten und Frachtdampfer kaum zu erreichen. Die | |
| ständige Tiefkühlkost schlägt den beiden ebenso auf den Magen wie der | |
| allabendliche Streit mit den Forschern um das Fernsehprogramm im | |
| Gemeinschaftsraum. | |
| Und trotz freiem Logis sehen die Studenten für ihre finanzielle Zukunft | |
| schwarz, seit sie jüngst erfuhren, dass sie sich an den Heizkosten | |
| beteiligen müssen. | |
| ## Völlig losgelöst | |
| Da hat es Joschi Keller ungleich besser getroffen. Der 28-jährige | |
| Mechatroniker aus München konnte durch Zufall eine der seltenen | |
| Wohngelegenheiten in einer verlassenen russischen Raumstation ergattern, | |
| die er damit vor dem kontrollierten Absturz rettete. Zwar obliegt es ihm | |
| per Mietvertrag, den vollkommen abgewohnten Flugkörper eigenhändig zu | |
| renovieren, doch der eher symbolisch zu nennende Mietpreis („monatlich | |
| 1.200 Euro – für Münchner Verhältnisse ist das symbolisch!“) ist ihm die | |
| Mühe wert. | |
| Seit zwei Wochen umkreist Keller daher nun nach Feierabend die Erde und | |
| genießt die grandiose Aussicht. Dabei stört ihn kein Verkehrslärm, kein | |
| Laubbläser und kein Paketbote. Mit der Einsamkeit kommt der Eigenbrötler | |
| einigermaßen zurecht, die Schwerelosigkeit findet er gerade beim Tapezieren | |
| lustig, und auch sonst sorgt der marode Zustand der Raumstation dafür, dass | |
| sich Keller keine Sekunde langweilt. | |
| Einzig an das zeitraubende Pendeln kann er sich noch nicht gewöhnen: „Es | |
| ist ätzend, jeden Morgen nach dem Frühstück erst mal die 300 Kilometer | |
| runter zum Weltraumbahnhof Baikonur zu gondeln und dabei die ganze Zeit zu | |
| beten, dass ich den Zug nach München noch erwische“, gibt er freimütig zu. | |
| „Beim Wiedereintritt in die Atmosphäre wird mir oft auch ein bisschen | |
| schlecht. Aber Hauptsache, keine Wohnungssuche mehr – die war nämlich | |
| schlicht zum Kotzen.“ | |
| 7 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Mark-Stefan Tietze | |
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