# taz.de -- Die Wahrheit: Aufgüsse für die Aufgusstierchen | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung beschäftigt sich im 47. | |
> Teil mit Einzellern, die nicht aus dem Nichts entstehen. | |
Bild: Amöben (so seht ihr aus): Vereinigt euch mit Aufgusstierchen jeglicher C… | |
Aufgusstierchen sind Einzeller, die sich „in einem Aufguss, d. h. einer | |
Mischung aus Wasser und sich zersetzendem organischem Material (z. B. Heu) | |
bilden“, heißt es im „Lexikon der Biologie“. Das heißt aber nicht, dass | |
diese Einzeller quasi aus dem Nichts entstehen. | |
So dachte noch der Naturforscher Lorenz Oken, nachdem er sie unter dem | |
Mikroskop studiert hatte: Im Jahr 1805 legte er in seinem Buch „Die | |
Zeugung“ dar, dass die Aufgusstierchen durch fortdauernde „Urzeugung“ | |
entstehen. Sie bilden sich aber aus einer Zyste, in die diese Einzeller | |
sich bei Trockenheit umwandeln. Im Wasser werden daraus dann wieder | |
Lebewesen, die umherschwimmen, Nahrung suchen und sich durch Teilung | |
verdoppeln. | |
Es gibt eine Vielzahl von Arten unter diesen Aufgusstierchen. Die | |
Augentierchen zum Beispiel: Sie richten sich mit einem „Augenfleck“ zur | |
Helligkeit hin, weil sie wie die Pflanzen in ihrer Zelle ehemals frei | |
lebende Bakterien (Chloroplasten) haben, die das Licht in Energie | |
umwandeln. Die Wimperntierchen: Sie heißen so, weil sie circa 10.000 | |
Wimpern (Cilien) an ihrem zigarrenförmigen Zellkörper haben, mit denen sie | |
sich fortbewegen. Ähnliches gilt für die Pantoffeltierchen, die ihre | |
Nahrung mittels „Chemorezeptoren“ finden. | |
Die Sonnentierchen haben rundum spitze Scheinfüßchen, sie dienen nicht der | |
Fortbewegung, sondern dem Beutefang. Die Glockentierchen befestigen sich | |
mit einem langen Stiel an einem für sie geeigneten Untergrund. Die | |
Strahlentierchen, auch Radiolarien genannt, haben ein Endoskelett aus Opal. | |
Die Wechseltierchen bewegen sich, indem sie stets ihre Gestalt verändern, | |
man nennt sie auch Amöben. | |
## Peitschenähnlich gut unterwegs | |
Ebenfalls zu den Aufgusstierchen zählen die Flagellaten. Sie bewegen sich | |
mittels eines peitschenähnlichen Zellfortsatzes. Wir kennen sie als | |
vorwärtstreibende Kraft der männlichen Keimzellen, mit denen sie irgendwann | |
verschmolzen sind. Von dieser Verschmelzung sprechen wir aber nur noch | |
metaphorisch, denn in unserer Haut steckend können wir gerade noch eine | |
„Distanzliebe“ praktizieren. Immerhin ahnen wir aber noch laut dem | |
Psychoanalytiker Sandor Ferenczi die „große Eintrocknungs-katastrophe“ als | |
Ur- und Geburtstrauma. | |
Bereits in einem einzigen Wassertropfen wimmelt es von Aufgusstierchen. Als | |
Erster sah sie der Amsterdamer Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek 1675 – | |
unter einem Mikroskop, das sein Kollege Johannes Hudde konstruiert hatte. | |
Leeuwenhoek nannte das, was da herumzappelte, „Animalcula“: Tierchen. Be- | |
und gezeichnet wurden sie dann vom Mikrobiologen Christian Gottfried | |
Ehrenberg. | |
Er entdeckte im Jahr 1848, dass sogar der Grund und Boden, auf dem Berlin | |
steht, „aus diesen winzigen hartschaligen Tierchen besteht“. Die | |
Hausbesitzer wollten daraufhin entsetzt wissen, ob damit nicht die Gefahr | |
bestünde, dass sich ihre Häuser davonbewegen könnten. Ehrenberg beruhigte | |
sie: „Das tun die so vorsichtig, dass Sie nicht begreifen, warum Ihr Haus | |
eines Morgens an der Elbe steht.“ | |
Seine Proben enthielten Kieselgur. Bei diesem Gestein handelte es sich um | |
Reste unter anderem von Radiolarien. Die Erforschung ihrer Endoskelette | |
machte den Zoologen Ernst Haeckel berühmt. In seinem Jenaer Museum spricht | |
man heute nebenbei bemerkt von Exoskeletten. | |
Ehrenberg fand heraus, dass auch Kreide und Schiefer organischen Ursprungs | |
sind, und veröffentlichte eine Zusammenfassung in „Mikrogeologie. Das Erden | |
und Felsen schaffende Wirken des unsichtbar kleinen selbständigen Lebens | |
auf der Erde“ (1856), womit er zum Begründer der Mikropaläontologie wurde, | |
wie Silke Sorge auf uni-online.de schreibt. | |
Auf einer Expedition nach Ägypten entdeckte er ferner, dass auch die | |
Pyramiden aus Resten von Einzellern bestehen. Ehrenberg schloss daraus: | |
„Aus dem Kleinen bauen sich die Welten.“ Damit hatte er im Grunde bereits | |
die „Gaia-Hypothese“ des Biophysikers James Lovelock und der Mikrobiologin | |
Lynn Margulis vorformuliert, die kürzlich mit dem Buch „Kampf um Gaia“ des | |
Wissenssoziologen Bruno Latour erhärtet wurde. | |
Im Jahr 1862 veröffentlichte der Dichter Hans Christian Andersen das | |
Märchen „Der Wassertropfen“. In dessen Protagonisten, Professor | |
„Kribbel-Krabbel“, scheint er seinen Zeitgenossen, den Biologen Christian | |
Gottfried Ehrenberg, porträtiert zu haben, vermutet die FAZ. | |
## Das Urzeugungsproblem | |
In den zwanziger Jahren beschäftigte sich der Wiener Biologe Paul Kammerer | |
noch einmal mit dem „Urzeugungsproblem“, wobei er von einer „Weltinfektio… | |
sprach. Diese Idee griff der Protagonist Hans Castorp im „Zauberberg“ von | |
Thomas Mann auf, der darin eine kulturelle Dimension der Schwindsucht sah. | |
Bei dem Psychoanalytiker Wilhelm Reich leitete dann das „Urzeugungsthema“ | |
im Osloer Exil 1936 einen erkenntnistheoretischen Bruch ein, indem er zum | |
Verdruss seiner norwegischen Anhänger von der proletarischen Psychotherapie | |
zur spekulativen Mikrobiologie wechselte und fortan statt neben der Couch | |
vor dem Mikroskop saß. Seine Studien setzte er in seinem nächsten Exil in | |
den USA fort, nachdem ihm dort seine Assistentin Gertrud Meyer ein neues | |
Institut angemietet hatte – übrigens eine gute Freundin von Willy Brandt, | |
der auch für Reich arbeitete (siehe taz vom 12. 3. 1994). | |
Im Jahr 2007 fand in Wien eine Ausstellung im Jüdischen Museum über Reichs | |
Leben und Werk statt. Im Katalog befasste sich der Medienwissenschaftler | |
Peter Berz mit dessen biologischer Forschung. Über Reichs Heuaufgüsse zur | |
Urzeugung von Aufgusstierchen schreibt er: „Am Rand der verwesenden | |
Grashalme bilden sich Bläschen. Die Pflanzenfaser macht einer ‚blasigen | |
Struktur Platz‘. Später sieht man, wie sich mehrere Bläschen vereinigen, | |
einen Rand zu bilden, ‚Form‘ annehmen, Innen und Außen scheiden, und | |
anfangen, sich von ihrer Unterlage zu lösen.“ | |
Nach weiteren drei Tagen sieht man Strukturen, die ein „merkwürdiges | |
Verhalten“ zeigen: Der runde Bläschenhaufen streckt sich und vorne bildet | |
sich eine Öffnung. So verharrt das Gebilde, eine bis drei Sekunden, bis es | |
„zusammenzuckt und plötzlich wieder Kugelform annimmt“. Das Ereignis wirf | |
umgehend Fragen auf: Tier oder Pflanze? Ist die Öffnung ein „Mund“? Ist die | |
Längsstreckung ein „Fressakt“? | |
Vorläufig deutet Reich die Streckung als Quellung und Aufladung des | |
Bläschenhaufens. Man kann ihm sogar eine Richtung geben. Es ist die | |
Richtung „aus sich heraus, zur Welt hin“. Und vor allem: Der Wechsel von | |
Streckung und Kugel findet rhythmisch statt – es „pulsiert“. Dass diese | |
Wesenheiten sich wie Lebewesen bewegen, ist „mikroskopisch eindeutig“. | |
Reich nennt sie „für den Privatgebrauch ‚Bione‘“. Es sind elektrische | |
„Energiebläschen“, denn unter dem Einfluss von Strom erweisen sie sich als | |
elektrisch geladen. Sie wandern zur Kathode, zum negativen Pol, und | |
scheinen positiv. Die Energiebläschen könnten sich zu lebenden Organismen | |
entwickeln, zu Aufgusstierchen. Reich sieht sich „dem Werdeprozeß des | |
Lebens aus Anorganischem“ auf der Spur, aber er kommt nicht weiter: 1957 | |
muss er ins Gefängnis, wo er stirbt. Sein Freund, der | |
„Summerhill“-Reformpädagoge Alexander Neill, hatte ihn rechtzeitig gewarnt: | |
Hau ab, das überlebst du nicht! | |
5 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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