Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Prozess um ermordeten Rentner in Berlin: Zehn Jahre in der Tiefküh…
> Als Heinz N. in seiner Wohnung gefunden wird, liegt er da schon zehn
> Jahre – ermordet. Wie kann ein Mensch einfach so verschwinden?
Bild: Berlin, Prenzlauer Berg, Hosemannstr. 18. Hier wohnte Heinz N., das Opfer
Berlin taz | Er wurde Joschi genannt. Die Menschen im Viertel kannten ihn
vom Sehen, manche hatten auch direkt mit ihm zu tun. Den Joschi konnte man
anrufen, wenn es in der Wohnung etwas auszubessern gab, wenn ein paar
Fliesen verlegt werden mussten, ein Klo verstopft war. Man sah ihn oft im
Blaumann vor seinem Trödelladen oder im nahen Kiosk sitzen. Immer
freundlich, immer für ein Schwätzchen zu haben.
Auch der Rentner Heinz N. wird in Josef S. den netten, hilfsbereiten
Nachbarn gesehen haben, der eine Zeit lang in der Wohnung gegenüber gewohnt
hatte. Als Liesel noch lebte, die Frau von Heinz N., hat das Rentnerpaar
Josef S. und seiner Lebensgefährtin ein Gartengrundstück draußen in
Brandenburg überlassen – zu einem Freundschaftspreis.
Für die kinderlosen N.s seien Josef S. und seine Lebensgefährtin wie
Ersatzkinder gewesen, erinnert sich später ein Bekannter. Nach dem Tod
seiner Frau lebte Heinz N. allein in seiner Wohnung.
Irgendwann rund um Silvester 2006 soll Josef S., der nette Mann von
gegenüber, Heinz N. mit einem Kopfschuss getötet haben. Zumindest spricht
vieles dafür. Das Projektil trat über der rechten Augenbraue des Rentners
ein und blieb im Schädel stecken. N. muss sofort tot gewesen sein. Wenig
später wurde seine Leiche zerteilt, in vier rosafarbene Plastiktüten
verpackt und in eine Tiefkühltruhe gelegt, die am 30. Dezember 2006
geliefert wurde.
Die Leichenteile blieben dort zehn Jahre liegen, eingefroren in den Tüten,
obendrauf ein paar Quarkbecher – „Früchtetraum“, „Vanilletraum“ – …
Exquisa-Käse in Scheiben.
Zehn Jahre, in denen Josef S. von der Rente des Toten gelebt haben soll,
jeden Monat um die 2.000 Euro.
## Die Tatwaffe fehlt bis heute
Seit Oktober 2017 wird Josef S. immer wieder dienstags und freitags um 9.15
Uhr in einen holzvertäfelten Saal des Berliner Landgerichts in Moabit
geführt. Die 40. Große Strafkammer muss ein Urteil in diesem Fall sprechen.
S. ist des Mordes angeklagt, heimtückisch ausgeführt, ihm wird außerdem
Raub vorgeworfen, Urkundenfälschung und unerlaubter Waffenbesitz. Wobei
unter den Waffen, die in seiner Wohnung gefunden wurden, nicht die Tatwaffe
war. Die fehlt bis heute. Vor Gericht schweigt S. zu den Vorwürfen.
Die Gegend, in der Heinz N. und Josef S. lebten, ist eine kleine,
überschaubare Welt in Berlin – dort, wo der Prenzlauer Berg in den Bezirk
Weißensee übergeht. Nicht der Prenzlauer Berg, in dem sich sorgfältig
sanierte Gründerzeithäuser aneinanderreihen, oben drin junge Familien,
unten Cafés, sondern ein Randgebiet des Viertels, wo die Häuser niedriger
werden, blasse Dreigeschosser, Handwerksbetriebe in den Hinterhöfen. Kein
angesagtes Wohnviertel, aber auch kein schlechtes.
Dieses Viertel wird nun als Folie genommen, um die Anonymität der
Großstädte zu beklagen, die Vereinsamung älterer Menschen. Berichte über
das Verschwinden des Rentners N. fallen zusammen mit einer Debatte über
Einsamkeit.
Es kann doch im engmaschigen Netz unserer Städte, in einem Land, das jedem
Neugeborenen innerhalb von drei Monaten eine Steuer-Identifikationsnummer
zuweist, niemand einfach so verschwinden – und auch noch für so eine lange
Zeit. Zehn Jahre.
Andererseits kann man sich selbst mal fragen, wie lange es dauert, bis es
einem auffällt, dass man eine Nachbarin länger nicht gesehen hat. Und wann
man etwas unternehmen würde, wann man nach einem Menschen außerhalb des
engeren Bekanntenkreises zu suchen beginnen würde.
## Es gab einen Nachbarn, der ihn vermisste
Und es war in diesem Fall auch nicht so, dass es gar niemandem aufgefallen
wäre, dass Herr N. irgendwann nicht mehr auf seinem Balkon im Hochparterre
saß. Es gab einen Nachbarn, der ihn vermisste. Aber der ging dem
Verschwinden mit einer Vehemenz nach, die auf seine Mitmenschen befremdlich
wirkte, fast pathologisch.
Dirk B. heißt dieser Nachbar, 55 Jahre alt, gelernter Bürokaufmann,
Hundehalter, arbeitslos. Er bewohnt die Wohnung über N. Immer wieder hat er
wegen des verschwundenen Nachbarn die Polizei angerufen. Irgendwann hat er,
wie er während einer Pause auf dem Gerichtsflur erzählt, „fast täglich“ …
Wohnungsbaugenossenschaft angeschrieben. Er ist sogar ins Rote Rathaus
gegangen, den Sitz des Regierenden Bürgermeisters, weil er dachte, dort
werde man bestimmt etwas unternehmen.
Heinz N., Jahrgang 1926, lebte seit 1952 in der Hosemannstraße 18. Bis zur
Rente war er Ingenieur in Oberschöneweide gewesen, zu DDR-Zeiten der
wichtigste Berliner Industriestandort. Sonst ist wenig über ihn bekannt,
manches erzählt seine Hausärztin vor Gericht. N. kam selten zu ihr, nur mal
zum Impfen, das letzte Mal im November 2006. Ein großer, stattlicher Mann,
„immer sehr beherrscht, er wusste genau, was er wollte“.
## Eine Topfblume kaufen? Unnötig
Das Ehepaar habe ziemlich allein gelebt, hatte kaum Kontakt zu Nachbarn.
Liesel N., so erzählt es die Ärztin, habe gesagt, ihr Mann „wünsche das
nicht“. Finanziell ging es ihnen nicht schlecht, aber das Geld hielt Heinz
N. zusammen. Selbst eine Topfblume durfte Liesel N. nicht kaufen; unnötig,
fand ihr Mann.
Im März 2006 stirbt Liesel N. an einem Tumor. Ein Dreivierteljahr später
verschwindet Heinz N.
Schon kurz nachdem Dirk B. den Nachbarn das letzte Mal gesehen hat,
schreibt er Briefe an ihn. B. findet, es stinke aus N.s Wohnung – muffig,
modrig. Nur riecht das außer B. niemand. Er beschwert sich bei der
Hausverwaltung, ruft die Polizei an, droht mit einem Anwalt. Und wundert
sich über das Verschwinden von N. „Der war weg“, sagt B. vor Gericht.
So einer wie B. wird schnell abgestempelt als irgendwie irre, als jemand
mit einer seltsamen Fixierung, als Unruhestifter. Aber vielleicht muss man
so sein, um Dinge wahrzunehmen, die sonst niemand wahrnimmt.
## Endlich hört ihm jemand zu
Dirk B. erzählt seine Geschichte schon am ersten Prozesstag vor dem
Gerichtssaal. Er erzählt sie wieder und wieder, und als er, wie immer in
einem Fluss redend, im Saal seine Zeugenaussage macht, erzählt er alles
noch mal. Endlich hört ihm jemand zu. In all den Jahren zuvor war er ja
immer wieder abgespeist worden. Der Herr N. sei doch erwachsen, der könne
machen, was er wolle.
B. könnte der Held in diesem Fall sein. Zwar hätte er den Mord nicht
verhindert, aber hätte man früher auf ihn gehört, wäre die andere Straftat
– das Leben eines anderen anzunehmen, um die Rentenversicherung zu
betrügen – früher aufgedeckt worden.
Aber B. taugt nicht richtig zum Helden. Eher ist er einer, den man lieber
nicht zum Nachbarn hätte. Ein Polizist erzählt vor Gericht, B. sei „wie
eine Art Hilfspolizist“ aufgetreten, habe mal jemanden aus dem Haus
angezeigt, weil der eine Flasche im Kellerflur stehen ließ.
Ein anderer Nachbar erzählt, B. suche mit jedem im Haus Streit.
Wahrscheinlich habe er Heinz N. nur vermisst, weil ihm durch sein
Verschwinden nun einer im Sechs-Parteien-Haus fehlte, mit dem er sich habe
streiten können.
## Die Reserviertheit des Großstädters
In all den Jahren bricht B. immer wieder die unausgesprochene Übereinkunft
städtischen Lebens, die anderen in Ruhe zu lassen. Der Soziologe Georg
Simmel hat Anfang des 20. Jahrhunderts im schnell wachsenden Berlin darüber
nachgedacht, wie das Leben in der Großstadt die Menschen verändert. Und er
hat gerade die Reserviertheit zum Grundprinzip des städtischen Miteinanders
erklärt.
Der Großstädter komme jeden Tag mit so vielen Menschen in Berührung, er
würde sich „innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare
seelische Verfassung geraten“, wenn er sich diesen Fremden mit derselben
Intensität zuwenden würde, wie das in der Kleinstadt oder auf dem Dorf der
Fall sein mag, schrieb Simmel.
Man will doch oft einfach seine Tür hinter sich zumachen und nichts mehr
hören. Das Leben in der Großstadt mag kalt und gefühllos erscheinen, aber
anders ist es vielleicht nicht lebbar. Wer sich da nicht einordnet, fällt
störend auf. Zumal wenn er etwas wahrnimmt, das niemand sonst wahrnimmt.
## Ein Geruch, den nur Dirk B. riecht
Am Abend des 9. Januar 2017 führt einer von Dirk B.s Anrufen bei der
Polizei schließlich zum ersten Mal zu mehr als Stirnrunzeln und genervtem
Abwiegeln. Zwei Polizisten kommen. Für sie ist es zunächst nur eine
Beschwerde wegen Geruchsbelästigung, aber was der Anrufer erzählt, finden
sie merkwürdig. Den Mann, der dort wohne, habe er seit Jahren nicht
gesehen, aber der Stromzähler im Keller zeige stetigen Verbrauch an.
Außerdem habe er den Briefkasten des Nachbarn häufiger mit Papier
vollgestopft, das sei am nächsten Tag immer weg gewesen.
Als die Polizisten sehen, dass im Türschloss ein Nagel steckt und der Spalt
zwischen Rahmen und Wohnungstür mit Silikonmasse verschmiert ist, finden
sie auch das komisch. Dass Dirk B. die Tür selbst manipuliert hat, erfahren
sie erst später. Er habe irgendetwas unternehmen wollen, um dem Geheimnis
der Wohnung auf die Spur zu kommen, erzählt B. vor Gericht.
Die Polizisten stellen eine Vermisstenanfrage. Die ergibt, dass niemand mit
dem Namen und der Anschrift des Rentners gesucht wird. Trotzdem rufen sie
die Feuerwehr. Die schickt zwei Männer, die das gekippte Badezimmerfenster
der Hochparterrewohnung aufhebeln.
Die Polizisten sehen sich in der Wohnung um, an der Innenseite der
Küchenschranktür hängt ein Jahreskalender von 2007, alte Zeitungen liegen
herum, die Toilettenschüssel ist ausgetrocknet. „Nicht wirklich was
Verdächtiges. Es sah aus, als sei jemand weggegangen, ohne viel
mitzunehmen“, erzählt einer der Polizisten.
## Blick in die Tiefkühltruhe: „Hier isser“
Die Männer wollen schon wieder gehen, als einer den anderen fragt, ob er
schon in die Tiefkühltruhe geschaut habe, die in der Küche steht. Mache er
routinemäßig bei älteren Leuten, um zu sehen, ob die genug Lebensmittel im
Haus haben. Er stellt einen Kerzenleuchter beiseite, legt ein Deckchen weg
und klappt den Deckel auf. Drinnen sieht er rosafarbene Plastikplane,
obendrauf Früchtequarkbecher und Scheibenkäse. Die Plane schneidet er auf,
nickt dem Kollegen zu und sagt: „Hier isser.“ In dem Sack: blutverschmierte
Kleidung, eine Hand, ein männliches Geschlechtsteil. Darunter drei weitere
Säcke. Heinz N., verpackt und eingefroren.
Ob es in der Wohnung schlecht gerochen habe, will der Vorsitzende Richter
wissen. Bis auf den Zeugen B. hat niemand einen unangenehmen Geruch
wahrgenommen, die Polizisten nicht, die Feuerwehrleute nicht, der Mann von
der Hausverwaltung auch nicht.
Als B. die Polizisten in seine Wohnung führte, ein Stockwerk weiter oben,
habe es dort vor allem nach Putzmittel gerochen, erzählt ein Polizist,
aber B. habe selbst dort den Gestank vernommen. Ungelüftet, „nicht nach
Verwesung“, sagt B., denn er wisse, wie das rieche. Als er noch in Rostock
gelebt habe, habe er mal eine verweste Leiche im Haus entdeckt.
Ein rätselhafter Mensch, dieser B. Er hat etwas gerochen, was niemand sonst
roch. Er nahm es so stark wahr, dass er alles Mögliche dagegen unternahm.
Es gibt die Kraft der Einbildung, aber so?
## Eine nächtliche Begegnung
Vor dem Leichenfund hört B. nachts einmal Gerumpel aus der Wohnung des N.
Da hat er N. schon lange nicht mehr gesehen, er denkt: „Da muss einer
rumschleichen.“ B. klingelt an der Wohnungstür, ein Mann öffnet. Es ist
Josef S.
In diesem Moment stehen sich die zwei Personen gegenüber, zu denen das
Mordopfer zuletzt Kontakt hatte. Der eine, der ihn gesucht hat, und
derjenige, der ihn mutmaßlich umgebracht hat.
Ob er das nicht auch rieche, hier stinke es doch „wie im
Alfred-Brehm-Haus“, sagt Dirk B. zu dem Mann, wie im Raubtierhaus des
Ostberliner Tierparks. Nein, antwortet der Mann, er rieche das gar nicht,
er arbeite im Altersheim, habe sich an den Geruch älterer Menschen gewöhnt.
S. führt B. durch die Wohnung. „Sehr düster“ findet es B. dort. Josef S.
verspricht, regelmäßig zu lüften.
Wo denn der N. sei, will B. wissen. Der könne sich nicht um die Wohnung
kümmern, das mache er nun. Ganz ruhig und freundlich habe der S. das
gesagt, erzählt Dirk B. vor Gericht.
Andere im Haus hatten gehört, der Nachbar sei nach Dresden oder nach
Westdeutschland gezogen. Er lebe in einem Pflegeheim, habe es mit den
Knien. Einer wunderte sich: Warum gibt er dann die Wohnung nicht auf, wo
doch so viele in Berlin eine suchen? Nur ist er der Frage nie nachgegangen.
## Ein Hohlraum hinter der untersten Kellerstufe
Josef S. hört sich das alles in großer Ruhe auf der Anklagebank an. Er
sitzt da, stets im dunklen Sakko über dunklem Hemd, der Kinnbart wird von
Sitzungstag zu Sitzungstag voller. Einmal wird im Saal eine Leinwand
aufgebaut, gezeigt werden Fotos vom Tatort. Manchmal blickt S. auf, schaut
die Bilder an. Da ist der schmale Flur, ein einsamer Kleiderbügel an der
Garderobe, Schirm und Hut. Im Badezimmer das Klo mit den seitlichen
Armstützen, die Flasche 4711 auf der Ablage, in der Küche alte
Anzeigenblätter auf dem Tisch, in einer Ecke die Tiefkühltruhe, der
Staubsauger daneben.
Dann folgen Bilder der Wohnung des Angeklagten in der Langhansstraße, die
im selben Haus liegt wie sein Trödelladen, nur wenige Gehminuten von der
Wohnung des Mordopfers entfernt. Die Werkstatt mit einer Hantelbank, das
ungemachte Bett, der Hohlraum hinter der untersten Kellerstufe, darin
verborgen eine Netto-Tüte mit dem Reisepass von Heinz N. und seiner
AOK-Karte, gültig bis 2017.
In dieser Tüte finden die Ermittler auch den Personalausweis einer Irma K.,
ihre Visa- und Krankenkassen-Karte. Von Irma K. fehlt seit dem Jahr 2000
jede Spur. Hat Josef S. auch mit ihrem Verschwinden zu tun? Als die
Ermittler die Bankkonten von Heinz N. durchforsten, stellen sie fest, dass
Irma K.s Rente von circa 900 Euro seit Jahren per Dauerauftrag auf das
Konto von Heinz N. fließt, von dem sich Josef S. das Geld geholt haben
soll.
Er ließ sich auch die Post für die beiden an seine Wohnanschrift
nachsenden. Zwei Briefkästen hat er extra dafür neben seinem angebracht.
## DNA-Spuren an den Säcken
Im Fall Irma K. wird noch ermittelt, die Leiche fehlt. Im Mordfall Heinz N.
erfahren die Ermittler nach dem Öffnen der Tiefkühltruhe schnell mehr. Nach
der Entdeckung verschließt die Mordkommission die Wohnungstür wieder und
wartet. Am Abend des darauffolgenden Tages betritt Josef S. die Wohnung.
Als er wieder herauskommt, wird er festgenommen. Spuren seiner DNA finden
sich an den Säcken, in denen die Leichenteile verpackt waren.
Im Gerichtssaal blickt S. meistens nach unten, notiert etwas, blättert in
Akten. Er sieht jetzt besser aus als zum Zeitpunkt seiner Festnahme. Fotos
von damals zeigen einen etwas zerrupft wirkenden Mann in Holzfällerhemd und
Bomberjacke.
Wenn es so war, wie es der Staatsanwalt darstellt, dann musste Josef S.
zehn Jahre lang einiges tun, um vorzutäuschen, dass Heinz N. noch lebte.
Also überwies S. die Miete, fälschte die Steuererklärung, leerte den
Briefkasten, nahm die Papiere heraus, die der Nachbar Dirk B.
hineingestopft hatte. Und immer wieder musste S. zurück an den Tatort,
immer wieder sah er die Kühltruhe.
Freundlich, höflich, so beschreiben die Zeugen, die das Gericht geladen
hat, Josef S. Das Ehepaar Lippmann zum Beispiel, das zu jedem Prozesstag
aus Weißensee kommt. Sie kannten S., weil er häufig in ihrem Kiosk
einkehrte. Bouletten hat er da gegessen, hausgemacht von Frau Lippmann,
Herr Lippmann schenkte Kaffee aus. Wie ein Kasper sei S. aufgetreten, gut
gelaunt, hilfsbereit. Als die Lippmanns eine Küche einbauten, hat er ihnen
geholfen.
## Dass sich einer so verstellen kann
Für sie war er „der Josef“, sagt Herr Lippmann. Jetzt wollen er und seine
Frau verstehen, wer der Angeklagte offenbar noch war. Zu Prozessbeginn
sagen sie, sie seien fassungslos, dass sich einer so verstellen könne. 15
Prozesstage später sagen sie, wirklich schlauer seien sie jetzt noch nicht
geworden.
Geboren wurde Josef S. 1961 im polnischen Mikulczyce. Noch vor der Wende
kam er in die DDR, lebte im Spreewald, arbeitete Anfang der neunziger Jahre
in Duisburg bei einer Baufirma. Ein Arbeitskollege von damals erzählt, wie
begeistert der Chef von S. gewesen war. Ungelernt, aber so umsichtig, dass
er den Betrieb hätte übernehmen können, der Chef wollte ihn sogar mit
seiner Tochter zusammenbringen.
S. aber zog es zurück nach Berlin. Er wohnte erst in der Naugarder Straße,
war dort Nachbar von Irma K. Dann lebte er vorübergehend mit seiner
Lebensgefährtin gegenüber von Heinz N. in der Hosemannstraße, zog
schließlich in die Langhansstraße.
Niemanden hat es deshalb gewundert, wenn S. immer mal wieder in der
Hosemannstraße gesehen wurde und in Haus Nummer 18 ging. Manche der Zeugen
haben mit ihm in einer Spielhalle oder im Spätkauf an Automaten gespielt,
er habe da auch mal mehrere Geräte gleichzeitig bedient, habe einiges an
Geld verzockt, aber die psychiatrische Gutachterin, die sich das alles
anhört, gewinnt nicht den Eindruck einer pathologischen Spielsucht. Das ist
wichtig für das Urteil, der Angeklagte gilt als voll schuldfähig.
Von einer anderen Leidenschaft ist außerdem die Rede, einer kontemplativen:
Mit Freunden ist Josef S. im Sommer gerne an brandenburgische Seen
gefahren, zum Angeln.
Josef S., der Spieler, der Handwerker, der Angler.
Josef S., der Mörder?
Ein Mann verschwindet, ist einfach weg. Aber nach außen sieht alles aus wie
immer. Man hat ihn ja sowieso nur selten gesehen. Er wollte Privatheit,
suchte keinen Kontakt, seine Entscheidung. Die Hausärztin sagt, Heinz N.
sei nach dem Tod seiner Frau keineswegs ein gebrochener Mann gewesen.
## Lebensbescheinigung erst ab 95
Die Krankenkasse wundert sich nicht über einen alten Mann, von dem sie nie
etwas hört, die Hausverwaltung bekommt stets die Miete, die
Rentenversicherung überweist die monatliche Rente.
Noch vor ein paar Jahren mussten Rentner sogenannte Lebensbescheinigungen
beibringen, aber der Aufwand sei zu hoch gewesen, sagt ein Sprecher der
Rentenversicherung. Nun werde erst ab dem 95. Lebensjahr nachgefragt.
Claudia S., die langjährige Lebensgefährtin von Josef S., lief in den
Jahren nach dem Tod von Heinz N. oft an dessen Wohnung vorbei. Als sie
einmal eine Frage wegen des Gartengrundstücks hatte, das sie von dem alten
Ehepaar übernommen hatte, schrieb sie ihm, bekam aber keine Antwort. Der
Vorsitzende Richter fragt, warum sie nicht mal bei ihm geklingelt habe. Sie
sagt, sie habe zu viel mit ihrem eigenen Leben zu tun gehabt.
Das ist nichts, was man ihr vorwerfen könnte. Es ist das, was Georg Simmel
die Reserviertheit des Großstädters nennt, „infolge derer wir jahrelange
Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen“. Mit anderen Worten: Es
ist normal in der Großstadt.
Während des gesamten Prozesses äußert sich Josef S nicht. Nur der
psychiatrischen Gutachterin hat er zu Beginn seiner U-Haft etwas gesagt:
„Zehn Jahre Hölle sind genug.“
Und vieles deutet darauf hin, dass er diese Hölle, die er sich selbst
geschaffen hatte, verlassen wollte. Die Wohnung von Heinz N. war zum 1.
Februar 2017 gekündigt worden, mit der gefälschten Unterschrift des Toten.
Im Wohnzimmer fanden die Ermittler zwei große Reisetaschen. Die
Leichenpakete hätten hineingepasst. Dann rief Dirk B. die Polizei.
18 Feb 2018
## AUTOREN
Felix Zimmermann
## TAGS
Mord
Berlin
Großstadt
Anonymität
Nachbarschaft
Rente
Lesestück Recherche und Reportage
Verbrechen
Kunstfälscher
Raser
taz.gazete
Tatort
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urteil im Fall des Rentnermords: Lebenslang für Josef S.
Zehn Jahre lag ein Mordopfer tot in seiner eigenen Tiefkühltruhe. Der
Mörder wurde nun verurteilt
Kunstfälscher vor Gericht: Eine schöne Traumwelt gesucht
Wut auf alles: Matthias W. hat auf ganz eigene Weise mit der DDR
abgerechnet. Am Montag hat sich der 46-Jährige vor dem Berliner Landgericht
erklärt.
Revisionsprozess gegen Berliner Raser: Verurteilung wegen Mordes wackelt
Zwei Berliner überfuhren bei einem illegalen Autorennen einen Rentner und
wurden zu „lebenslang“ verurteilt. Der Bundesgerichtshof ist skeptisch.
Mordprozess Hrant Dink: Ein instrumentalisierter Prozess
Elf Jahre nach dem Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink ist
immer noch nicht aufgeklärt, wer die Verantwortlichen sind.
Blutrünstige TV-Krimis: Tod durch Fernsehen
Im ARD-Tatort wird so wenig gemordet, wie schon lange nicht mehr. Dennoch
bleiben TV-Krimis deutlich tödlicher als die Realität.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.