# taz.de -- Prozess um ermordeten Rentner in Berlin: Zehn Jahre in der Tiefküh… | |
> Als Heinz N. in seiner Wohnung gefunden wird, liegt er da schon zehn | |
> Jahre – ermordet. Wie kann ein Mensch einfach so verschwinden? | |
Bild: Berlin, Prenzlauer Berg, Hosemannstr. 18. Hier wohnte Heinz N., das Opfer | |
BERLIN taz | Er wurde Joschi genannt. Die Menschen im Viertel kannten ihn | |
vom Sehen, manche hatten auch direkt mit ihm zu tun. Den Joschi konnte man | |
anrufen, wenn es in der Wohnung etwas auszubessern gab, wenn ein paar | |
Fliesen verlegt werden mussten, ein Klo verstopft war. Man sah ihn oft im | |
Blaumann vor seinem Trödelladen oder im nahen Kiosk sitzen. Immer | |
freundlich, immer für ein Schwätzchen zu haben. | |
Auch der Rentner Heinz N. wird in Josef S. den netten, hilfsbereiten | |
Nachbarn gesehen haben, der eine Zeit lang in der Wohnung gegenüber gewohnt | |
hatte. Als Liesel noch lebte, die Frau von Heinz N., hat das Rentnerpaar | |
Josef S. und seiner Lebensgefährtin ein Gartengrundstück draußen in | |
Brandenburg überlassen – zu einem Freundschaftspreis. | |
Für die kinderlosen N.s seien Josef S. und seine Lebensgefährtin wie | |
Ersatzkinder gewesen, erinnert sich später ein Bekannter. Nach dem Tod | |
seiner Frau lebte Heinz N. allein in seiner Wohnung. | |
Irgendwann rund um Silvester 2006 soll Josef S., der nette Mann von | |
gegenüber, Heinz N. mit einem Kopfschuss getötet haben. Zumindest spricht | |
vieles dafür. Das Projektil trat über der rechten Augenbraue des Rentners | |
ein und blieb im Schädel stecken. N. muss sofort tot gewesen sein. Wenig | |
später wurde seine Leiche zerteilt, in vier rosafarbene Plastiktüten | |
verpackt und in eine Tiefkühltruhe gelegt, die am 30. Dezember 2006 | |
geliefert wurde. | |
Die Leichenteile blieben dort zehn Jahre liegen, eingefroren in den Tüten, | |
obendrauf ein paar Quarkbecher – „Früchtetraum“, „Vanilletraum“ – … | |
Exquisa-Käse in Scheiben. | |
Zehn Jahre, in denen Josef S. von der Rente des Toten gelebt haben soll, | |
jeden Monat um die 2.000 Euro. | |
## Die Tatwaffe fehlt bis heute | |
Seit Oktober 2017 wird Josef S. immer wieder dienstags und freitags um 9.15 | |
Uhr in einen holzvertäfelten Saal des Berliner Landgerichts in Moabit | |
geführt. Die 40. Große Strafkammer muss ein Urteil in diesem Fall sprechen. | |
S. ist des Mordes angeklagt, heimtückisch ausgeführt, ihm wird außerdem | |
Raub vorgeworfen, Urkundenfälschung und unerlaubter Waffenbesitz. Wobei | |
unter den Waffen, die in seiner Wohnung gefunden wurden, nicht die Tatwaffe | |
war. Die fehlt bis heute. Vor Gericht schweigt S. zu den Vorwürfen. | |
Die Gegend, in der Heinz N. und Josef S. lebten, ist eine kleine, | |
überschaubare Welt in Berlin – dort, wo der Prenzlauer Berg in den Bezirk | |
Weißensee übergeht. Nicht der Prenzlauer Berg, in dem sich sorgfältig | |
sanierte Gründerzeithäuser aneinanderreihen, oben drin junge Familien, | |
unten Cafés, sondern ein Randgebiet des Viertels, wo die Häuser niedriger | |
werden, blasse Dreigeschosser, Handwerksbetriebe in den Hinterhöfen. Kein | |
angesagtes Wohnviertel, aber auch kein schlechtes. | |
Dieses Viertel wird nun als Folie genommen, um die Anonymität der | |
Großstädte zu beklagen, die Vereinsamung älterer Menschen. Berichte über | |
das Verschwinden des Rentners N. fallen zusammen mit einer Debatte über | |
Einsamkeit. | |
Es kann doch im engmaschigen Netz unserer Städte, in einem Land, das jedem | |
Neugeborenen innerhalb von drei Monaten eine Steuer-Identifikationsnummer | |
zuweist, niemand einfach so verschwinden – und auch noch für so eine lange | |
Zeit. Zehn Jahre. | |
Andererseits kann man sich selbst mal fragen, wie lange es dauert, bis es | |
einem auffällt, dass man eine Nachbarin länger nicht gesehen hat. Und wann | |
man etwas unternehmen würde, wann man nach einem Menschen außerhalb des | |
engeren Bekanntenkreises zu suchen beginnen würde. | |
## Es gab einen Nachbarn, der ihn vermisste | |
Und es war in diesem Fall auch nicht so, dass es gar niemandem aufgefallen | |
wäre, dass Herr N. irgendwann nicht mehr auf seinem Balkon im Hochparterre | |
saß. Es gab einen Nachbarn, der ihn vermisste. Aber der ging dem | |
Verschwinden mit einer Vehemenz nach, die auf seine Mitmenschen befremdlich | |
wirkte, fast pathologisch. | |
Dirk B. heißt dieser Nachbar, 55 Jahre alt, gelernter Bürokaufmann, | |
Hundehalter, arbeitslos. Er bewohnt die Wohnung über N. Immer wieder hat er | |
wegen des verschwundenen Nachbarn die Polizei angerufen. Irgendwann hat er, | |
wie er während einer Pause auf dem Gerichtsflur erzählt, „fast täglich“ … | |
Wohnungsbaugenossenschaft angeschrieben. Er ist sogar ins Rote Rathaus | |
gegangen, den Sitz des Regierenden Bürgermeisters, weil er dachte, dort | |
werde man bestimmt etwas unternehmen. | |
Heinz N., Jahrgang 1926, lebte seit 1952 in der Hosemannstraße 18. Bis zur | |
Rente war er Ingenieur in Oberschöneweide gewesen, zu DDR-Zeiten der | |
wichtigste Berliner Industriestandort. Sonst ist wenig über ihn bekannt, | |
manches erzählt seine Hausärztin vor Gericht. N. kam selten zu ihr, nur mal | |
zum Impfen, das letzte Mal im November 2006. Ein großer, stattlicher Mann, | |
„immer sehr beherrscht, er wusste genau, was er wollte“. | |
## Eine Topfblume kaufen? Unnötig | |
Das Ehepaar habe ziemlich allein gelebt, hatte kaum Kontakt zu Nachbarn. | |
Liesel N., so erzählt es die Ärztin, habe gesagt, ihr Mann „wünsche das | |
nicht“. Finanziell ging es ihnen nicht schlecht, aber das Geld hielt Heinz | |
N. zusammen. Selbst eine Topfblume durfte Liesel N. nicht kaufen; unnötig, | |
fand ihr Mann. | |
Im März 2006 stirbt Liesel N. an einem Tumor. Ein Dreivierteljahr später | |
verschwindet Heinz N. | |
Schon kurz nachdem Dirk B. den Nachbarn das letzte Mal gesehen hat, | |
schreibt er Briefe an ihn. B. findet, es stinke aus N.s Wohnung – muffig, | |
modrig. Nur riecht das außer B. niemand. Er beschwert sich bei der | |
Hausverwaltung, ruft die Polizei an, droht mit einem Anwalt. Und wundert | |
sich über das Verschwinden von N. „Der war weg“, sagt B. vor Gericht. | |
So einer wie B. wird schnell abgestempelt als irgendwie irre, als jemand | |
mit einer seltsamen Fixierung, als Unruhestifter. Aber vielleicht muss man | |
so sein, um Dinge wahrzunehmen, die sonst niemand wahrnimmt. | |
## Endlich hört ihm jemand zu | |
Dirk B. erzählt seine Geschichte schon am ersten Prozesstag vor dem | |
Gerichtssaal. Er erzählt sie wieder und wieder, und als er, wie immer in | |
einem Fluss redend, im Saal seine Zeugenaussage macht, erzählt er alles | |
noch mal. Endlich hört ihm jemand zu. In all den Jahren zuvor war er ja | |
immer wieder abgespeist worden. Der Herr N. sei doch erwachsen, der könne | |
machen, was er wolle. | |
B. könnte der Held in diesem Fall sein. Zwar hätte er den Mord nicht | |
verhindert, aber hätte man früher auf ihn gehört, wäre die andere Straftat | |
– das Leben eines anderen anzunehmen, um die Rentenversicherung zu | |
betrügen – früher aufgedeckt worden. | |
Aber B. taugt nicht richtig zum Helden. Eher ist er einer, den man lieber | |
nicht zum Nachbarn hätte. Ein Polizist erzählt vor Gericht, B. sei „wie | |
eine Art Hilfspolizist“ aufgetreten, habe mal jemanden aus dem Haus | |
angezeigt, weil der eine Flasche im Kellerflur stehen ließ. | |
Ein anderer Nachbar erzählt, B. suche mit jedem im Haus Streit. | |
Wahrscheinlich habe er Heinz N. nur vermisst, weil ihm durch sein | |
Verschwinden nun einer im Sechs-Parteien-Haus fehlte, mit dem er sich habe | |
streiten können. | |
## Die Reserviertheit des Großstädters | |
In all den Jahren bricht B. immer wieder die unausgesprochene Übereinkunft | |
städtischen Lebens, die anderen in Ruhe zu lassen. Der Soziologe Georg | |
Simmel hat Anfang des 20. Jahrhunderts im schnell wachsenden Berlin darüber | |
nachgedacht, wie das Leben in der Großstadt die Menschen verändert. Und er | |
hat gerade die Reserviertheit zum Grundprinzip des städtischen Miteinanders | |
erklärt. | |
Der Großstädter komme jeden Tag mit so vielen Menschen in Berührung, er | |
würde sich „innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare | |
seelische Verfassung geraten“, wenn er sich diesen Fremden mit derselben | |
Intensität zuwenden würde, wie das in der Kleinstadt oder auf dem Dorf der | |
Fall sein mag, schrieb Simmel. | |
Man will doch oft einfach seine Tür hinter sich zumachen und nichts mehr | |
hören. Das Leben in der Großstadt mag kalt und gefühllos erscheinen, aber | |
anders ist es vielleicht nicht lebbar. Wer sich da nicht einordnet, fällt | |
störend auf. Zumal wenn er etwas wahrnimmt, das niemand sonst wahrnimmt. | |
## Ein Geruch, den nur Dirk B. riecht | |
Am Abend des 9. Januar 2017 führt einer von Dirk B.s Anrufen bei der | |
Polizei schließlich zum ersten Mal zu mehr als Stirnrunzeln und genervtem | |
Abwiegeln. Zwei Polizisten kommen. Für sie ist es zunächst nur eine | |
Beschwerde wegen Geruchsbelästigung, aber was der Anrufer erzählt, finden | |
sie merkwürdig. Den Mann, der dort wohne, habe er seit Jahren nicht | |
gesehen, aber der Stromzähler im Keller zeige stetigen Verbrauch an. | |
Außerdem habe er den Briefkasten des Nachbarn häufiger mit Papier | |
vollgestopft, das sei am nächsten Tag immer weg gewesen. | |
Als die Polizisten sehen, dass im Türschloss ein Nagel steckt und der Spalt | |
zwischen Rahmen und Wohnungstür mit Silikonmasse verschmiert ist, finden | |
sie auch das komisch. Dass Dirk B. die Tür selbst manipuliert hat, erfahren | |
sie erst später. Er habe irgendetwas unternehmen wollen, um dem Geheimnis | |
der Wohnung auf die Spur zu kommen, erzählt B. vor Gericht. | |
Die Polizisten stellen eine Vermisstenanfrage. Die ergibt, dass niemand mit | |
dem Namen und der Anschrift des Rentners gesucht wird. Trotzdem rufen sie | |
die Feuerwehr. Die schickt zwei Männer, die das gekippte Badezimmerfenster | |
der Hochparterrewohnung aufhebeln. | |
Die Polizisten sehen sich in der Wohnung um, an der Innenseite der | |
Küchenschranktür hängt ein Jahreskalender von 2007, alte Zeitungen liegen | |
herum, die Toilettenschüssel ist ausgetrocknet. „Nicht wirklich was | |
Verdächtiges. Es sah aus, als sei jemand weggegangen, ohne viel | |
mitzunehmen“, erzählt einer der Polizisten. | |
## Blick in die Tiefkühltruhe: „Hier isser“ | |
Die Männer wollen schon wieder gehen, als einer den anderen fragt, ob er | |
schon in die Tiefkühltruhe geschaut habe, die in der Küche steht. Mache er | |
routinemäßig bei älteren Leuten, um zu sehen, ob die genug Lebensmittel im | |
Haus haben. Er stellt einen Kerzenleuchter beiseite, legt ein Deckchen weg | |
und klappt den Deckel auf. Drinnen sieht er rosafarbene Plastikplane, | |
obendrauf Früchtequarkbecher und Scheibenkäse. Die Plane schneidet er auf, | |
nickt dem Kollegen zu und sagt: „Hier isser.“ In dem Sack: blutverschmierte | |
Kleidung, eine Hand, ein männliches Geschlechtsteil. Darunter drei weitere | |
Säcke. Heinz N., verpackt und eingefroren. | |
Ob es in der Wohnung schlecht gerochen habe, will der Vorsitzende Richter | |
wissen. Bis auf den Zeugen B. hat niemand einen unangenehmen Geruch | |
wahrgenommen, die Polizisten nicht, die Feuerwehrleute nicht, der Mann von | |
der Hausverwaltung auch nicht. | |
Als B. die Polizisten in seine Wohnung führte, ein Stockwerk weiter oben, | |
habe es dort vor allem nach Putzmittel gerochen, erzählt ein Polizist, | |
aber B. habe selbst dort den Gestank vernommen. Ungelüftet, „nicht nach | |
Verwesung“, sagt B., denn er wisse, wie das rieche. Als er noch in Rostock | |
gelebt habe, habe er mal eine verweste Leiche im Haus entdeckt. | |
Ein rätselhafter Mensch, dieser B. Er hat etwas gerochen, was niemand sonst | |
roch. Er nahm es so stark wahr, dass er alles Mögliche dagegen unternahm. | |
Es gibt die Kraft der Einbildung, aber so? | |
## Eine nächtliche Begegnung | |
Vor dem Leichenfund hört B. nachts einmal Gerumpel aus der Wohnung des N. | |
Da hat er N. schon lange nicht mehr gesehen, er denkt: „Da muss einer | |
rumschleichen.“ B. klingelt an der Wohnungstür, ein Mann öffnet. Es ist | |
Josef S. | |
In diesem Moment stehen sich die zwei Personen gegenüber, zu denen das | |
Mordopfer zuletzt Kontakt hatte. Der eine, der ihn gesucht hat, und | |
derjenige, der ihn mutmaßlich umgebracht hat. | |
Ob er das nicht auch rieche, hier stinke es doch „wie im | |
Alfred-Brehm-Haus“, sagt Dirk B. zu dem Mann, wie im Raubtierhaus des | |
Ostberliner Tierparks. Nein, antwortet der Mann, er rieche das gar nicht, | |
er arbeite im Altersheim, habe sich an den Geruch älterer Menschen gewöhnt. | |
S. führt B. durch die Wohnung. „Sehr düster“ findet es B. dort. Josef S. | |
verspricht, regelmäßig zu lüften. | |
Wo denn der N. sei, will B. wissen. Der könne sich nicht um die Wohnung | |
kümmern, das mache er nun. Ganz ruhig und freundlich habe der S. das | |
gesagt, erzählt Dirk B. vor Gericht. | |
Andere im Haus hatten gehört, der Nachbar sei nach Dresden oder nach | |
Westdeutschland gezogen. Er lebe in einem Pflegeheim, habe es mit den | |
Knien. Einer wunderte sich: Warum gibt er dann die Wohnung nicht auf, wo | |
doch so viele in Berlin eine suchen? Nur ist er der Frage nie nachgegangen. | |
## Ein Hohlraum hinter der untersten Kellerstufe | |
Josef S. hört sich das alles in großer Ruhe auf der Anklagebank an. Er | |
sitzt da, stets im dunklen Sakko über dunklem Hemd, der Kinnbart wird von | |
Sitzungstag zu Sitzungstag voller. Einmal wird im Saal eine Leinwand | |
aufgebaut, gezeigt werden Fotos vom Tatort. Manchmal blickt S. auf, schaut | |
die Bilder an. Da ist der schmale Flur, ein einsamer Kleiderbügel an der | |
Garderobe, Schirm und Hut. Im Badezimmer das Klo mit den seitlichen | |
Armstützen, die Flasche 4711 auf der Ablage, in der Küche alte | |
Anzeigenblätter auf dem Tisch, in einer Ecke die Tiefkühltruhe, der | |
Staubsauger daneben. | |
Dann folgen Bilder der Wohnung des Angeklagten in der Langhansstraße, die | |
im selben Haus liegt wie sein Trödelladen, nur wenige Gehminuten von der | |
Wohnung des Mordopfers entfernt. Die Werkstatt mit einer Hantelbank, das | |
ungemachte Bett, der Hohlraum hinter der untersten Kellerstufe, darin | |
verborgen eine Netto-Tüte mit dem Reisepass von Heinz N. und seiner | |
AOK-Karte, gültig bis 2017. | |
In dieser Tüte finden die Ermittler auch den Personalausweis einer Irma K., | |
ihre Visa- und Krankenkassen-Karte. Von Irma K. fehlt seit dem Jahr 2000 | |
jede Spur. Hat Josef S. auch mit ihrem Verschwinden zu tun? Als die | |
Ermittler die Bankkonten von Heinz N. durchforsten, stellen sie fest, dass | |
Irma K.s Rente von circa 900 Euro seit Jahren per Dauerauftrag auf das | |
Konto von Heinz N. fließt, von dem sich Josef S. das Geld geholt haben | |
soll. | |
Er ließ sich auch die Post für die beiden an seine Wohnanschrift | |
nachsenden. Zwei Briefkästen hat er extra dafür neben seinem angebracht. | |
## DNA-Spuren an den Säcken | |
Im Fall Irma K. wird noch ermittelt, die Leiche fehlt. Im Mordfall Heinz N. | |
erfahren die Ermittler nach dem Öffnen der Tiefkühltruhe schnell mehr. Nach | |
der Entdeckung verschließt die Mordkommission die Wohnungstür wieder und | |
wartet. Am Abend des darauffolgenden Tages betritt Josef S. die Wohnung. | |
Als er wieder herauskommt, wird er festgenommen. Spuren seiner DNA finden | |
sich an den Säcken, in denen die Leichenteile verpackt waren. | |
Im Gerichtssaal blickt S. meistens nach unten, notiert etwas, blättert in | |
Akten. Er sieht jetzt besser aus als zum Zeitpunkt seiner Festnahme. Fotos | |
von damals zeigen einen etwas zerrupft wirkenden Mann in Holzfällerhemd und | |
Bomberjacke. | |
Wenn es so war, wie es der Staatsanwalt darstellt, dann musste Josef S. | |
zehn Jahre lang einiges tun, um vorzutäuschen, dass Heinz N. noch lebte. | |
Also überwies S. die Miete, fälschte die Steuererklärung, leerte den | |
Briefkasten, nahm die Papiere heraus, die der Nachbar Dirk B. | |
hineingestopft hatte. Und immer wieder musste S. zurück an den Tatort, | |
immer wieder sah er die Kühltruhe. | |
Freundlich, höflich, so beschreiben die Zeugen, die das Gericht geladen | |
hat, Josef S. Das Ehepaar Lippmann zum Beispiel, das zu jedem Prozesstag | |
aus Weißensee kommt. Sie kannten S., weil er häufig in ihrem Kiosk | |
einkehrte. Bouletten hat er da gegessen, hausgemacht von Frau Lippmann, | |
Herr Lippmann schenkte Kaffee aus. Wie ein Kasper sei S. aufgetreten, gut | |
gelaunt, hilfsbereit. Als die Lippmanns eine Küche einbauten, hat er ihnen | |
geholfen. | |
## Dass sich einer so verstellen kann | |
Für sie war er „der Josef“, sagt Herr Lippmann. Jetzt wollen er und seine | |
Frau verstehen, wer der Angeklagte offenbar noch war. Zu Prozessbeginn | |
sagen sie, sie seien fassungslos, dass sich einer so verstellen könne. 15 | |
Prozesstage später sagen sie, wirklich schlauer seien sie jetzt noch nicht | |
geworden. | |
Geboren wurde Josef S. 1961 im polnischen Mikulczyce. Noch vor der Wende | |
kam er in die DDR, lebte im Spreewald, arbeitete Anfang der neunziger Jahre | |
in Duisburg bei einer Baufirma. Ein Arbeitskollege von damals erzählt, wie | |
begeistert der Chef von S. gewesen war. Ungelernt, aber so umsichtig, dass | |
er den Betrieb hätte übernehmen können, der Chef wollte ihn sogar mit | |
seiner Tochter zusammenbringen. | |
S. aber zog es zurück nach Berlin. Er wohnte erst in der Naugarder Straße, | |
war dort Nachbar von Irma K. Dann lebte er vorübergehend mit seiner | |
Lebensgefährtin gegenüber von Heinz N. in der Hosemannstraße, zog | |
schließlich in die Langhansstraße. | |
Niemanden hat es deshalb gewundert, wenn S. immer mal wieder in der | |
Hosemannstraße gesehen wurde und in Haus Nummer 18 ging. Manche der Zeugen | |
haben mit ihm in einer Spielhalle oder im Spätkauf an Automaten gespielt, | |
er habe da auch mal mehrere Geräte gleichzeitig bedient, habe einiges an | |
Geld verzockt, aber die psychiatrische Gutachterin, die sich das alles | |
anhört, gewinnt nicht den Eindruck einer pathologischen Spielsucht. Das ist | |
wichtig für das Urteil, der Angeklagte gilt als voll schuldfähig. | |
Von einer anderen Leidenschaft ist außerdem die Rede, einer kontemplativen: | |
Mit Freunden ist Josef S. im Sommer gerne an brandenburgische Seen | |
gefahren, zum Angeln. | |
Josef S., der Spieler, der Handwerker, der Angler. | |
Josef S., der Mörder? | |
Ein Mann verschwindet, ist einfach weg. Aber nach außen sieht alles aus wie | |
immer. Man hat ihn ja sowieso nur selten gesehen. Er wollte Privatheit, | |
suchte keinen Kontakt, seine Entscheidung. Die Hausärztin sagt, Heinz N. | |
sei nach dem Tod seiner Frau keineswegs ein gebrochener Mann gewesen. | |
## Lebensbescheinigung erst ab 95 | |
Die Krankenkasse wundert sich nicht über einen alten Mann, von dem sie nie | |
etwas hört, die Hausverwaltung bekommt stets die Miete, die | |
Rentenversicherung überweist die monatliche Rente. | |
Noch vor ein paar Jahren mussten Rentner sogenannte Lebensbescheinigungen | |
beibringen, aber der Aufwand sei zu hoch gewesen, sagt ein Sprecher der | |
Rentenversicherung. Nun werde erst ab dem 95. Lebensjahr nachgefragt. | |
Claudia S., die langjährige Lebensgefährtin von Josef S., lief in den | |
Jahren nach dem Tod von Heinz N. oft an dessen Wohnung vorbei. Als sie | |
einmal eine Frage wegen des Gartengrundstücks hatte, das sie von dem alten | |
Ehepaar übernommen hatte, schrieb sie ihm, bekam aber keine Antwort. Der | |
Vorsitzende Richter fragt, warum sie nicht mal bei ihm geklingelt habe. Sie | |
sagt, sie habe zu viel mit ihrem eigenen Leben zu tun gehabt. | |
Das ist nichts, was man ihr vorwerfen könnte. Es ist das, was Georg Simmel | |
die Reserviertheit des Großstädters nennt, „infolge derer wir jahrelange | |
Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen“. Mit anderen Worten: Es | |
ist normal in der Großstadt. | |
Während des gesamten Prozesses äußert sich Josef S nicht. Nur der | |
psychiatrischen Gutachterin hat er zu Beginn seiner U-Haft etwas gesagt: | |
„Zehn Jahre Hölle sind genug.“ | |
Und vieles deutet darauf hin, dass er diese Hölle, die er sich selbst | |
geschaffen hatte, verlassen wollte. Die Wohnung von Heinz N. war zum 1. | |
Februar 2017 gekündigt worden, mit der gefälschten Unterschrift des Toten. | |
Im Wohnzimmer fanden die Ermittler zwei große Reisetaschen. Die | |
Leichenpakete hätten hineingepasst. Dann rief Dirk B. die Polizei. | |
18 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Felix Zimmermann | |
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