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# taz.de -- Berliner Strafvollzug: Justiz ist krank
> Rechtsausschuss debattiert die jüngste Flucht aus der JVA Tegel.
> Krankenstand der Beamten ist zu hoch. Justizsenator Behrendt sucht ein
> Rezept.
Bild: JVA Tegel
Ein Sofortprogramm mit technischen und personellen Neuerungen hatte
Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) Ende letzter Woche vorgelegt. Die
spektakuläre Flucht eines 24-jährigen Häftlings am 7. Februar aus der JVA
Tegel war der Auslöser gewesen. Die Sicherheitsvorkehrungen an der Pforte
sollen verbessert werden; Aushilfskräfte sollen die Justizbediensteten
verstärken, bis neues Personal ausgebildet ist.
Aber selbst wenn es bis 2019 gelingen sollte, die Lücke zwischen der Soll-
und der Ist-Personalausstattung zu schließen – ein großes Problem bleibt:
der hohe Krankenstand. Behrendt verwies darauf am Mittwochnachmittag im
Rechtsausschuss, als über die Konsequenzen aus dem jüngsten Ausbruch
debattiert wurde.
Im öffentlichen Dienst von Berlin sind Justizbedienstete mit Abstand am
häufigsten krank. 16,7 Prozent betrug die Quote 2016 nach Angaben der
Senatsverwaltung für Finanzen. Die Zahlen sind seit Jahren nahezu konstant.
Sie liegen deutlich über Polizei und Feuerwehr, der Schichtdienst allein
kann also nicht der Grund für den hohen Krankenstand sein.
Auch als der 24-jährige Häftling Hamed M. am 7. Februar 2018 aus der JVA
Tegel floh, war das Justizpersonal in Tegel erheblich durch Krankheit
dezimiert. Statt der vorgesehenen 14 Bediensteten waren nur 9 Beamte in
der Teilanstalt II im Dienst und damit für rund 300 Gefangene zuständig.
## Selbstgebastelte Attrappe
Vieles spricht dafür, dass M. den Hofgang dazu genutzt hatte, sich unter
einem auf dem Anstaltsgelände stehenden Lastwagen zu verstecken. Zuvor
hatte M. in sein Bett in der Zelle eine selbstgebastelte Attrappe gelegt.
Einer Beamtin, die gegen 17.30 Uhr M.s Zelle sowie weitere 66 Hafträume
verschlossen hatte, war das nicht aufgefallen. Erst bei der Morgenkontrolle
wurde die Abwesenheit des Gefangenen entdeckt.
Der Lkw hatte noch zwei Stunden im Knast gestanden und dann gegen 20 Uhr
nach einer Kontrolle die Pforte passiert. Wie der 1,63 Meter große, dunkel
gekleidete M. es bewerkstelligte, sich am Unterboden des Fahrzeugs zu
verbergen, sei Gegenstand der Ermittlungen, sagte Behrendt. Mit Blick
darauf, dass rund 6.000 Lieferfahrzeuge pro Jahr in der JVA Tegel ein- und
ausfahren, kündigte der Justizsenator an: „Wir werden das reduzieren.“ Mehr
Fahrzeuge sollten künftig vor den Toren abgefertigt werden. Bei den übrigen
werde eine neue Kameratechnik an den Pforten die Kontrollen optimieren.
Auch dafür, dass die „menschliche Sicherheit“ besser funktioniert,
kündigte Behrendt Maßnahmen an. „Weil man nach zehn Jahren
Kontrolltätigkeit vielleicht nicht mehr so genau guckt, wie man sollte.“
Die Sensibilität der Beamten würden nun im Testverfahren überprüft, so der
Justizsenator. Rotierende Teams würden eingeführt und die Gefangenen drei
Mal am Tag gezählt. Fünfzig nicht für den Strafvollzug ausgebildete
Mitarbeiter sollen das Personal bis 2019 verstärken. Vorrangig würden diese
Leute Wachtätigkeiten übernehmen.
Einigermaßen ratlos zeigte sich der Justizsenator indes, was den hohen
Krankenstand betrifft. Behrendt sprach von der „Gesundheitsquote“. In der
Vergangenheit sei schon viel getan worden, um diese zu verbessern: Zusammen
mit den Beschäftigtenvertretern sei ein Gesundheitsmanagement aufgelegt
worden. Mit Langzeitkranken seien Gespräche geführt worden. Ziel sei, den
Beschäftigten unter veränderten Bedingungen einen Rückweg in den Dienst zu
ebnen. Als „tolle Maßnahme“ pries Behrendt auch das Angebot einer anonymen
Sozialberatung.
## Gesundheitsschädlicher Schichtdienst
Trotz alledem sei die Gesundheitsquote aber nicht spürbar besser geworden.
Der gesundheitsschädliche Schichtdienst sei gerade für die Älteren ein
großes Problem. Aber daran lasse sich im Strafvollzug nun mal nichts
ändern, so Behrendt. Hoffnung winke, wenn die zurzeit noch in Ausbildung
Befindlichen eingestellt würden. Aber auch damit werde das Problem nicht
gebannt.
Der frühere Leiter der Frauenhaftanstalt, Michael Blümel, hatte in einem
taz-Interview vor einiger Zeit noch andere Gründe für den hohen
Krankenstand genannt. Es liege auch daran, dass das so einfach sei: Man
finde immer einen Arzt, Beamte seien ja Privatpatienten. Begünstigend komme
hinzu, dass Beamte zwei Jahre krank sein könnten, ohne dadurch einen
finanziellen Verlust zu haben. „Wohlgemerkt,“ so Blümel wörtlich, „nicht
alle machen das, und wenn man/frau den Job ernst nimmt, kann das eine sehr
belastende Arbeit sein. Es kommt auf den Charakter an. Aber es gibt viele
Menschen, sagen wir mal zehn Prozent, die sagen: Warum nicht? Die anderen
sind doch viel öfter krank als ich.“
Im Unterschied zu ersten Reaktionen kurz nach dem Ausbruch verlief die
Diskussion im Rechtsausschuss vergleichsweise sachlich. Besänftigt hatte
die Opposition möglicherweise, dass Behrendt sie am vergangenen Freitag zu
einer Begehung „des Tatorts“ in die JVA Tegel eingeladen hatte. Im
Rechtsausschuss stellte der Justizsenator auch den von ihm als unabhängigen
Experten benannten Gerhard Meiborg vor. Der hatte bis zum Sommer 2016 in
Rheinland-Pfalz im Justizministerium die Abteilung Strafvollzug geleitet.
In Tegel soll Meiborg nun eine Schwachstellenanalyse vornehmen. Bis Mitte
März soll der Bericht vorliegen. „Ich werde versuchen, zügig aufzuklären,
und Vorschläge machen, wie man das mit möglichst wenig Geld ändern kann“,
so Meiborg.
22 Feb 2018
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Dirk Behrendt
Strafvollzug
deutsche Justiz
Knast
Strafvollzug
Dirk Behrendt
Berlin-Tegel
JVA Plötzensee
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
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