# taz.de -- Soziologe über Ungleichheit: „Neoliberale Ideologie ist gescheit… | |
> Arm und Reich driften weltweit immer weiter auseinander. In Deutschland | |
> geht unter Jüngeren die Schere auseinander, sagt der Soziologe Steffen | |
> Mau. | |
Bild: Wer profitiert von der zunehmenden Ungleichheit? Schwellenländer und glo… | |
taz am wochenende: Herr Mau, es gibt einen umfangreichen Report über | |
globale Ungleichheit, verfasst von Wissenschaftlern um Thomas Piketty. | |
Wissen wir jetzt mehr? | |
Steffen Mau: Schon. Der Report stellt die Entwicklung in mehr Regionen über | |
einen längeren Zeitraum dar. Das ist neu. Die Studien der OECD und auch von | |
Thomas Piketty waren bislang auf den Westen fokussiert. | |
Die absolute Armut hat global abgenommen: 1981 mussten 40 Prozent der | |
Weltbevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen, 2008 nur | |
noch 14 Prozent. Kommt das in dem Report ausreichend vor? | |
Ja, positive Entwicklungen zeigen auch Piketty und seine Kollegen. Global | |
ist das Einkommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung gestiegen – vor | |
allem aufgrund der Entwicklung in China und Indien. | |
Ein Angestellter in China verdient 15- oder 2o-mal so viel wie 1980, ein | |
Angestellter in den USA hat real weniger als 1980. Verfall hier, Aufstieg | |
dort. Ist das global gesehen nicht gerecht? | |
Das kann man so sehen. Der globale Süden holt auf. Aber es gibt auch die | |
andere Seite: die unterschiedlichen Wachstumsrenditen und ein Aufklaffen | |
der Ungleichheitsschere. Bei den Superreichen, dem obersten 1 Prozent der | |
Weltbevölkerung, sind die Zuwächse viel höher. Die Globalisierung hat zwei | |
Gewinner: aufsteigende Gesellschaften wie die chinesische – und die | |
globalen Eliten. | |
Und wer verliert? | |
Die Mittelschicht im Westen. Die stagniert seit den 1980er Jahren. In den | |
USA dramatisch, in Europa moderat, so ein einleuchtender Befund des | |
Reports. | |
Heißt das: Nicht der Finanzkapitalismus als globales System ist | |
ausschlaggebend für die wachsende Ungleichheit, sondern es sind nationale | |
Texturen, sozialstaatliche Traditionen und steuerpolitische | |
Entscheidungen? | |
Ja, der Staat verfügt mit Sozialtransfers und Steuern noch immer über | |
mächtige Instrumente. Und die sind in den USA massiv zurückgebaut oder | |
sogar zerstört worden. Auch der Einfluss der Superreichen auf die | |
Steuerpolitik ist in den USA viel extremer als in Europa. | |
Also ist die These, dass Nationalstaaten ohnmächtig dem Sturm der | |
Globalisierung und damit wachsender Ungleichheit ausgesetzt sind, falsch? | |
Die Staaten und ihre Regierungen sind entscheidende Spieler. Und es sind | |
keineswegs jene Staaten erfolgreich, die Steuern für Reiche und Unternehmen | |
radikal gesenkt haben. Auch die OECD ist der Ansicht, dass zu viel | |
Ungleichheit zwiespältige Auswirkungen hat, weil eine extreme | |
Vermögenskonzentration die Märkte verzerrt. Wenn Reiche Kapital horten und | |
die Staaten arm sind, fehlt Geld für nötige Investitionen, etwa für | |
Bildung und Infrastruktur. Beides ist aber nötig für Wachstum. Der Report | |
zeigt, dass der private Reichtum enorm gewachsen ist, während die Staaten | |
nach den Privatisierungswellen kaum noch über Vermögen verfügen. | |
It ’s politics, stupid? | |
Ja, es geht um politische Entscheidungen. Die neoliberale Ideologie – | |
weniger Staat, weniger Steuern, mehr Ungleichheit – ist gescheitert. | |
Deutschland erscheint im Vergleich zu den USA egalitär. Aber stimmt das? | |
Die Mittelschicht schrumpft auch hier. | |
Da muss man genau hinschauen. Die Einkommensmittelschicht ist in | |
Deutschland seit 2005 relativ stabil. Davor ist sie von 64 auf 58 Prozent | |
geschrumpft. Das ist nicht so dramatisch. Das Problem ist die extreme | |
Konzentration von Vermögen, die hierzulande weit ausgeprägter ist als in | |
anderen Industriestaaten. Hinzu kommt: Die Vermögensbildung ist bei | |
Jüngeren viel ungleicher und schwieriger als bei Älteren. | |
Je jünger, desto größer die Ungleichheit. Warum? | |
Dabei spielt der veränderte Arbeitsmarkt ebenso eine Rolle wie Fragen der | |
Vererbung. Viele Ältere haben noch sichere Jobs und sind in ein anderes | |
Einkommensgefüge hineingewachsen, bei den Jüngeren driftet das stärker | |
auseinander. | |
Die Arbeitslosenquote in Deutschland ist gesunken, aber das hat nicht zu | |
mehr Gleichheit geführt. Warum nicht? | |
Das ist bemerkenswert. Denn Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Grund für | |
Ungleichheit. Eigentlich hätte die Ungleichheit also abnehmen müssen. Hat | |
sie aber nicht. Das heißt: Der langfristige Trend, die Spreizung zwischen | |
gut bezahlten qualifizierten Jobs und mies bezahlten für schlecht | |
Qualifizierte, ist stärker. | |
Also wird die Ungleichheit weiter zunehmen? | |
Wahrscheinlich. Denn die Spreizung auf dem Arbeitsmarkt ist ein Muster, das | |
wir in allen westlichen Gesellschaften finden. Das ist eine Auswirkung der | |
Globalisierung, die die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern auf den | |
Arbeitsmärkten vertieft. Dazu kommt der Effekt, den Piketty in seinem Buch | |
„Das Kapital im 21. Jahrhundert“ analysiert hat: Die Einkommen aus Kapital | |
steigen stärker als die aus Arbeit. | |
Die 100.000-Euro-Frage lautet: Gibt es einen zentralen politischen Hebel, | |
um die Ungleichheit zu begrenzen? | |
Wenn man die Akkumulation von Reichtum über die Generationen begrenzen | |
will, geht das nur mit der Erbschaftsteuer. | |
Warum ist die so schwer durchsetzbar? | |
Rund 60 Prozent der Deutschen sind gegen eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, | |
obwohl sie davon überhaupt nicht betroffen wären. Eine Mehrheit ist | |
gleichzeitig auch überzeugt, dass die Ungleichheit zu groß ist. Kurzum: | |
Viele kritisieren die Ungleichheit, aber wollen keine höhere | |
Erbschaftsteuer. Deswegen sind höhere Steuern politisch kein Gewinnerthema. | |
Liegt das daran, dass Reichtum hier eher versteckt wird? | |
Das ist ein Grund. Protzen, der demonstrative Konsum, das ist unüblich in | |
Deutschland. Anders als Armut lässt sich Ungleichheit nicht so gut | |
„fühlen“. Reichtum wird eher verborgen, auch vor der Forschung. Wir wissen | |
über die Vermögen der Superreichen nur sehr wenig. Die werden geschätzt, | |
weil es keine Daten gibt. | |
Welches Instrument hilft denn wirklich gegen Ungleichheit? | |
Man braucht viele Instrumente. Arbeit stärker zu besteuern als | |
Kapitaleinkünfte ist zum Beispiel falsch. Und wir brauchen ein gut | |
ausgestattetes Bildungssystem, das die Nachteile, die Unterschichtskinder | |
meist haben, zumindest mildert. | |
16 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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