# taz.de -- Die Wahrheit: Süffisante Spitzhörnchen | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (55): Die nachtaktiven | |
> Kletterer neigen in nicht geringem Maße zum Alkohol. | |
Bild: Sehr dekorativ setzt sich das durstige Federschwanz-Spitzhörnchen in Tri… | |
Die Süddeutsche Zeitung nennt sie respektlos „Saufhörnchen“, denn die | |
nachtaktiven Kletterer, die in den Wäldern Südostasiens leben, können | |
Alkohol weitaus besser vertragen als der Mensch, wie die SZ vom Bayreuther | |
Tierphysiologen Frank Wiens erfuhr. Ihr wichtiger Nahrungsbestandteil ist | |
der zu Alkohol fermentierte Blütennektar der Bertram-Palme, der 3,8 Prozent | |
Alkohol enthält. Sie müssten eigentlich ständig betrunken sein, aber | |
anscheinend ist ihr Stoffwechsel sehr viel „effektiver“ als unserer. | |
Über die Fortpflanzung dieser Tiere ist wenig bekannt. Die Tragzeit wird | |
auf 45 bis 55 Tage und die Wurfgröße auf eins bis vier geschätzt, heißt es | |
auf Wikipedia, das auch über den Gefährdungsgrad dieser Spitzhörnchen keine | |
genauen Angaben machen kann: „Das relativ große Verbreitungsgebiet“ spricht | |
aber wohl dafür, „dass sie im Vergleich zu anderen Arten weniger bedroht | |
ist.“ | |
Der Alkohol scheint ihnen also gut zu bekommen. Ihre Bayreuther Erforscher | |
besitzen laut Spiegel Videoaufnahmen, die zeigen, „dass jedes Tier mehr als | |
zwei Stunden pro Nacht den alkoholhaltigen Nektar trinkt. Das war mehr | |
Zeit, als für irgendeine andere Nahrung aufgewendet wurde.“ Dies haben | |
ihnen Haarproben von den Spitzhörnchen noch einmal bestätigt. | |
## Positive Effekte des Alkohols | |
Am Schluss ihres Beitrags schießen die Forscher jedoch über das Ziel | |
hinaus: Sie vermuten als brave Darwinisten, dass der Alkohol positive | |
psychologische Effekte hat, denn der „Alkoholkonsum bei Spitzhörnchen ist | |
ein Ergebnis der natürlichen Selektion. Deshalb sollte für die Tiere unter | |
dem Strich ein Nutzen stehen.“ | |
Überdies ziehen sie daraus den kühnen Schluss, dass die Menschen schon | |
lange vor dem Bierbrauen – vor circa 9.000 Jahren – Alkohol konsumiert | |
haben: Ihre „Untersuchung zeige, dass ein regelmäßiger hoher Alkoholkonsum | |
schon sehr früh in der Evolution der Primaten vorkam“. Eine „kurze | |
Geschichte des Lasters“, wie das Schweizer Magazin Republik das nennt. | |
Erstaunlich, was man aus dem Alkoholkonsum eines so kleinen | |
eichhörnchenähnlichen Säugetiers (von höchstens 14 Zentimetern ohne Schwanz | |
und 33 Zentimetern mit Schwanz) alles rausholen kann, wenn man nur | |
darwinistisch genug besonnt ist. | |
Auf biologie.de bleibt man in Bezug auf die Federschwanz-Spitzhörnchen | |
konkreter: „Sie sind Baumbewohner, die ausgezeichnet klettern und springen | |
können“, heißt es da. „Der auffällige Schwanz dient dabei der Balance, | |
möglicherweise auch dem Tastsinn. Tagsüber ruhen sie zusammengerollt in | |
selbstgebauten, aus Blättern und Zweigen errichteten Nestern. Ihre Nahrung | |
besteht aus Insekten, kleinen Wirbeltieren wie etwa Geckos und Früchten.“ | |
Die Seite tierdoku.de präzisiert: „Das Federschwanz-Spitzhörnchen zählt zu | |
den Allesfressern und verzehrt unter anderem Bananen, Trauben, Grillen und | |
Heuschrecken.“ | |
Das Forum wissenschaft.de spricht von „trinkfest“; Die Zeit betitelte ihren | |
Artikel leicht beschwipst mit „Prost Spitzhörnchen“; während der Stern si… | |
für die Überschrift „Wenn Spitzhörnchen Palmbier saufen“ entschied und d… | |
Wiener Zeitung für „Kampftrinker im Regenwald“. Das geht immer so weiter. | |
## Erbgut eines Gleiters | |
Den Blogger Jochen Ebmeier inspirierte die Bayreuther Forschung gar zu | |
einer Geschichte über „Den Anteil des Schnapses an der Menschwerdung“. Die | |
Neue Zürcher Zeitung drückte sich nüchterner aus: „Anhand neuer genetischer | |
Studien schließen die Forscher, dass die nächsten Verwandten der Primaten | |
die Riesengleiter sind. Dies deute darauf hin, dass sich etwa das Erbgut | |
des Urahnen der Primaten ohne das sequenzierte Erbgut eines Gleiters nicht | |
rekonstruieren lasse. Zudem vermuten sie, dass bei den Spitzhörnchen das | |
Federschwanz-Spitzhörnchen (Ptilocercus lowii) eine Sonderstellung hat und | |
deshalb besonderen Schutz genießen sollte.“ Es gibt insgesamt 18 | |
Spitzhörnchen-Arten. | |
Als die Bayreuther Forscher die possierlichen Federschwänze in den | |
südostasiatischen Wäldern aufspürten und sie auf den blühenden | |
Bertram-Palmen abpflückten, passierte laut spektrum.de Folgendes: „Deren | |
Befruchtungsquote sank auf die Hälfte. Die pelzigen Zechgenossen dienten | |
dem Grün als Pollentransporteure.“ | |
Es handelte sich also bei der Palme und den Spitzhörnchen um eine womöglich | |
gut eingespielte Ko-Evolution – Pollen für Palmwein –, die bereits seit 55 | |
Millionen Jahre existiert, wie die Bayreuther vermuten. Um an diesem | |
niedlichen Forschungsobjekt dranzubleiben, haben sie sich schon „neue | |
Fragen“ überlegt: „Zeigen die alkoholisierten Winzlinge ähnlich verringer… | |
Stress- und Angstlevel wie ihre zweibeinigen Verwandten nach dem dritten | |
Glas?“ | |
Wobei sie anscheinend davon ausgehen: „Was beim Menschen von Vorteil sein | |
kann, könnte im Urwald schnell zum Nachteil werden“ – also dass die | |
Kleinsäuger ihren Fressfeinden entspannt entgegensehen, statt | |
reaktionsschnell zu fliehen. Eigentlich müsste das im Widerspruch zu ihrer | |
gegenüber der SZ geäußerten Hypothese stehen, wonach der Stoffwechsel der | |
Hörnchen vermutlich sehr viel „effektiver“ als unserer ist. | |
## Falscher Name durch Entdecker | |
Diese sind im Übrigen nicht mit unseren „Hörnchen“ verwandt. Den falschen | |
Namen verdanken sie dem Entdecker William Ellis, der 1780 als Arzt an der | |
dritten Fahrt von James Cook in die Südsee teilnahm. In ihrer Heimat wurden | |
und werden sie Tupaias genannt. Am besten untersucht sind dort die zwei | |
Arten „Tupaia glis“ und „Tupaia belangeri“. Zunächst wurden sie (von E… | |
Haeckel) zu den „Insektenfressern“ gezählt und danach als primitivste | |
Vertreter der Primaten begriffen. | |
Aber dann untersuchte der Zoologe R. D. Martin im Rahmen seiner | |
Doktorarbeit bei Konrad Lorenz im Max-Planck-Institut in Seewiesen ihr | |
Verhalten. Dazu züchtete er sie in Gefangenschaft. Das Göttinger | |
Leibniz-Zentrum für Primatenforschung, genauer gesagt das „Cognitive | |
Neuroscience Laboratory“, das ebenfalls „Tupaia belangeri“ hält, fasste | |
1996 dessen Forschungsergebnisse so zusammen: „Zwar bereiten die Mütter vor | |
der Geburt der Jungen ein Nest vor, doch kümmern sie sich nach der Geburt | |
kaum mehr um sie. Über ungefähr einen Monat suchen sie nur etwa alle zwei | |
Tage ihren Nachwuchs für etwa 5 bis 10 Minuten zum Säugen auf … Auch sonst | |
weicht das Verhalten der Tupaia-Eltern gegenüber den Jungtieren stark von | |
dem der Primaten ab. Die Väter kümmern sich überhaupt nicht um die Jungen | |
und unterscheiden sich damit nicht viel von den Müttern, welche den nackt, | |
blind und taub geborenen Nachwuchs weder säubern, noch wärmen, noch | |
verteidigen.“ | |
Das klingt wie die typische Kindesvernachlässigung von Alkoholikereltern. | |
Man fand aber einen ausgeprägt zoologischen Kompromiss: Die „Saufhörnchen“ | |
werden nun „als eigene Ordnung ‚Scandentia‘ gleichberechtigt neben | |
Insektivoren und Primaten geführt“. | |
18 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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