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# taz.de -- Die Wahrheit: Vergötterte Spinner
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (50): Ob Maulbeer- oder
> Götterbaum – jedes Gewächs braucht einen passenden Falter.
Bild: Ein Maulbeerspinner in Aktion
Spinner gibt es viele, ich beschränke mich auf den Maulbeerbaum-Spinner und
den Götterbaum-Spinner. In Berlin gab es einmal eine Seidenindustrie auf
der Basis von großangelegten Maulbeerbaumanpflanzungen und
Seidenraupenzuchten. Einige Maulbeerbäume zeugen heute noch davon. Der
chinesische Götterbaum (Ailanthus altissima) dürfte hingegen der in Berlin
zurzeit verbreitetste Laubbaum sein – ohne Götterbaumspinner. 114 Jahre
lang hat man vergeblich versucht, den Baum hier heimisch werden zu lassen.
Lenné pflanzte ihn 1831 ins Palmenhaus auf der Pfaueninsel. Auch die Bürger
pflanzten ihn dann gern in ihre Gärten. Aber er vermehrte sich nicht.
Erst als Berlin in Schutt und Asche lag, 1945, fing er damit an. Und wie!
Er wächst aus Spalten zwischen Gehsteig und Mauerwerk und kommt listig
zwischen Hecken hoch. Er breitet sich unterirdisch aus, bis zu drei Meter
im Jahr, daneben aber auch durch Samen. Dazu braucht es mindestens zwei
Götterbäume, denn sie wachsen getrenntgeschlechtlich. Inzwischen zählt man
Ailanthus zu den „100 schlimmsten invasiven Arten“.
Der Invasionsbiologe an der TU Ingo Kowarik schreibt in einer Monografie
über den Götterbaum: „Seine Bekämpfung hat im Mittelmeerraum bereits hohe
Kosten verursacht. Als wirksame Methode zu seiner Vernichtung erwies sich,
den Baum zu fällen und die Austriebe mit Glyphosat (Monsanto) zu behandeln.
In den USA setzt man den Rüsselkäfer Eucryptorrhynchus brandti ein, um ihn
biologisch zu bekämpfen.“
## Befruchtung der Baumblüten
Eine andere biologische Lösung wäre, auch noch den Götterbaum-Spinner
einzuführen. In Wien hat man das einst getan: Der Spinner ist ein großer
brauner Nachtfalter aus China, der an den Flügelenden eine
schlangenaugenähnliche Zeichnung hat. Aus dem Kokon seiner Raupen lässt
sich eine Seide – die sogenannte Eri-Seide – herstellen: „haltbarer und
billiger als die übliche“, laut Heiderose Häsler und Iduna Wünschmann (in:
„Berliner Pflanzen. Das wilde Grün der Großstadt“, 2010). Man kann sagen:
Der Götterbaum und der Ailanthus-Spinner leben in einer engen Beziehung,
auch wenn Letzterer nicht zur Befruchtung der Baumblüten beiträgt. Den
Raupen der Spinner allerdings dienen die Blätter als einzige
Nahrungsquelle.
Man kann deswegen noch weitergehen und sagen: Dieser Falter ist eine
Ausweitung des vom Tageslicht lebenden Baumes in die nächtliche Luft … Ein
Spaß, den er sich etliche Blätter kosten lässt. In Indien werden die Puppen
des Falters gegessen, in Nepal finden sie als Hühnerfutter Verwendung.
Ähnliches gilt für den weißen bis grauen und rosafarbenen Maulbeerbaum-
oder Seidenspinner. Er ist ebenfalls ein ursprünglich in China beheimateter
Schmetterling aus der Familie der Echten Spinner (Bombycidae), dessen
Raupen ausschließlich von den Blättern des Maulbeerbaums leben. Es gibt
weiße und schwarze Maulbeerbäume aus China und rote aus Nordamerika.
In Preußen wurden unter Friedrich II. etwa drei Millionen Weiße
Maulbeerbäume an Alleen, auf Marktplätze und Schulhöfe gepflanzt. Der Ort
Friedrichshagen bei Köpenick wurde 1753 extra für die Ansiedlung von
Seidenspinnern – meist Hugenotten aus Frankreich – gegründet. Zudem wurden
überall im Dorf Maulbeerbäume gepflanzt. In der Ortschronik
„friedrichshagen.net“ heißt es: „Ein wesentlicher Gedanke war dabei aber
auch, dass bestimmte Bewohner, gedacht war an Prediger, Küster,
Schulmeister etc., sich mit Seidenraupenzucht und Seidenbau beschäftigen
sollten. Das war dann ja auch nachweislich der Fall. Der erste Lehrer
Friedrichshagens, Kantor Kluckhuhn, beschäftigte sich mit einigem Erfolg
mit dieser Sache. Später taten es ihm wenige andere Bewohner gleich. Am
erfolgreichsten von ihnen war der Lehrer Neumann, der über viele Jahre
hinweg Seidenspinnerkokons an die Haspelanstalt Zehlendorf ablieferte und
sich somit einen guten Nebenverdienst schaffte.“
Allein in der Zehlendorfer Filandastraße standen 35.000 Maulbeerbäume. Die
von oben durchgesetzte Seidenzucht hatte in Friedrichshagen auch Gegner:
„Schränkte doch das Ablauben der Maulbeerbäume für die
Seidenraupenfütterung deren Wachstum und Blühfreudigkeit und somit den
Fruchtertrag stark ein. Die Friedrichshagener betrachteten, zu Unrecht, die
auf der Dorfstraße vor ihren Häusern stehenden Bäume als ihr Eigentum. So
nutzten sie sie als eine zusätzliche Einnahmequelle durch den Verkauf der
im Sommer sehr gefragten, schmackhaften exotischen Früchte. Pflege ließen
sie den Bäumen aber kaum zukommen.“
## Früchte wie Handgranaten
Billige Seidenimporte aus Südostasien machten jedoch laut Wikipedia ab
„Anfang des 20. Jahrhunderts die europäische Seidenzucht und damit auch die
europäischen Maulbeerbäume überflüssig und verdrängten sie von den Alleen,
wo sie oft zu finden waren.“ In Erkner hat sich der Baum samt Wurzeln noch
im Ortswappen gehalten, seine weißen Früchte sehen daran jedoch aus wie
Handgranaten. In Wirklichkeit werden sie höchstens so groß wie Brombeeren.
Sie sind ebenso schmackhaft wie der daraus gepresste Maulbeersaft. Aus dem
Holz macht man in der Türkei Musikinstrumente und in Asien wertvolles
Papier.
Während man hier den Maulbeerbaum schätzt und den Götterbaum verunglimpft,
heißt es über den Letzteren im Wiener Standard: „Der große Götterbaum neb…
dem albertinischen Chor [des Stephansdoms] bewegt sich sanft im Wind. An
seinen Ästen pendeln Schmetterlingskokons wie Girlanden an langen Schnüren:
es sind die Winterquartiere der prachtvollen Ailanthusspinner. Diese
chinesischen Riesenfalter kamen gemeinsam mit dem Götterbaum aus dem Fernen
Osten in die Wiener Innenstadt. Hier ist es jene entscheidenden
Zehntelgrade wärmer als in den Außenbezirken, die den Faltern das Überleben
sichern.“
## Honig aus den Blüten
In Leserbriefen schwärmen die Wiener vom Götterbaum- und seinem Spinner.
Auch die Stadtimker mögen ihn, der Honig aus seinen Blüten ist begehrt.
Über sein Holz heißt es auf „holzwurm-page.de“: „Es ist mit allen
Werkzeugen gut und leicht zu bearbeiten. Verbindungen mit Leim, Nägeln und
Schrauben sind sehr gut.“
In der Schweiz hat man nach langem Kampf aufgegeben, den Götterbaum
auszurotten: „Der Baum ist aus der Schweiz nicht mehr wegzudenken“,
berichtete der SRF. Nun will man ihn auf seinen Nutzen hin erforschen. Die
Wissenschaftler „wollen u. a. herausfinden, ob seine Wurzeln stark genug
sind, um Steinschlägen standzuhalten. Dann könnten die Bäume, die an Hängen
oberhalb von Dörfern wachsen, zum Beispiel als Schutz vor Steinschlägen
dienen.“
Die Fachleute wollen dazu kontrolliert Geröll-Lawinen auf Götterbäume
rutschen lassen, während andere Wissenschaftler an der Nutzung des Holzes
interessiert sind: „Sie untersuchen, wie weit die Biomasse des Baumes
verwendbar ist, etwa als Energielieferant für Heizungen.“ Die Nutzung des
Götterbaum-Spinners als Seidenlieferant wird nicht in Betracht gezogen. Es
ist ein aufwendiges Verfahren. Die „Prediger, Küster, Schulmeister etc.“
hat man gar nicht erst angesprochen.
19 Mar 2018
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Insekten
Zoo
Biologie
Hühner
Affen
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