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# taz.de -- Die Wahrheit: Seherinnen, die Seher fressen
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (53): Gottesanbeterinnen
> müssen für allerlei Interpretationen herhalten.
Bild: Man sieht sie kaum, aber sie hat es in sich: Gottesanbeterin
Die Gottesanbeterin (Mantis religiosa) wurde schon von den Griechen als
„Seherin“ (Mantis) bezeichnet. Das „Insekt des Jahres 2017“ soll sich in
der Türkei angeblich immer nach Mekka wenden. In China hält man sie in
Bambuskäfigen und begeistert sich an ihren Kämpfen. Die Gottesanbeterin
kennt daneben auch noch den Geschlechterkampf – insofern sie bis zu sieben
sich mit ihr verpaarende Männchen nacheinander köpft. Der Insektenforscher
Raphael Dubois vermutete, dass durch das Köpfen der Paarungsakt verlängert
wird. „So dass ihr letztlich das Lustprinzip die Ermordung ihres Geliebten
diktiert hat, dessen Körper sie obendrein bereits während des Liebesaktes
aufzufressen beginnt“, wie der Philosoph Roger Caillois 1934 in einer
Studie über die Mantis schrieb.
Viele Naturforscher haben bei der Gottesanbeterin „eine äußerst enge
Verbindung von sexueller Wollust und Wollust der Nahrungsaufnahme“
festgestellt – und dabei unterstellt, dass der Paarungsakt der
Gottesanbeterin Lust bereitet – und sie überhaupt hemmungslos
vermenschlicht. Vor allem die französischen Intellektuellen: André Breton
züchtete sie, Salvador Dalí theoretisierte sie, Paul Celan legte Dossiers
über sie an und schrieb Mantisgedichte, Paul Eluard sammelte Mantiden auf
Nadeln. Er betrachtete das Verhalten der Gottesanbeterin als „die ideale
sexuelle Beziehung: Der Liebesakt setze den Mann herab und erhebe die Frau;
es sei also natürlich, dass sie ihre vorübergehende Überlegenheit ausnutze
und ihn verschlinge, mindestens töte.“
Der Pariser Physiologe Léon Binet nannte sie eine „mörderische Geliebte“
und schwärmte: „Sie schwächt, sie tötet, und wird dabei nur noch schöner.…
Die Darwinisten hoben dabei natürlich auf den Nutzen ab: Sie braucht
dringend Eiweiß für ihr Gelege. Nebenbei bemerkt, sterben die meisten
männlichen Insekten nach der Besamung sowieso, und fast alle Weibchen bald
nach der Eiablage. Auf ihre Paarung folgt der Tod. Wenn man sie zölibatär
hält, leben sie einige Monate länger.
## C'est pervers!
Die französische Begeisterung über den „perversen Paarungsakt“ der
Gottesanbeterin hat eine Vielzahl von Wahnvorstellungen hervorgebracht,
unter anderem die männliche Kastrationsangst vor einer gezahnten Vagina.
Laut Caillois ist diese Angst eine „Spezifizierung der Angst des Mannes,
von der Frau während oder nach der Paarung verschlungen zu werden.“ Für den
Philosophen besteht die Mantisnähe der Frau „schließlich in der bekannten
Tatsache, dass sie nach dem Beischlaf große Lust verspürt, ihren Geliebten
zu beißen“.
Die Lebensgewohnheiten der Gottesanbeterin erforschte keiner so gründlich
wie der südfranzösische Entomologe Jean-Henri Fabre. Die nachfolgenden
haben ihn meist nur ergänzt, ihnen fehlte seine Geduld. Die Gottesanbeterin
ist ein Lauerjäger. Im Gegensatz zu allen anderen pflanzenfressenden
„Geradflüglern“ ernährt sie sich von lebenden Tieren. Sie tötet sie wie
Raubkatzen mit einem gezielten Biss in den Nacken.
Fabre beobachtete die Gottesanbeterinnen in seinem Arbeitszimmer unter
einer Reihe „Gazeglocken, wie man sie als Fliegenschutz über Speisen
deckt“. Zweimal täglich musste er draußen Insekten fangen, um sie zu
füttern, dazu stellte er zwei „junge Nichtstuer“ an. Die Gottesanbeterinnen
wurden immer wählerischer, oft knabberten sie die Beutetiere nur an.
Dadurch verfälschte die Gefangenschaft („die Langeweile“) ihr normales
Verhalten – insofern sie draußen in Freiheit wahrscheinlich nicht so
anspruchsvoll sein konnten, wie Fabre mutmaßte, der dann seinerseits auch
immer wählerischer wurde – und immer größere und wehrhaftere Insekten
anschleppte, um zu sehen, wie „seine“ Gottesanbeterinnen damit fertig
wurden.
## Sie schaut, sie prüft, sie frisst
„Als einziges Insekt lenkt die Mantis ihren Blick, sie schaut, sie prüft;
sie hat beinahe einen Gesichtsausdruck.“ Zeigt sich ein Beutetier, nimmt
sie „plötzlich eine furchterregende Stellung ein“. Sie will damit
anscheinend ein besonders großes, kräftiges Beutetier „einschüchtern,
lähmen, denn es könnte, wenn nicht durch Schreck demoralisiert, allzu
gefährlich sein. Ihre plötzliche Gespensterhaltung versetzt die Beute in
Schreckstarre.“ Dazu klappt sie ihre „fürs Fliegen untauglichen
Riesensegel“ wie ein „Gespenstergewand“ auf – es sind „Jagdgeräte“
geworden.
Die Männchen sind kleiner und können fliegen. Die Weibchen werden, wenn
ihre Eier reifen, unmäßig dick. Irgendwann fallen sie auch übereinander
her: „Sie drehen den Kopf nach rechts und links, fordern einander heraus
und werfen sich beleidigende Blicke zu.“
Fabre beobachtete bei einem Weibchen einen mehrstündigen Paarungsakt, bei
dem das Männchen bereits halb aufgefressen war. „Ich habe es mit eigenen
Augen gesehen und mich noch immer nicht von diesem Schreck erholt“,
schreibt er und kommt sogleich auf einen „besseren Gesichtspunkt“ zu
sprechen: „Ihr Nest ist ein Wunder“. Etwa vier mal zwei Zentimeter groß,
hat es sogar einen wissenschaftlichen Namen: „Oothek“. Es besteht aus einer
aufgeschäumten seidenähnlichen Masse, die sich verhärtet, wobei die Mantis
vorwiegend „mit Luft baut“ und gleichzeitig in Schichten Eier hineinlegt –
mit ihrem Hinterteil: „Die Mantis hängt reglos am Gaze, dem Fundament ihres
Nestes. Das Ding, das hinter ihr entsteht, würdigt sie keines Blickes, ihre
Beine werden nicht gebraucht … Gleich nach der Eiablage entfernt sich die
Mutter gleichgültig.“ In den Nestern reifen zwischen 400 und 1.000 Eier
heran. Mitte Juni schlüpfen – in Schwärmen – die Larven. Fabre muss auch
sie füttern, sie verschmähen jedoch alles, was er ihnen vorsetzt – und
sterben. „Der Misserfolg hat auch sein Gutes“, tröstet der Züchter sich.
„Er verweist auf eine Übergangsernährung, die ich noch nicht kenne.“
## Die Säulen des Entomologen
Die farbigen Schilderungen des Entomologen, der von 1823 bis 1915 lebte und
den Literaturnobelpreis für seine zehnbändigen „Erinnerungen eines
Insektenforschers“ bekam, beruhen auf drei weltanschaulichen Säulen:
1. Vom Schöpfer aufs Feinste eingestellte „Instinkte“ (die keinen Spielraum
für adäquate Reaktionen auf neue Situationen lassen).
2. Das Leben und Arbeiten patriarchaler Familien, Handwerker und Bauern –
um dem Volk nahe zu bleiben („Sie bietet allen ihren Schoß dar und lässt
sie den Hochzeitsrausch mit ihrem Leben bezahlen“). Der eine Experte
versichert uns im Nachwort: Fabre vermenschliche „seine“ Insekten nie; der
andere: Fabre vermenschliche sie hemmungslos.
3. Seine Kritik an Akademismus/Elitismus und am „Darwinismus“, Letzteres
meint modernen Kapitalismus, Konkurrenz und Entwicklung: Das heißt die
Begriffe der drei englischen Liberalen Jeremy Bentham, Herbert Spencer und
Thomas Malthus. Von Bentham übernahm Darwin den Utilitarismus: das Prinzip
der Nützlichkeit; von Spencer die Vorstellung vom Überleben des
Tüchtigsten: „Survival of the fittest“; von Malthus die Idee der Konkurrenz
als treibende Kraft der Evolution. „Darwin hat bloß die schlechten
Gewohnheiten der englischen Bourgeoisie auf die Natur übertragen“, wie Marx
spottete.
22 May 2018
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Insekten
Tiere
Alkohol
Biologie
Zoo
Biologie
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