# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Zahlen als Wurzel allen Übels | |
> Alles um uns herum – alle Dinge: Straßen, Häuser, Anziehsachen, Medien, | |
> Verkehrsmittel, Regierungen – basiert auf Mathematik. | |
Bild: Sind Bücher die eigentliche Heimat des Menschen? | |
Die Designforscherin Dagmar Steffen erwähnt in ihrem Buch „Welche Dinge | |
braucht der Mensch?“ (1995), dass der durchschnittliche Westdeutsche 10.000 | |
Gegenstände besitze, bei den Massai seien es 30. | |
„Gegenstände sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen“, | |
behauptete Hannah Arendt. Ich nehme an, dass sie damit keine Pflanzen und | |
Tiere meinte, die ja vom Gesetz her auch Sachen (also Privateigentum) sind. | |
Ich möchte sie jedoch unterscheiden, auch muss man einen Unterschied | |
zwischen individuell und industriell hergestellten Gegenständen machen. | |
Erstere gibt es bei uns kaum noch im täglichen Gebrauch. Aber auf | |
myanmarischen Wochenmärkten waren 1999 noch alle Küchen- und Agrarwerkzeuge | |
Unikate. | |
Es gibt jedoch auch Westler, die industrielle Dinge schätzen – wie die | |
Schriftstellerin Tina Stroheker. Sie hat einigen in ihrem demnächst | |
erscheinenden Buch „Inventarium“ eine späte Huldigung nachgetragen. Dazu | |
heißt es: „Für die Autorin gilt, was Mallarmé einmal befand: ‚Alles in d… | |
Welt ist dazu da, in einem Buch zu landen.‘“ | |
Bücher sind natürlich auch Gegenstände – für Leute wie mich sind sie sogar | |
„die eigentlich menschliche Heimat“. Es gibt jedoch auch Menschen, die | |
darin einen Verlust an Menschlichkeit sehen. Ein Indianerhäuptling sollte | |
einmal von einem Ethnologen interviewt werden, verwies ihn aber an die | |
Nationalbibliothek in Washington: „Dort steht alles über Indianer!“ In | |
Kanada erklärte ein Indianer einem Ethnologen, der ihn über die Büffeljagd | |
ausfragte: „Unsere Vorfahren haben die Tiere geheiratet, sie haben ihre | |
Lebensweise kennengelernt und diese Kenntnisse von Generation zu Generation | |
weitergegeben. Die Weißen schreiben alles in ein Buch, um es nicht zu | |
vergessen.“ | |
Sogenannte „White Indians“, die „unsere“ Gesellschaft ablehnten, liefen | |
einst zu den Indigenen über – solange deren Lebensweise noch nicht | |
zerstört war. Es gibt aber auch Indigene, die sich „uns“ anpassten – | |
freiwillig. Der Journalist Patrick Tierney berichtet in seinem Buch „Verrat | |
am Paradies: Journalisten und Wissenschaftler zerstören das Leben am | |
Amazonas“ (2002) von der Yanomami-Indianerin Yarima, die den Ethnologen | |
Kenneth Good heiratete und mit ihm nach New Jersey zog, wo sie als Hausfrau | |
mit drei Kindern in einem Reihenhaus lebte. Ihr Mann verschaffte sich | |
„durch die Heirat einen einzigartigen Zugang zur Gesellschaft der | |
Yanomami“. Yarima verließ ihn und ihre Kinder jedoch nach einigen Jahren | |
und ging zurück an den Orinoko. Sie hielt es in den USA nicht aus: „Das | |
Einzige, was sie lieben, sind Fernsehen und Einkaufszentren. Das ist doch | |
kein Leben“, erklärte sie Patrick Tierney – und, dass sie inzwischen sogar | |
das Zählen wieder verlernt habe und ihren Mann als zu wenig kriegerisch | |
empfand. | |
Das mit dem Zählenlernen und dem Zahlenvergessen ist der zivilisatorische | |
Knackpunkt: Alles um uns herum – alle Dinge: Straßen, Häuser, | |
Anziehsachen, Medien, Verkehrsmittel, Regierungen – basiert auf | |
Mathematik. Nicht die warenproduzierende Gesellschaft und die | |
Demokratie/der Kapitalismus/Imperialismus sind das Übel, sondern die | |
Pythagoreer mit ihrer Verheiligung der Zahlen! Das Übel deswegen, weil wir | |
an diesem mathematikbasierten Mist ersticken werden, die wild lebenden | |
Tiere und Urwälder als Erstes. „Es gibt keine ökonomische Utopie mehr, nur | |
noch eine ökologische“, meint Bruno Latour. Aber auch die wird Utopie | |
bleiben – und die Gemüter höchstens als „Lifestyle“ noch eine Weile | |
bewegen. Denn auch die ökologischen Probleme will man technisch (also | |
mathematisch) lösen – nur solche Lösungen sind profitabel, im Gegensatz zu | |
sozialen Erfindungen, die sich nicht vermarkten lassen. | |
Der Berliner Medienwissenschaftler Gustav Roßler hat 2016 den „Anteil der | |
Dinge an der Gesellschaft“ untersucht. Haben nicht die Ersteren die | |
„Gesellschaft“ längst geschluckt? Dafür spricht, dass für Roßler die Di… | |
„soziale Akteure“ sind und die „globale Gesellschaft“ laut Claude | |
Lévi-Strauss „auf Menschenstaub beruht“. | |
11 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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