# taz.de -- Biographie von Claude Lévi-Strauss: Die Primitiven gibt es nicht | |
> Zwischen umherfliegenden Papageien analysierte Claude Lévi-Strauss | |
> Gesellschaften als Zeichensysteme. Wer war er und warum war er so | |
> wegweisend? | |
Bild: Claude Lévi-Strauss im November 2005 | |
Das „Anderswo“ war für Claude Lévi-Strauss der Ort, der ihn anzog, | |
intellektuell reizte, herausforderte. Das mag wenig überraschend sein, war | |
Lévi-Strauss doch Ethnologe und dieses Anderswo gewissermaßen sein | |
Forschungsgegenstand. Folgt man der Historikerin Emmanuelle Loyer, die nun | |
die erste umfassende Biografie des französischen Intellektuellen vorgelegt | |
hat und die diesen Begriff einführt, so ist dieses Anderswo aber nicht nur | |
ein geografisches. Es ist auch ein Anderswo in der wissenschaftlichen | |
Arbeit, ein Anderswo in den für ihn viel zu engen, fensterlosen Denkräumen | |
seines Fachbereichs, das er suchte. | |
Das Lebenswerk des Claude Lévi-Strauss, der 2009 im Alter von 100 Jahren | |
gestorben ist, ist eng mit dem Strukturalismus in der Ethnologie verbunden, | |
also der auf sprachwissenschaftlichen Prinzipien basierenden Analyse | |
menschlicher Gesellschaften. Dazu kam bei ihm ein Denken, das keiner | |
Konvention folgte, das nichts als gegeben voraussetzte – wohl deshalb hat | |
er eine solch herausragende Bedeutung für die Geisteswissenschaften. Dank | |
der Biografie Loyers, in der sie aus Werken, Korrespondenzen, Archiven | |
sowie aus Interviews mit ihm und seinen Zeitgenossen zitiert, kann man | |
dessen Wirken nun noch besser einordnen. | |
Wer war Lévi-Strauss und warum war er so wegweisend? Am berühmtesten sind | |
seine Feldforschungen in Zentralbrasilien in den 1930er Jahren, die er in | |
„Traurige Tropen“ („Tristes Tropiques“, 1955) niederschrieb. Er analysi… | |
darin die Beziehungen und die Regeln innerhalb indigener Gruppen wie der | |
Caduveo- und der Bororo-Indianer auf Grundlage der Linguistik; er | |
untersucht Verwandtschafts- und Organisationssysteme. | |
Die grundlegende Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifkant | |
(Bezeichnetes und Bezeichnendes), wie sie der Sprachwissenschaftler | |
Ferdinand de Saussure im frühen 20. Jahrhundert einführte, sowie die | |
Semiotik Roman Jakobsons adaptierte er für die Ethnologie/Anthropologie. | |
Eine jede menschliche Gesellschaft: ein Zeichensystem. | |
## Dualismen der Moderne | |
Bedeutender sind die daraus gezogenen Schlussfolgerungen: Unterschied man | |
bis dato zwischen „primitiven“ und „zivilisierten“ Gesellschaften, legte | |
Lévi-Strauss nahe: Es sind unterschiedliche soziale Systeme mit | |
unterschiedlichen Entstehungsbedingungen – keine Organisationsform ist | |
jedoch als höher oder niedriger anzusehen. Sogenanntes wildes Denken folge | |
demnach ähnlichen Logiken wie sogenanntes zivilisiertes Denken. | |
Schon in „Rasse und Geschichte“ („Race et Histoire“, 1952), einem für … | |
Unesco-Kongress geschriebenen Text, hatte er ausgeführt, dass jede | |
Verknüpfung zwischen einer „Rasse“ und einer psychologischen Eigenschaft | |
„antiwissenschaftlich“ sei, wie Loyer es zusammenfasst. | |
Lévi-Strauss wendet sich auch gegen eine Sichtweise auf die | |
Menschheitsgeschichte, nach der sie nur in Maßstäben von Fort- und | |
Rückschritt begriffen werden könne. Die Dualismen der Moderne – Loyer nennt | |
etwa Rationalität gegen Obskurantismus, Wissenschaft gegen mythisches | |
Denken, Fortschritt gegen Stabilität – negiert er. Den Anthropozentrismus | |
auch. | |
In den Siebzigern schlägt er einmal vor, die „Rechte des Menschen“ durch | |
die „Rechte des Lebenden“ zu ersetzen – eine für ihn typische Denkfigur, | |
zumal nach den katastrophischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. | |
## Ein glühender Sozialist | |
In „Mythologica III“ (1968) schreibt Lévi-Strauss: „In diesem Jahrhunder… | |
in dem der Mensch danach trachtet, zahllose lebendige Formen zu zerstören, | |
ist es notwendiger denn je zu sagen, daß eine wohl geordnete Humanität | |
nicht mit sich selbst beginnt, sondern die Welt vor das Leben setzt, das | |
Leben vor die Menschen und die Achtung der anderen Wesen vor die | |
Selbstliebe; und daß selbst ein Aufenthalt von ein oder zwei Millionen | |
Jahren auf dieser Erde nicht irgendeiner Rasse als Entschuldigung dafür | |
dienen kann, sie sich gleich einem Ding anzueignen und sich darin schamlos | |
und rücksichtslos zu verhalten.“ | |
Die äußerst detailreiche Biografie Loyers beginnt weit vor Lévi-Strauss’ | |
Geburt: mit dessen Urgroßvater Isaac Strauss, einem berühmten Dirigenten | |
und Komponisten. Sie zeichnet seinen Stammbaum nach (ein naheliegender Move | |
bei jemandem, der sich so viel mit Verwandtschaftsverhältnissen beschäftigt | |
hat), beschreibt sein Aufwachsen in einer säkularen jüdischen Familie mit | |
künstlerischem Background (sein Vater und zwei seiner Onkel waren Maler). | |
Lévi-Strauss studiert in den späten 1920er Jahren Jura und Philosophie an | |
der Sorbonne, ist zu dieser Zeit, heute fast vergessen, ein glühender | |
Sozialist. Er tritt zunächst einen Lehrerposten an, 1934 dann nimmt er das | |
Angebot an, als Gastprofessor für Soziologie an der Universität von São | |
Paulo zu lehren und dort zu indigenen Gruppen zu forschen. | |
Nachdem er kurzzeitig nach Paris zurückkehrt, geht er unter dem | |
Vichy-Regime ins Exil nach New York. In den 1950ern, wieder zurück in | |
Frankreich, wird er mit „Traurige Tropen“ auch deshalb weltberühmt, weil | |
das Buch für ein wissenschaftliches Werk sehr literarisch – „proustisch“ | |
sagen viele – ist. Bis 1963 verkauft sich das Buch fast 40.000 Mal, noch | |
heute ist es ein Grundlagenwerk der Kulturwissenschaften. | |
## Liebe zum Schnupftabak | |
Im Lauf seiner Karriere lehrt Lévi-Strauss unter anderem am Collège de | |
France, ist kurzzeitig Direktor des Musée de l’Homme und wird 1973 in die | |
konservative Académie française aufgenommen. Das bringt ihm heftige Kritik | |
der Studentenbewegung ein, mit der er zu dieser Zeit aber ohnehin nicht | |
viel gemein hat. Aus heutiger Perspektive überrascht das, denn gemeinsam | |
mit Roland Barthes, Jacques Derrida und Jacques Lacan gehört er zu den | |
intellektuellen Ikonen der 1960er Jahre. Jene begründen Ende der 1960er den | |
Poststrukturalismus, der den Lévi-Strauss’schen Strukturalismus in die | |
Postmoderne überführt. | |
Loyer, die an der Grande École Sciences Po Paris lehrt und unter anderem | |
zum Mai 68 und zu französischen Intellektuellen im New Yorker Exil | |
gearbeitet hat, legt hier aber keine spröde Wissenschaftsbiografie vor. Man | |
bekommt ein gutes Bild des Menschen Lévi-Strauss. Gleich einleitend führt | |
die Autorin ihre Leser in sein Arbeitszimmer, wo er, umgeben von 12.000 | |
Büchern, mitgebrachten Artefakten und zeitweise umherfliegenden Papageien | |
gearbeitet hat. | |
Auch von seinen drei Ehen (bisweilen mit abrupten Enden im brasilianischen | |
Dschungel), von seiner Liebe zum Schnupftabak („Welche Wollüste entgehen | |
doch unseren Zeitgenossen, die nicht schnupfen!“) und zur Musik und von | |
seinem immer wieder aufblitzenden, brillant bösartigen Humor berichtet sie. | |
Ebenso von „todlangweiligen“ Mittag- und Abendessen mit Jean-Paul Sartre | |
und Igor Strawinsky. | |
„In unserem kopflosen und gebeutelten 21. Jahrhundert, das mit | |
technologischen Revolutionen kämpft, die es nicht beherrscht“ sei | |
Lévi-Strauss von „neuer Aktualität“, erklärt die Autorin einführend. Auf | |
den folgenden gut 1.000 Seiten belegt sie dies eindrucksvoll. | |
24 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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