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# taz.de -- Debatte Populismus in Polen: Kinder der Revolution
> Der polnische Populismus wurzelt im Aufbruch von 1989. Der Streit der
> Dissidentengeneration vergiftet das Land bis heute.
Bild: Die Zivilgesellschaft ist gefragt
Die englische Rockband T. Rex nahm 1972 das Lied „Children of the
Revolution“ auf. Der Song wurde zum Hit, was vor allem der Symbolik von
Titel und Liedtext zu verdanken war. In Polen hatten wir im Jahr 1989 beim
Zusammenbruch des Kommunismus keine Lieder dieser Art. Trotzdem könnte
unsere Generation, inzwischen über 40, den Refrain summen.
Unsere politische Initiation erfuhren wir, anders als viele unserer
Bekannten aus „erwachsenen Demokratien“, nicht erst mit Anfang zwanzig.
Sondern als Teenager, als wir in den Straßen Plakate der „Solidarności“
klebten und später vor Freude hüpften, als Lech Wałęsa zum ersten frei
gewählten Präsidenten nach 1989 wurde. Während wir heranwuchsen,
beobachteten wir, wie unsere Gesellschaft der Freiheit und der Überwindung
kommunistischer Erblasten nachjagte.
War das Jahr 1989 in Polen für liberale Demokraten die Zeit der größten
Hoffnungen, so gehört 2015 zu den bittersten Erfahrungen. Plötzlich hatten
populistische, revanchistische und irrationale Kräfte die Kontrolle über
das Land an sich gerissen und es in aggressiven Nationalismus getaucht.
„Recht und Gerechigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) errichtet in Polen
ein autoritäres System“, behauptete vor Kurzem der ehemalige Dissident
Władysław Frasyniuk. „Wir steuern auf einen weichen Totalitarismus zu“,
unterstrich der ehemalige oberste Verfassungsrichter Polens, Andrzej Zoll.
Es kursieren die radikalsten Formulierungen.
Aus unserer Generation der Mittvierziger wurde zumindest ihr liberaler Teil
ruckartig gestoppt. Viele von uns hatten geglaubt, dass unser Weg relativ
gerade verlaufen würde. Mit der Zeit würden wir Verantwortung für unseren
Staat übernehmen, als Beamte, vielleicht sogar als Ministerinnen.
Stattdessen fanden wir uns in den letzten Monaten auf den Straßen wieder,
schwenkten polnische und europäische Fahnen aus Protest gegen Gesetze der
aktuellen Regierung.
## Die Ära der Ungewissheit
Vielen Beobachtern scheint die Regierung der PiS ein unglücklicher Zufall,
der unser Land getroffen hat. Die Partei müsse nur aufhören zu regieren,
dann kehre die Normalität zurück. Aber die Krise, in der wir uns befinden,
reicht viel tiefer. Der Oxforder Politologe Jan Zielonka schreibt in seinem
neuen Buch, dass sich das liberale Europa auf dem Rückzug befinde. Dieses
globale Phänomen hat seine besondere lokale Erscheinungsform in Polen.
Aus der Sicht unserer Generation offenbarte das Jahr 2015 eine
tiefgreifende politische, intellektuelle und moralische Krise der liberalen
Eliten. Zum ersten Mal seit 1989 befinden wir uns in einer Ära wahrer
Ungewissheit. In was für einem politischen System leben wir überhaupt? Was
geschieht mit der EU? Entsprechend einer fast zweihundert Jahre alten
Metapher von Alexis de Tocqueville stolpern wir durch die Dunkelheit.
Die jüngsten politischen Veränderungen in Polen (Übernahme des
Verfassungsgerichts und der öffentlichen Medien durch Ergebene der
Regierung, die Beschneidung der unabhängigen Justiz) werden häufig als
abruptes Ende unseres Abenteuers mit der Demokratie dargestellt. Aber
innerhalb des Dunkels, in dem wir tappen, wird eins immer klarer: Die
beispiellose Aushebelung der Sicherungsmechanismen unserer Demokratie durch
PiS wurde erst möglich durch Prozesse, die bereits seit längerer Zeit im
Gange sind.
## Rechte füllen das Vakuum
Unter der Führung von Jarosław Kaczyński erlebt Polen die postmortalen
Konvulsionen eines Systems, das in den 1990er Jahren errichtet worden war.
Wir erleben das Ende des postkommunistischen Mythos „des Westens“. Zudem
erweist sich ein Teil der Generation, die einst am Runden Tisch den
friedlichen Systemwechsel ausgehandelt hat, als politisch verbrannt.
Nach 1989 beruhte die Transformation in vielen postkommunistischen Ländern
auf einer nahezu unkritischen Sicht auf Westeuropa und die USA. Mittel- und
Osteuropäer strebten danach, mithilfe westlicher Wirtschaftspolitik der
Armut zu entkommen. Auch in moralischer Hinsicht verkörperte der Westen für
viele eine bessere Welt. Dieser Mythos musste irgendwann zerbrechen. Durch
den bloßen Generationswechsel, aber sicher auch durch Skandale wie die
CIA-Gefängnisse auf polnischem Boden. Vielen wurde klar, dass die westliche
wie die östliche Moral ambivalenten Charakter haben.
Unser Land war dringend auf den Aufbau einer neuen Identität angewiesen,
die sowohl den außergewöhnlichen Erfolgen Polens nach 1989 Rechnung trägt
als auch die historische und geopolitische Lage des Landes zwischen West
und Ost berücksichtigte. Leider waren die liberalen Eliten nicht in der
Lage, das Vakuum zu füllen. Die Populisten dagegen nutzten es, um ihre
feindliche Narration gegenüber Brüssel, westlichen Werten und Lebensstilen
auszubauen. Infolgedessen ist Polen heute außenpolitisch zunehmend
isoliert.
## Angst als Legitimation
Die demokratische Transformation war ein bewundernswerter Erfolg der
Dissidentengeneration, die noch immer großen Einfluss ausübt. Daher
beherrscht die Spaltung der alten demokratischen Opposition in
„konservative Nationalisten“ und „konservative Liberale“ seither die
polnische Politik. Viele von denen, die Polen in die Demokratie führten,
sind leider hauptsächlich damit beschäftigt, sich gegenseitig zu
dämonisieren, statt über die Zukunft des Landes nachzudenken. Der Konflikt
zwischen den beiden Lagern der ehemaligen antikommunistischen Opposition
nimmt immer radikalere und persönlichere Formen an. Der heute wichtigste
Politiker Polens, Jarosław Kaczyński, und der Friedensnobelpreisträger Lech
Wałęsa gehören derselben Generation an. Heute stehen sie auf
entgegengesetzten Seiten. Ersterer verbrannte schon 1993 öffentlich eine
Wałęsa-Puppe. Letzterer nennt Kaczyński einen verlogenen Feigling und
kommentiert mit Kraftausdrücken dessen Politik.
2015 zeigte sich die Dekadenz der Gründerväter der Dritten Republik darin,
dass fast allen Kandidaten für das Präsidentenamt die angemessene Würde
fehlte. Amtsinhaber Komorowski zeigte sich im Wahlkampf von den Wählern
entfremdet. Den Sieg trug bekanntlich ein Kandidat davon, der von Kaczyński
im letzten Moment aufgestellt worden war und dessen Name niemandem etwas
sagte.
Im Wahljahr 2015 tauchten dazu noch neue Motive auf, vor allem die Angst
vor Flüchtlingen. Angst ist eine der stärksten Legitimationsquellen für
politische Gemeinschaften. In Westeuropa sah man nach 1945 die grausamste
Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg. Für Mittel- und Osteuropa hatte der
Kommunismus eine ähnliche Konnotation. Wie Timothy Garton Ash jedoch
gezeigt hat, verblassten mit der Zeit die persönlichen Erinnerungen an die
Vergangenheit, die zuvor dem europäischen Projekt seine Stärke verliehen
hatten. Heutzutage ist nach Ivan Krastev die größte Angst der Mittel- und
Osteuropäer die Angst vor Flüchtlingen.
So hat eine Angst vor der Zukunft die Angst vor der Vergangenheit ersetzt.
Als Konsequenz sucht ein Teil der polnischen Gesellschaft verstärkt
Behaglichkeit in der Vergangenheit und der Überbetonung der heroischen und
der Opfernarrative in unserer Geschichte. Aussagen wie die Formulierung
„jüdischer Täter“ während des Holocausts aus dem Munde des polnischen
Premierministers mögen unsere europäischen Nachbarn schockieren, in Polen
treffen sie jedoch oft auf fruchtbaren Boden.
## Die Zivilgesellschaft ist gefragt
Die Politik der Angst hat Einfluss auf die Zukunft. Leicht vorstellbar,
dass PiS vor den nächsten Wahlen eine ähnliche Antimigrationskampagne
lostritt wie Viktor Orbán jüngst in Ungarn. Polen ist Mitglied eines neuen
Klubs innerhalb der EU geworden. Dessen Aufnahmekriterium ist die laute
Infragestellung der europäischen Rechtsordnung und europäischer Werte.
Politikwissenschaftler und Kommentatoren wetteifern um die beste Benennung
dieser Staaten: Soll man sie als „illiberale Demokratien“ bezeichnen, als
„neoautoritäre Regime“ oder gleich als „totalitär“?
Wichtiger als der beste Name ist jedoch die Suche nach einem Ausweg. Eine
Rückkehr zur Situation vor 2015 ist weder möglich noch gesellschaftlich
erwünscht. Die Krise des Rechtsstaates, die Verfassungsbrüche durch PiS,
die Beschneidung der Frauenrechte – all das untergräbt die Errungenschaften
der letzten 30 Jahre aufs Dramatischste. Leider sind Wahlen allein keine
Lösung für die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft. Man muss sich
nur ausmalen, dass PiS verliert und die neue Regierungspartei alle jüngst
vorgenommenen Änderungen zurückdreht. Anzunehmen, dass beinahe die Hälfte
der Polinnen und Polen, die in Umfragen ihre Unterstützung für PiS
erklären, dann unter einer ähnlichen Verbitterung leiden würde wie aktuell
die liberalen Demokraten. Ohne politische Verständigung ist es schwer,
optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Vielleicht müssen wir daher eine andere Lösung finden. Bislang noch
inoffiziell und fernab medialer Kanäle reichen sich einige VertreterInnen
der beiden „Polen“ gegenseitig die Hände. Die Rede ist vom neuen Aufbau
Polens, von einem neuen Gesellschaftsvertrag, unter dem sich alle wie unter
einem Schirm zusammenfinden, unabhängig von ihren politischen Ansichten.
Die Zeit wird zeigen, ob diese Aktivitäten sich in eine Bewegung mit
politischer Bedeutung umwandeln.
Viel ist von Sanktionen der EU-Kommission die Rede. Wir sollten aber nicht
vergessen, dass nur Polens Zivilgesellschaft eine echte Veränderung
bewirken kann. Gleichzeitig übernehmen die „Kinder der Revolution“ bereits
Schritt für Schritt die Politik. Die wichtigste Frage lautet daher, ob sie
eine eigene Agenda mitbringen oder ob sie nur die Streitigkeiten der
Gründungsväter und -mütter fortsetzen werden.
29 Apr 2018
## AUTOREN
Jaroslaw Kuisz
Karolina Wigura
## TAGS
Polen
Rechter Populismus
PiS
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