# taz.de -- Künstler baut Anne-Frank-Haus nach: Der Bastelbogen und die Empath… | |
> Simon Fujiwara untersucht in der Ausstellung Hope House in Bregenz die | |
> Ambivalenz von Sehnsucht nach Authentizität und Kommerz. | |
Bild: Identität und Kommerz | |
Über anderthalb Millionen besuchen jährlich das Hinterhaus an der | |
Amsterdamer Prinsengracht, stehen Schlange, zwängen sich durch die engen | |
Räume, spähen in Ecken und aus dem Fenster, vor dem der Kastanienbaum | |
stand, von dem Anne Frank in ihrem Tagebuch erzählt. Sie versuchen greifbar | |
zu erleben, sinnlich nachzuempfinden, wie das war, sich vor den Nazis zu | |
verstecken, ein Familienleben in beständiger Todesgefahr zu führen. Das | |
gelingt natürlich nicht, kann gar nicht gelingen im perfekt | |
durchorganisierten Touristen-Hotspot. Auch wenn sich bei näherem Hinsehen | |
(und Nachdenken) herausstellt, dass so gut wie nichts mehr in diesem Haus | |
authentisch ist, ist ein simulierter Originalschauplatz aller | |
(Selfie-)Ehren wert. Man könnte auch sagen: reicht vollkommen. | |
Simon Fujiwara, ein lange in Berlin lebender britisch-japanischer Künstler, | |
war bei seinem Besuch konsterniert – und baute nach dem im Museumsshop | |
erhältlichen Pappmodell-Bausatz das Anne Frank Haus in Originalgröße nach, | |
ähnlich begehbar und erlebbar nun in den drei Stockwerken des Bregenzer | |
KUB. Die weite Halle im Erdgeschoss des Museums ist – ähnlich einem Prolog | |
– der Zurschaustellung der Einzelteile des Bastelbogens auf einem riesigen | |
Podest vorbehalten. | |
Ein Architekturmodell stellt ernsthaft eine optische Modernisierung des | |
Hauses vor (begraben unter einem mächtigen Auf- und Überbau in metallener | |
Libeskind-Manier). Dazu ein stramm in Reihe stehendes Bataillon von Büchern | |
im Original-Anne-Frank-Tagebuch-Look, wie sie zum persönlichen Gebrauch im | |
Amsterdamer Museumsshop erhältlich sind: Nach ein paar Seiten zur | |
Geschichte des im Holocaust umgekommenen Mädchens bleiben viele leere | |
Seiten, in die man persönliche Erlebnisse und Gedanken notieren kann. | |
Zynisch? Nein. Schlicht charakteristisch für unsere durchkommerzialisierte | |
Zeit. Fujiwara pflegt mit seinen Arbeiten nicht den wohlfeilen Sarkasmus, | |
er untersucht die Ambivalenz von Identität und Kommerz, von Macht und | |
Kapitalismus, von Manipulation und Sehnsucht. | |
Da kommt ihm das Fake-Haus von der Prinsengracht gerade recht. Er füllt | |
dessen wie Theaterkulissen aufgeschnittene (und begehbare) Räume sparsam | |
mit möglichen Spuren seiner damaligen Bewohner und überblendet sie mit | |
eigenen auch älteren Arbeiten, mit Objekten und Installationen, die die | |
Gnadenlosigkeit der gegenwärtigen populären Lebenswelten spiegeln. | |
## Panzerbastelset für Kinder | |
In Anne Franks Zimmer mit dem Schreibtischchen, mit an die Wand gepinnten | |
Blumenbildchen und Zeitungsausschnitten von den Stars jener Jahre, hängt | |
ein blaues Kleidchen mit Baskenmütze und Ledertäschchen, das jüngst als | |
Halloween-Kostüm („World War II Evacuee“) bei der Firma „Girls Fantasy“ | |
bezogen werden konnte. Zu betrachten ist hier auch der nachgeschneiderte | |
dezente Hosenanzug, den Beyoncé kürzlich beim angemessen zurückhaltenden | |
Besuch in Amsterdam trug. Er war zwei Stunden nach dem auf Instagram | |
gemeldeten Ereignis ausverkauft. | |
In einer Kammer des ursprünglichen Warenlagers des Hauses ist das | |
Spezial-Make-up, das HD-tauglich auf den Wangen der Kanzlerin eine höchst | |
natürliche Anmutung hervorruft, zum grotesken Haufen aufgeschüttet. Es gibt | |
ein Panzerbastelset für Kinder, das am Flughafen Ben Gurion erhältlich ist; | |
es gibt das Service, mit dem die Wohltätigkeitsorganisation The Clink | |
ausgewählten Insassen in britischen Gefängnissen Gelegenheit zum Erlernen | |
des Kochens und Servierens bietet („together we can pave the way to a | |
brighter future for those who want and deserve a second chance in life“, | |
steht auf den Platzdeckchen), dahinter lebensgroß die Puppe eines Wärters | |
in voller Montur. | |
In der berühmten, als Bücherregal getarnten Geheimtür, die in das Versteck | |
der jüdischen Familie führte, steht Rücken an Rücken ausschließlich der | |
Superbestseller „Fifty Shades of Grey“ von 2016. Er wurde gekauft, gelesen | |
und dann bei Oxfam entsorgt. Überschwemmt von Softpornomaterial bat man | |
bald flehentlich, davon abzusehen. Die gute Tat als Ablass für bösen | |
Schmutz, garniert mit Barmherzigkeit, die Sehnsucht nach Makellosigkeit im | |
zeitgemäßen Gewand. | |
Fujiwara stellt diese Sehnsucht nicht in Abrede, er zeigt ohne jeden | |
belehrenden Unterton auf, wie ordinär, gemein und manipulativ der Umgang | |
mit dieser Sehnsucht in hyperkapitalistischen Systemen ist. Wie subjektiv | |
und situationsbezogen wir damit umgehen. Und wie naiv. Der Authentizität, | |
und sei sie noch so zielgerichtet arrangiert, wird alles untergeordnet, die | |
Wahrheit, das Erleben, die Empathie. | |
Es funktioniert: Gerührt lugen wir ganz oben im KUB – nun mir nichts, dir | |
nichts in die Rolle des Spanners schlüpfend – durch ein Fenster in den | |
nicht begehbaren Dachboden des Hauses. Hier haben sich Anne und Peter | |
zwischen Wäscheleine und Gerümpel heimlich verabredet, ein bisschen | |
verliebt, Pläne schmiedend. Am Boden ist Katzenfutter verstreut. Für Tommy, | |
den kennen wir auch aus dem Tagebuch. | |
3 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Annegret Erhard | |
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