# taz.de -- Die Wahrheit: Als ob es keine Stäbe gäbe | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (52): Tiere zu berühren | |
> kann ein Risiko sein, das man manchmal nur allzu gern eingeht. | |
Bild: „Komm berühr' mich! Ganz tief unten, wo noch niemand war!“ | |
Die Gorillaforscherin Dian Fossey war Autodidaktin, von Tierliebe | |
motiviert. Als der Verhaltensforscher Robert Hinde und der Tierfilmer Alan | |
Root sie in ihrem Camp in den Bergen Ruandas besuchten, wollte Hinde sie | |
mit statistischer Verhaltensforschung vertraut machen und Root mit | |
unauffälligen Beobachtungstechniken: Es gehe nicht darum, die Tiere zu | |
berühren oder von ihnen berührt zu werden. Aber Dian Fossey „ging an das | |
Problem der Gewöhnung heran, als wäre sie auch ein Gorilla“, wie ihr | |
Biograf Harold Hayes schreibt. Als ein junges Gorillamännchen sich einmal | |
neben sie hockte, die Hand ausstreckte und ihre Finger berührte, war das | |
für sie „der Höhepunkt ihrer Arbeit. Sie war der erste Mensch, der von | |
einem Gorilla berührt worden war“. 1985 wurde Dian Fossey von Wilderern | |
ermordet, aber ihre Forschungsstation existiert noch, heute kommen | |
Touristen dorthin. Sie wollen „die Gorillas berühren, und den Gorillas | |
scheint es zu gefallen“. | |
Als ich im Bremer Tierpark als Aushilfstierpfleger arbeitete, lebten im | |
Gepardgehege drei wilde und ein zahmer Gepard, der in der Wohnung des | |
Tierparkbesitzers George Munro in Kalkutta aufgewachsen war. Er blickte | |
anders als die anderen drei allen nach, die am Gehege vorbeigingen. Ihm | |
fehlte der Menschenkontakt, vermutete ich. Er war halb ein- und halb | |
ausgewildert. | |
Eines Tages traute ich mich durch die Doppeltür, hinter der er im Gehege | |
stand und sofort (erfreut?) auf mich zukam, ich kraulte ihn – bis die | |
anderen drei Geparde mir zu nahe kamen. | |
## Auf den gewohnten Geruch vertrauend | |
Weiter passierte nichts, aber noch heute kann ich mich über meinen | |
jugendlichen Leichtsinn ärgern. Damals empfand ich jedoch noch ähnlich wie | |
die junge Tierpflegerin Eva Salzer, die einst im Leipziger Zoo als | |
„Tierkindermädchen“ arbeitete und in einer Aufsatzsammlung ihres Direktors | |
Karl Max Schneider 1962 berichtete: „Als ich es nun nach so vielen Jahren | |
einmal wagte – auf den gewohnten Anblick und Geruch meines Arbeitsanzuges | |
vertrauend –, vorsichtig die Hand durch die Gitterstäbe gleiten ließ, um | |
den stattlichen alten Löwen zu berühren, und als der stattliche alte Löwe | |
nichts dagegen einzuwenden hatte – da war ich den ganzen Tag in gehobener | |
Stimmung.“ | |
Während sein Vater, der Leipziger Zoo- und Zirkustierarzt, mit der | |
Zirkusdirektorin Frieda Sembach-Krone in ihrem Wohnwagen saß und | |
„Zirkusschnaps“ trank, wurde es seinem Sohn, Carl-Christian Elze, | |
langweilig, wie er in seinem Buch „Zoogeschichten“ (2018) schreibt, und so | |
traute er sich zu fragen, ob er rausgehen könne zu den Tieren. Aber | |
natürlich, sagte Frau Sembach-Krone, und sein Vater rief ihm hinterher: | |
„Aber steck nicht irgendwo deine Finger rein, verstanden!“ Natürlich nicht, | |
antwortete er. Vor einem Käfig mit einem schlafenden Tiger, „der besonders | |
dicht am Gitter lag“, blieb er stehen. „‚Aber steck nicht irgendwo deine | |
Finger rein, verstanden!‘, hörte ich meinen Vater wieder rufen. Ich hatte | |
es gar nicht vorgehabt, aber gleichzeitig spürte ich einen allerersten | |
Reiz, genau dies zu tun. Es wäre das erste Mal in meinem Leben, dass ich | |
einen ausgewachsenen Tiger berührte und nicht nur ein Tigerbaby, dachte | |
ich. Tigerbabys berühren konnte schließlich jeder. Und trotzdem war ich | |
noch lange nicht so weit, es wirklich zu tun.“ | |
Er dachte an eine seiner Lieblingsgeschichten – von seiner Mutter: „Sie | |
hatte meinen Vater kurz vor meiner Geburt in einen russischen Zirkus | |
begleitet, wo es ein Walross gab, das in einem Käfig lag. Das Walross hatte | |
genau am Gitter gelegen und geschlafen, so wie jetzt der Tiger vor mir. | |
Meine schwangere Mutter war näher herangegangen und hatte plötzlich den | |
gewaltigen und unabschüttelbaren Wunsch verspürt, zu erfahren, wie sich ein | |
Walross anfühlt.“ | |
## Seine Stoßzähne sausten durch das Gitter | |
Sie steckte ihre Hand durch das Gitter. „Nur ganz kurz wollte sie das | |
Walross berühren, nur ein einziges Mal, wie sie später immer wieder | |
betonte.“ Aber was passierte? Auf einen Schlag warf sich das über tausend | |
Kilo schwere Tier, das von ihr erschreckt worden war, komplett herum und | |
seine Stoßzähne sausten durch das Gitter. „Meine Mutter zog ihre Hand | |
augenblicklich zurück und trotzdem hatte einer der Stoßzähne den Ärmel | |
ihres Strickkleides durchbohrt.“ Sonst war zum Glück nichts weiter | |
passiert. „Auf meine über die Jahre hinweg immer wieder gestellte Frage, | |
wie sich das Walross denn nun angefühlt habe, antwortete sie stets das | |
Gleiche, als ob sie immer noch im Schockzustand wäre: ‚Ich weiß es nicht | |
mehr, es ging alles so schnell.‘“ | |
Ihr Sohn wollte es unbedingt geschickter anstellen: „Ich wollte den Tiger, | |
der mit dem Rücken zu mir lag, auf keinen Fall erschrecken. Ich entschloss | |
mich, den Tiger zunächst einmal zu wecken beziehungsweise anzusprechen. | |
Natürlich in Tigersprache. Eine Sprache, die ich ein bisschen von meinem | |
Vater gelernt hatte.“ Carl-Christian ging näher an den Käfig heran und | |
tatsächlich reagierte der Tiger darauf. Er erhob sich, drehte sich langsam | |
herum und berührte mit seinem „großen und wunderschönen Kopf die Gitter. Er | |
schaute mir direkt in die Augen. Ich hoffte inständig, dass ich keine | |
Zisch-und-Gurr-Beleidigungen ausgesprochen hatte, aber er schien nicht | |
gereizt zu sein, er sah nur verwundert aus. Ich hob meinen rechten Arm und | |
hielt den flachen Handteller in einigem Abstand vor das Gitter, dabei | |
zischte und gurrte ich weiter.“ | |
Der Tiger drückte seinen Kopf fester gegen die Gitterstäbe und seine | |
rosafarbene Nase schob sich ein Stück zwischen zwei Stäben hindurch. Nur | |
die Tigernase ragte ein wenig aus dem Käfig heraus, das ganze Maul aber | |
passte nicht hindurch. „Ich hielt meine Hand noch etwas dichter vor das | |
Gitter und wartete ab, ob der Tiger vielleicht doch noch zuschnappen würde, | |
aber er tat es nicht. Es schien sogar so, als ob er meine Hand gar nicht | |
wahrnähme – er blickte mir noch immer in die Augen. Und plötzlich, ich weiß | |
nicht, wie, lag meine Hand auf seiner feuchten Nase.“ | |
## Meine Finger begannen mit dieser Zunge zu spielen | |
Carl-Christian durchzuckte ein ungeheures Glücksgefühl. Ein Gefühl, das | |
sich weiter steigerte, als der Tiger auf einmal seine Zunge herausfuhr und | |
seine Hand zu lecken begann. „Es war eine große raue Zunge, die mich | |
ausgiebig, geradezu genüsslich, leckte. Als ob mich eine riesige Hauskatze | |
putzen würde. Und das Verrückteste war, meine Finger begannen irgendwann | |
mit dieser Zunge zu spielen.“ | |
Alles an ihm wurde mutiger. Er berührte den felligen Nasenrücken des Tigers | |
und bemerkte erst später, dass sein Arm ein ganzes Stück in den Käfig | |
hineinragte. „Trotzdem streichelte ich weiter und berührte den Tiger auch | |
an der Stirn und an den Wangen. Er schnurrte. Ich war wie in Trance. Als ob | |
er mich hypnotisiert hätte. Und auch jetzt noch, wo ich mich erinnere, bin | |
ich wieder seltsam abwesend.“ | |
In der Volksbühne gastierte einmal ein Schlangentherapeut: Er besaß eine | |
Reihe von Pythons und Boas, zwischen anderthalb und vier Metern lang, die | |
auf einem Teppich lagen und versuchten, aus dem Licht ins Dunkel zu | |
kriechen, wo um sie herum das Publikum saß. Die Schlangen mögen es nicht, | |
berührt zu werden, meinte der Therapeut, aber uns tut es gut, besonders den | |
Schlangenphobikern. Die saßen aber ganz hinten. | |
30 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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